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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1320-1322

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Neyrey, Jerome H.

Titel/Untertitel:

The Gospel of John in Cultural and Rhetorical Perspective.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2009. XX, 489 S. gr.8°. Kart. US$ 37,00. ISBN 978-0-8028-4866-6.

Rezensent:

Christian Strecker

Das Buch versammelt 18 in den Jahren 1979–2007 bereits publizierte Aufsätze. Jerome H. Neyrey zählt neben u. a. B. J. Malina, J. H. Elliott und Ph. Esler zu den Gründungsmitgliedern der seit Ende der 1980er Jahre bestehenden »Context Group«. Deren An­liegen ist es, biblische Texte unter Heranziehung einschlägiger sozialwissenschaftlicher Methoden möglichst ohne anachronistische und ethnozentrische Verzerrungen aus ihrer Einbettung in der antiken mediterranen Lebenswelt heraus neu zu erschließen.
Auf dieser Linie beleuchtet N. hier Texte und Schlüsselthemen des JohEv mit Hilfe kulturanthropologischer Modelle und korreliert sie zudem mit Konzepten der antiken Rhetorik. Darüber hinaus geht er – auch wenn das im Titel nicht angezeigt wird – auf die Verarbeitung jüdischer Traditionen im JohEv ein. Das Buch ist in drei Hauptteile untergliedert. Die Beiträge des ersten Teils sind stärker thematisch geprägt. Sie leuchten »die Anatomie des vierten Evangeliums« aus. Im zweiten, mit Abstand umfänglichsten Teil finden sich Deutungen wichtiger Texte aus nahezu allen Kapiteln des Evangeliums, nur Joh 1–2 bleibt unterbelichtet. Auch wenn das Buch keinen Kommentar ersetzen kann und will, bietet es doch eine umfassende und bemerkenswert kohärente Auslegung des vierten Evangeliums. Nur schwer erschließt sich die Aussonderung zweier Aufsätze zur joh Christologie in einem dritten Teil. Die Ausführungen zum himmlischen Charakter der Jesusfigur (Kapitel 17) und zur Türmetapher in Joh 10 (Kapitel 18) wären problemlos im zweiten Teil unterzubringen gewesen, werden doch auch dort christologische Themen erörtert.
Im ersten Teil stellt N. in Kapitel 1 die These auf, der Autor des JohEv sei mit den in den progymnasmata anhand stereotyper Bewertungskategorien praktizierten rhetorischen Übungen in Lob und Tadel vertraut gewesen und habe sein Jesusporträt dementsprechend ausgestaltet. Es fänden sich im Evangelium zwei gegenläufige Porträts, zum einen das an weltlichen Maßstäben orientierte Schmähporträt der outsider, das auf Jesu niedere Herkunft in punkto Ort und Familie, seine fehlende Ausbildung, seinen vermeintlich schlechten Charakter und schmachvollen Tod abhebe, zum anderen das in esoterischem Wissen gründende Enkomium der insider, das Jesu himmlische Herkunft, göttliche Abstammung, sein göttliches Wissen, sein gottgerechtes Auftreten, seine Überlegenheit gegenüber dem Täufer und jüdischen Patriarchen sowie seinen noblen Tod und die postume doxa akzentuiere. Auf der Basis einer strikten Unterscheidung zwischen Rolle (erwartetes interaktives Verhalten) und Status (anerkannte soziale Position) vollzieht N. dann in Kapitel 2 eine detaillierte Figurenanalyse wichtiger Erzählpersonen (Samaritanerin, Jünger, Blindgeborener, Martha und Lazarus, Maria Magdalena, Simon Petrus, Lieblingsjünger). Er gelangt zu dem Ergebnis, dass dem Evangelisten mehr am Status denn an den Rollen der Charaktere gelegen war, schreibe er doch den Menschen um Jesus nur wenige formale Rollen zu (u. a. Zeuge, Makler, Prophet), die überdies – abgesehen von der Zeugenrolle des Blindgeborenen – auf den inneren Kreis ausgerichtet blieben. Deutlich differenzierter träten dagegen Indizien für innergemeinschaftliche Statuspositionen hervor. N. ermittelt elf Statusmarker im JohEv (Empfang von Offenbarungen und Christophanien, Gewährung esoterischer Informationen, Lob durch Jesus etc.). Am Ende fügt er die Erzählfiguren in eine komplexe Matrix unterschiedlicher Statusgrade und Rollenmuster ein. In Kapitel 3 durchleuchtet N. mit Hilfe des Modells der »Territorialität«, welches Räume als Manifestationen gesellschaftlicher Macht versteht, die Bedeutung spatial geprägter Aussagen im JohEv über Galiläa und Judäa, Offenheit und Verborgenheit, die Tempel auf dem Garizim und Zion, das Woher