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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1322-1324

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Pilhofer, Peter

Titel/Untertitel:

Das Neue Testament und seine Welt. Eine Einführung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XXVIII, 486 S. m. Abb., Ktn. u. Tab. 8° = UTB M, 3363. Kart. EUR 25,90. ISBN 978-3-16-150217-0 (Mohr Siebeck); 978-3-8252-3363-1 (UTB).

Rezensent:

Ulrich Heckel

Der Untertitel sagt, was das Buch sein soll. Peter Pilhofer versucht, einen Mittelweg zu gehen zwischen einer allgemeinverständlichen Einführung, wie z. B. von Gerd Theißen in der Beck’schen Reihe (München 2002, 128 Seiten), und einer klassischen Einleitung zu den Fragen der Verfasserschaft und Entstehungssituation, wie z. B. von Ingo Broer (Würzburg 1998–2001, 737 Seiten). Letzterem schließt sich der Vf. auch inhaltlich häufig an, während er zu Udo Schnelle eher die Unterschiede hervorhebt. Konzipiert ist das Buch als »Einführung, die nicht nur die 27 Schriften in den Blick nimmt, sondern die bunte Welt der ersten Christinnen und Chris­ten als Ganze vor Augen malt« (VII–VIII). Über klassische Einleitungen hinaus werden verstärkt die Lebenswelt der Menschen und die Geschichte des 1. Jh.s in den Blick genommen. Das Werk ist aus Vorlesungen für Studierende am Anfang des Studiums entstanden. Griechische Wörter sind transkribiert, so dass Griechischkenntnisse für die Lektüre hilfreich, aber nicht notwendig sind.
Das Werk gliedert sich in zwölf Kapitel: I. Unterwegs (Jesus, Paulus, Lukas), II. Jesus und seine Zeit, III. Von der Urgemeinde zu Paulus (mit §§ über das Judentum in der Diaspora; Paulus in Antiochien und den 1Thess), IV. Paulus in Asia (mit §§ über Korinth, Ephesus und die dortige Gefangenschaft des Paulus), V. Die Paulusschule in Ephesos, VI. Die letzte Reise durch Griechenland (mit den weiteren Auseinandersetzungen in Korinth, der Jerusalemkollekte und Röm) und VII. Der Galaterbrief (mit einem Plädoyer für die südgalatische Provinzhypothese und einer Spätdatierung als letztem Wort des Paulus zur Rechtfertigung). Dann folgen VIII. Die Anfänge der Jesusüberlieferung, IX. Lukas, X. Matthäus und Jakobus, XI. Die johanneische Literatur sowie XII. Hebr und die katholischen Briefe (1Petr; Jud; 2Petr).
Der Aufbau des Buches ist aufs Ganze gesehen chronologisch angelegt mit gelegentlichen Abweichungen (z. B. § 18 der Überblick über die 27 Schriften des Neuen Testaments nach dem 1Thess als der ältesten Schrift oder wohl aus geographischen Gründen anachronistisch V. Die Paulusschule in Ephesos vor der Behandlung von Röm und Gal). Durchgehend sind Paragraphen zu den jeweils herrschenden Kaisern von Augustus bis Hadrian eingefügt. Teilungshypothesen werden nur beim 2Kor im Anschluss an Günter Bornkamm (238 ff.) und neu beim Gal im Anschluss an Thomas Witulski (292 ff.) vertreten, abgelehnt jedoch bei 1Thess; 1Kor; Phil.
Thema des Buches ist »nicht die Geschichte des frühen Chris­tentums, sondern die Einführung ins Neue Testament« (81). Doch zeigen das Wegmotiv (§§ 1.2.3.11.15) und die durchgehend eingefügten Abschnitte über die römischen Kaiser, wie sehr das historische Interesse vor allem an der Umwelt, aber auch an der Geschichte des frühen Christentums dominiert. So will der Vf. von der lukanischen Weihnachtsgeschichte ausgehend versuchen, »Weltgeschichte und Heilsgeschichte zu verzahnen« (22). Aber was folgt, sind nur historische Informationen über Augustus und den Kaiserkult in Palästina, über die Volkszählung (Lk 2,2) und die jüdischen Religionsparteien, über Tiberius und Pontius Pilatus als praefectus Iudaeae (statt Prokurator wie im Bauerschen Wörterbuch) mit der 1961 entdeckten Pilatus-Inschrift aus Caesarea Maritima, über Johannes den Täufer und die Leben-Jesu-Forschung. Was jedoch völlig ausbleibt, sind die vorher angekündigten Ausführungen zum Verständnis der Heilsgeschichte.
