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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1316-1319

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Michaels, J. Ramsey

Titel/Untertitel:

The Gospel of John.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2010. XXVII, 1094 S. gr.8° = The New Interna­tional Commentary on the New Testament. Lw. US$ 65,00. ISBN 978-0-8028-2302-1.

Rezensent:

Ulrich Busse

Es ist ein verlegerisches Wagnis ohne Vorbild, im gleichen Jahr zwei Johanneskommentare in einem Verlag erscheinen zu lassen. Beide spiegeln jedoch die gegenwärtig bestimmenden gegensätzlichen Auslegungsrichtungen wider.
Auf der einen Seite steht das literaturwissenschaftliche Interesse mit seiner auch textgeschichtlich abgesicherten Meinung, das Evangelium als kohärenten Text mit einer spezifischen Intention lesen, den auf den Leser abzielenden, literarischen Prozess aufdecken und verstehen lernen zu können. Auf der anderen Seite steht ein zumeist traditionsgeschichtliches Interesse, aus unterschiedlich alten und untereinander noch widerstrebenden Textbausteinen ein Puzzle oder Mosaik mit geschichtlicher Tiefenschärfe einer oder mehrerer johanneischer Theologie(n) und Schule(n) zu rekonstruieren. Im deutschsprachigen Raum repräsentiert der Kommentar von H. Thyen die erste und der Kommentar von F. Siegert die zweite Position. In den USA greifen die Vertreter der ersten Richtung auf die Arbeiten von R. A. Culpepper und die anderen auf die von R. Fortna zurück. Unser Ausleger, J. Ramsey Michaels, der schon früher mit einem knappen Johanneskommentar (1984) auf sich aufmerksam gemacht hat, ist ein Vertreter der literaturwissenschaftlichen Position. Der zur gleichen Zeit im gleichen Verlag erschienene dreibändige Kommentar (inklusive der drei Johannesbriefe) von U. C. von Wahlde steht der anderen Auslegungsrichtung näher.
M.s Kommentar erweist sich im doppelten Sinn als leserorientiert. Er untersucht die Bemühungen des textimmanenten Autors um den antiken Leser und dessen theologische Fragen zur Bedeutung seines Glaubens an Jesus, den Sohn Gottes. Indem er die gedankliche Evolution, Überzeugungstaktik und den Wahrheitsanspruch des Evangelisten behutsam aufzudecken versucht, will er zugleich verhindern, dass das Evangelium – wie so oft – vom mo­dernen US-amerikanischen Leser falsch verstanden oder sogar missbraucht (5) wird. Der Regionalisierung der Auslegung entspricht auch die Verwendung von wissenschaftlicher Literatur. Es werden fünf französisch- und sieben deutschsprachige Autoren zitiert. Als leserorientierte Auslegung erspart sich der Kommentator eine ausführliche wissenschaftliche Einleitung. Jedoch stellt er in acht knappen Kapiteln pointiert seine Meinung zu grundsätzlichen Fragen dar. Das Evangelium zielt auf eine universale kirchliche Leserschaft und ist somit keine Schrift, die sich an eine christliche Randgruppe richtet.
Die Gestalt des sog. »Lieblingsjüngers« ist eine schwer zu fassende Jüngergestalt. Über ihre historische Identität sollte man nicht länger spekulieren, sondern ihre Anonymität respektieren. Der Wahrheitsanspruch des Autors ist nicht zu leugnen, aber es sei zu bedenken, dass sein Anspruch auf die Erinnerung an Jesus be­schränkt ist (27.1058). Das vierte Evangelium ist wahr, aber nicht allein wahr! Der erste Christ Johannes bezeugt diese Wahrheit ebenso wie der johanneische Jesus selbst. Der Evangelist kennt die Synoptiker und die Logienquelle. Er beabsichtigt nicht, sie zu korrigieren oder zu ergänzen, sondern regeneriert die Tradition als Medium der freien Inspiration und zur Untermauerung seiner eigenen Erzählintention. Bei den Synoptikern verkündet Jesus die Basileia, im vierten Evangelium sich selbst.
Der kompositorische Aufbau des Evangeliums sieht nach M. so aus: 1,1–5 Präambel, 1,6–3,36 Zeugnis des Johannes, 4,1–12,50 Selbstzeugnis Jesu, 13,1–19,42 Verherrlichung Jesu 18,1–20,31 Passion und Auferstehung Jesu und Kapitel 21 nachösterlicher Neubeginn. Die dialogisch konzipierte Abschiedsrede lässt sich in drei voneinander abhängige und aufeinander bezogene Abschnitte aufteilen: 13,1–14,31 die Verherrlichung Jesu impliziert zugleich seine Abwesenheit, 15,1–16,33 Aufhebung des Skandals der Abwesenheit und Kapitel 17 gebetsartige Rückschau auf die Zeit des Beieinanderseins Jesu mit seinen Jüngern. Doch M. schränkt zu Recht ein: »The structure in John’s Gospel, as in most great literature, is largely in the eye of the beholder« (37). Die Identität des Verfassers, die Abfassungszeit und der Entstehungsort sind nicht exakt zu bestimmen. Aber das Evangelium ist mit großer Sicherheit am Ende des 1. Jh.s verfasst. Textkritisch auszuscheiden sind nur die Verse 5,4; 7,53–8,11 und 21,25 als Kolophon aus der Zeit der Kanonbildung (1057). Die Intention des Buches ist nicht nur eine christologische, sondern vorrangig eine theologische: Gott ist der Initiator des Chris­tus­ereignisses von Uranfang an, und der aus einer Frau geborene Jesus war sein bester Botschafter und Hoffnungsträger im Kosmos.