und Wohin Jesu, das Haus des Vaters und die vielen Bleibestätten, das Einwohnen und »Sein in« sowie das Leben in zwei Welten (Geist – Fleisch, Oben – Unten etc.). Dabei bedient sich N. der Klassifizierungskategorien öffentlich – privat, heilig – profan, Ehre – Schande, rein – unrein und statisch – fließend, um herauszuarbeiten, wie im JohEv vermittels der Kommunikation dieser Klassifizierungen Kontrolle über Räume und Menschen ausagiert wird. N. stellt in seinen materialreichen Ausführungen u. a. heraus, dass im JohEv »Galiläa« und »Judäa« weniger als Bezeichnungen für reale Orte denn als »codenames for welcome and rejection« (81) fungierten und der heilige, der Gegenwart Gottes gleichkommende Raum der Präsenz Jesu unter Verwerfung des statisch-abgegrenzten heiligen Raums von Tempeln als offener, fließender Raum konzipiert sei.
Im zweiten Hauptteil geht N. zunächst in Kapitel 4 dem Um­gang mit der Jakobstradition in Joh 1,51 und 4,10–26 nach. Mit Hilfe des vorab an diversen antiken griechischen und jüdischen Texten exemplifizierten kulturanthropologischen Modells der »limited goods« erhellt er dann in Kapitel 5 die Spannungen zwischen Johannes- und Jesusjüngern in Joh 3,22–30 in neuer Weise. Das Verhalten und die Bedeutung der Samaritanerin in Joh 4 werden in Kapitel 6 vor dem Hintergrund der Vorstellungen von Ehre und Schande und der antiken Geschlechterstereotypen sowie unter Verweis auf das auch in anderen joh Texten begegnende rhetorische Muster »Aussage – Missverständnis – Klärung« beleuchtet. In Kapitel 7 bis 9 arbeitet N. heraus, dass sich der Evangelist in etlichen Textpassagen (5,16–18.30–47; 7,14–52; 8,12–59; 9,13–34; 10,21–39; 11,45–53) an klassischen Elementen antiker Gerichtsprozesse orientiert habe, die in der damaligen Ehrkultur durch ein komplexes Spiel von Ehrherausforderungen und Erwiderungen geprägt waren. Sehr lehrreich sind die sich auf die Soziologie des Geheimnisses berufenden Ausführungen zu den vielschichtigen Implikationen des Umgangs mit Wissen und Nichtwissen und der Informationskontrolle im JohEv (Kapitel 10). Die in Kapitel 11 von N. herausgeschälte Verarbeitung der »noble death tradition« in der Hirtenrede (Joh 10) wird in der Exegese inzwischen breiter diskutiert. Detailliert zeigt N. dann in Kapitel 13 auf, dass Joh 12 den in der rhetorischen Literatur formulierten Kriterien einer conclusio entspricht. In Kapitel 14 postuliert er in Anwendung der Ritualtheorie von Victor Turner, dass in Joh 13 zwei Fußwaschungsrituale beschrieben seien, nämlich in V. 6–11 ein einmaliges Statustransformationsritual für Petrus, das diesen in eine liminale Phase überführe, die erst in Joh 21,15–17 ende, und in V. 12–20 eine in der joh Gemeinde wiederholt praktizierte, rollenbestätigende Fußwaschungszeremonie. Auf der Basis eines kommunikationstheoretischen Gottesdienstmodells sichtet N. in Kapitel 15 die Verarbeitung gottesdienstlicher Praktiken in den Abschiedsreden (Joh 14–17). In Kapitel 16 spürt er schließlich der Bedeutung von Ehre und Schande in der joh Passionsgeschichte (Joh 18–19) nach.
Der Überblick vermag der Fülle an Einsichten und Thesen in den Beiträgen nicht annähernd gerecht zu werden. Der Gebrauch kulturanthropologischer Modelle erlaubt es N. immer wieder, »to see things in the narrative of John which would otherwise go unnoticed« (80). Diverse neue Zusammenhänge in den Texten werden so aufgedeckt. Stören mag man sich freilich an dem oft schematischen Umgang mit den Modellen, die wie unhintergehbare Wahrheiten gehandhabt werden. Die diesbezüglichen Kontroversen in der kulturanthropologischen Forschung bleiben unerörtert. Zudem kann man sich vereinzelt nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass joh Texte den Modellen fügig gemacht werden. Die Auseinandersetzung mit der breiten Johannesforschung hält sich in Grenzen und ist infolge des schon älteren Entstehungsdatums einiger Beiträge nicht immer auf der Höhe der Zeit.
All diese und weitere mögliche Einzelanfragen ändern aber nichts daran, dass man durch die Lektüre reichlich belohnt wird. Das Buch verhilft dazu, das JohEv an vielen Stellen mit neuen Augen zu lesen. Das ist eine beachtliche Leistung, für die N. nachdrücklich zu danken ist.