Diese Vorgehensweise ist ebenso typisch für den Charakter des Buches wie eine Bemerkung zum 1Kor: »Das Zentrum paulinischer Theologie ist das Wort vom Kreuz, welches das Thema des folgenden Abschnitts 1,18–25 bildet, den ich als relativ bekannt hier übergehe« (165). Dass diese Passage dem regelmäßigen Gottesdienstbesucher aus der Epistellesung am fünften Sonntag nach Trinitatis vertraut sei, wirkt als Begründung jedoch seltsam, da der Vf. eine Einführung für den Studienbeginn zu bieten beansprucht, die das Verständnis gerade der zentralen Texte eigentlich nicht als bekannt voraussetzen, sondern vielmehr erschließen sollte.
Der Vorlesungsstil lockert die Darstellung durch mancherlei Anekdoten und aktuelle Bezüge auf, verleitet durch saloppe Formulierungen bisweilen aber zu überzogenen, wenn nicht gar irreführenden Bemerkungen. So weckt z. B. die Rede vom »Briefkasten in Andriake« bzw. Myra, wo »Paulus den Galaterbrief zur Post ge­bracht hat« (271), falsche Vorstellungen, da es zu neutestamentlicher Zeit noch kein öffentliches Postwesen gab wie in der heutigen Türkei (14). Missglückt wirkt der Vergleich der Pharisäer mit den Sicherheitskräften des deutschen Innenministers (43). Auch die drei jüdischen Religionsparteien der Pharisäer, Sadduzäer und Es­sener gab es nicht schon »seit Menschengedenken« (32), sondern, wie später zutreffend dargestellt, erst seit dem 2. Jh. v. Chr.
Problematisch ist auch die Hypothese: »Von der Auferstehung der Toten hat Paulus den Menschen in dieser Stadt (sc. Thessalonich; U. H.) nichts erzählt. Andernfalls könne man nicht verstehen, warum der Tod einiger Gemeindeglieder eine solche Sorge hervorruft« (121). Woher will der Vf. denn wissen, was Paulus dort in den wenigen Wochen seines Gründungsaufenthalts alles nicht erzählt hat? Das argumentum e silentio überzeugt im Blick auf die paulinische Missionspredigt in Thessaloniki ebenso wenig wie der Rück­schluss von den Tränen der Angehörigen bei einer Beerdigung auf den Inhalt der letzten Osterpredigt. Dass Paulus die Gemeinde »nicht im Ungewissen lassen (will)« (1Thess 4,13), ist eine rhetorische Formel, die weniger über die tatsächlichen Kenntnisse der Thessalonicher besagt als vielmehr über die Notwendigkeit der tröstlichen Vergewisserung, zu der der Apostel die Gemeindeglieder untereinander ermuntert (4,18). Auch dass Paulus »wenig von Jesus (weiß)«, »da seine Worte bei ihm kaum zur Sprache kommen« (167), ist eine Behauptung, die den Charakter der Textgattung zu wenig reflektiert. Denn Paulus will in seinen Briefen nicht die Worte und Taten Jesu zusammenstellen (wie z. B. die Logienquelle oder die Evangelien). Außerdem reicht es dem Apostel nicht, die Fragen z. B. der Korinther mit dem Zitieren von Jesuslogien zu »beantworten«, sondern er will von Kreuz und Auferstehung als dem Zentrum des Evangeliums ausgehend argumentativ überzeugen und zu einem entsprechenden christlichen Verhalten ermahnen.
Völlig zu Recht warnt der Vf. beim Begriff der Paulus-»Schule« vor der falschen Vorstellung eines bereits fest institutionalisierten Lehrbetriebs. Aber es wirkt überzogen, den Begriff auf eine persönliche Lehrer-Schüler-Beziehung zu reduzieren und als apologetische Erfindung des 19. Jh.s abzutun, statt für einen theologischen Traditionszusammenhang im weiteren Sinne zu gebrauchen, der in der Sache unbestritten bleibt (209–218).
Bei den Evangelien gerät die Einführung arg knapp und werden nur noch Einzelaspekte der Einleitungsfragen angesprochen. Demnach sind die lukanischen Schriften in Makedonien verfasst (366), das Johannesevangelium in Ephesos (406), die Apokalypse wird relativ spät auf die Übergangszeit von Trajan zu Hadrian da­tiert etwa 115/120 n. Chr. (439).
Summa summarum: Diese Einführung bietet durch ihre ar­-chäo­logischen, epigraphischen und historischen Informationen manche wertvolle Ergänzung zu den gängigen Einleitungen in das Neue Testament, wird diese aber kaum ersetzen oder verdrängen können. Das Hauptinteresse gilt den archäologischen und epigraphischen Zeugnissen aus der Umwelt, literaturwissenschaftliche oder gar theologische Fragen treten für den Anspruch einer allgemeinverständlichen Einführung demgegenüber aber unverhältnismäßig stark zurück. Hier wird man sich weiterhin anderswo orientieren müssen.