Die Lesefreundlichkeit des Kommentars bricht sich besonders Bahn in der Auslegung. Sie weist den Leser auf Verstehensaporien hin, skizziert bei besonders schwierigen Stellen die unterschiedlichen Lösungsmodelle, diskutiert nobel deren Vorteile und Schwächen und löst sie anschließend – gegebenenfalls mit Hinweisen auf die Textgeschichte, auf die möglichen Vorgaben in der Jesustradition und zumeist auf den Kontext, aber vor allem mit Rückverweisen auf die bereits gewonnenen Einsichten im fortschreitenden Leseprozess. Daraus ergibt sich vorteilhaft, dass stetig der Gedankengang und seine Entwicklung, Differenzierung, Vernetzung mit anderen theologischen Aspekten und deren Rückkopplung an vorher Ausgeführtem im Bewusstsein bleiben. Auf diese Weise ist die Auslegung synchron und bemüht sich konsequent, die Kohärenz des vorliegenden kanonischen Textes (mit seinen bekannten Ausnahmen) aufzuzeigen. Die von anderen Auslegern (wenigstens seit J. Wellhausen und E. Schwartz) markierten Textbruchstellen werden also nicht quellengeschichtlich ausgewertet, sondern es wird an vielen Stellen überzeugend nachgewiesen, dass sich eine mutmaßlich unüberbrückbare Aporie auf diese Weise besser lösen lässt.
Ein gelungenes Beispiel ist die Beschreibung der gedanklichen Brücke zwischen Kapitel 9 und 10. Mit Rückverweis auf 9,3 ist der Blinde 9,39 in der Tat ohne Sünde. Die Pharisäer aber behaupten, sie wären Sehende, obwohl seit 1,36 ff. dem Leser bewusst ist, dass »Sehen« Anerkennung der theologischen Bedeutung Jesu bedeutet. Ihre Selbstreferenz stempelt sie als Blinde nach Jes 6,10. Die anschließende Hirtenmetaphorik aber wird von der synoptischen Tradition von den »blinden Blindenführern« stimuliert sein. Denn dort werden bevorzugt die Pharisäer und Schriftgelehrten als »blind« tituliert. Ebenfalls hilfreich ist der philologische Hinweis, dass 20,31 mit »dieses« eröffnet wird und 21,1 mit »danach« angeschlossenen wird. Diese Beobachtung verglichen mit 2,11 und 4,45 kann als Fingerzeig gelten, dass 20,30 nicht nur ein Rückverweis »auf diese Zeichen« impliziert, sondern der Erzählfluss durchaus in Kapitel 21 weitergehen kann.
So ist in einer Arbeitszeit von über 20 Jahren ein Kommentar entstanden, der ohne wissenschaftlichen Zierrat auf einen modernen, aber interessierten Leser ausgerichtet und glänzend geschrieben ist, sich ausgewogen von allzu großen Hypothesen fernhält und konsequent seinen methodischen Ansatz durchhält.
Aber ohne Kritik kann das Werk nicht bleiben. Der Umschlag mit der Abbildung Ankündigung des Engels von S. Botticelli ist gedankenlos gewählt, da sie eine Perikope aus der lukanischen Vorgeschichte illustriert. Ein Register ohne die johanneischen Stellen ist bei einer synchronen Arbeit mit ihren ständigen Vor- und Rück­verweisen besonders für deren Nachvollzug wenig hilfreich. Ob­wohl kompositorische Gliederungen dem persönlichen Ge­schmack (s. o) unterliegen, bleibt die Eingrenzung des Prologs auf eine Präambel (Joh 1,1–5) fragwürdig. Zwar könnten P 66 und P75 mit ihrer Absatzmarkierung nach V. 5 für eine solche These sprechen, aber V. 19 ist als Überschrift über das anschließend erzählerisch ausgeführte Zeugnis des Johannes gestaltet und setzt somit den Prolog vom Folgenden ab. Außerdem umfassen die drei Absätze (1,1–5.6–13.14–18) das gesamte theologische und »heilsgeschicht­liche« Programm des Evangelisten. Es reicht von dem alles bestimmenden theologischen Apriori über das Zeugnis des Johannes und der Adoption der Gläubigen als Kinder Gottes im Rahmen der Sendung Jesu (Joh 20,17) zu deren abschließendem überwältigendem (nachösterlichen?) Heils- und Glaubenszeugnis (vgl. 1,14 mit 21,24). Die meisten der von der literarkritisch operierenden Forschung angeführten Brüche im Text werden überzeugend widerlegt, aber die Auflösung des seit H. Grotius (1679) oft beschriebenen Hiatus 14,31/15,1 bleibt unbefriedigend. Die dialogische Gestaltung der Abschiedsrede legt es nahe, mit 14,23 einen nächsten Gesprächsabsatz beginnen zu lassen, der über 14,31 hinausreicht. Dessen dortige Aufforderung ist nicht performativ zu verstehen, sondern wegen des für ihn noch äußerst knappen Zeitfensters fordert Jesus die Jünger in rhetorischer Manier auf, von nun an mit ihm zusammen die erforderlichen Früchte zu bringen (vgl. 12,24 mit 15,1 ff.). Auch die kohäsive Kraft der johanneischen Bildreden für den Zu­sammenhalt des Gesamttextes hätte entschiedener unterstrichen werden müssen.
Diese Bedenken können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Zukunft bei jeder exegetischen Arbeit dieser Kommentar konsultiert werden sollte.