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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1313-1314

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Jaroš, Karl, u. Ulrich Victor

Titel/Untertitel:

Die synoptische Tradition. Die literarischen Beziehungen der drei ersten Evangelien und ihre Quellen.

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2010. 415 S. m. Tab. 4°. Geb. EUR 52,90. ISBN 978-3-412-20549-2.

Rezensent:

Werner Kahl

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Adamczewski, Bartosz: Q or not Q? The So-Called Triple, Double, and Single Traditions in the Synoptic Gospels. Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2010. 554 S. 8°. Geb. EUR 96,80. ISBN 978-3-631-60492-2.


Den beiden hier zu besprechenden Veröffentlichungen ist – bei aller Differenz bis Gegensätzlichkeit in der Argumentation – Folgendes gemein: erstens, eine Frontstellung gegen die Zweiquellentheorie (2QT) im Allgemeinen und die Redequelle Q im Besonderen; zweitens stellen die hier vertretenen Erklärungsversuche im Ansatz eine ausdifferenzierende Revitalisierung entsprechender Entwürfe aus der Zeit vor der Entwicklung der Zweiquellentheorie, i. e. aus dem ausgehenden 18. Jh., dar; und drittens behaupten die Autoren, dass ihre Analysen die Richtigkeit ihrer jeweiligen Lösungsvorschläge bewiesen.
K. Jaroš und U. Victor negieren literarische Beziehungen zwischen den synoptischen Evangelien. Sie wenden die auf Karl Lachmann zurückgehende stemmatische Methode – sie war dazu entworfen worden, genealogische Abhängigkeiten von Handschriften ein und desselben verloren gegangenen Urtextes zu etablieren, um einen Archetypus rekonstruieren zu können – auf die Bestimmung der Verhältnisse zwischen den synoptischen Evangelien an. Die damit gegebene – mehrschichtige! – Problematik wird nicht reflektiert. Ergebnis der Analyse der synoptischen Dreifach- und Zweifachüberlieferungen ist die Postulierung von fünfzehn Quellen der Dreifachüberlieferung und von zehn Quellen der Zweifachüberlieferung, bzw. von neun Quellen für Mk, zehn Quellen für Mt und neun Quellen für Lk. Diese Ergebnisse werden von J. und V. ausdrücklich nicht als Hypothesen, sondern als »nachprüfbare Fakten« präsentiert (339.341). Überprüft man die Analysen der Einzelperikopen, so fallen Fehlerhäufungen, Ungenauigkeiten und kaum plausible, da willkürlich anmutende Einzelentscheidungen auf, oft in Verbindung mit polemischen Anwürfen, die allein schon indizieren, dass dieses Werk grenzwertig ist (vgl. zu all dem z. B. 247 f. zu Mk 1,12 f.). Christus gilt ihnen als Primärquelle, die Augenzeugenberichte der Begleiter Jesu als die Quellen der Synoptiker. Die synoptischen Evangelien seien zwischen 44 (Mk unter Verweis auf 7Q5) und 60 (früher Mt, später Lk) entstanden. J. und V. vermögen es weder, die Zweiquellentheorie ernsthaft infrage zu stellen oder die Annahme von Q zu unterminieren, noch überzeugt ihr eigener Lösungsvorschlag.
B. Adamczewski präsentiert seine Studie in fünf Kapiteln, auf die eine allgemeine Zusammenfassung folgt. In Kapitel 1 (17–186) gibt A. einen differenzierten Überblick über zwölf in der Literatur ventilierte Lösungsvorschläge zum synoptischen Problem. Die Unterkapitel zu den einzelnen Modellen sind identisch strukturiert: Zunächst werden die maßgeblichen Argumente für die jeweilige Theorie unter Rekurs auf ihre ersten Vertreter zusammengestellt; dann folgt eine Vorstellung der Argumentation wichtiger moderner Vertreter – allein in Bezug auf Q werden 31 Ansätze dargestellt und diskutiert; und zum Abschluss werden die Schwachstellen der Theorie aufgezeigt. Dieser Durchgang durch unterschiedliche Mo­delle zur Erklärung des synoptischen Problems endet mit der Darlegung eines Lösungsansatzes, den A. selbst favorisiert (eine Benutzungshypothese mit der Reihenfolge Mk-Lk-Mt). Die Darstellung dieser Ansätze besticht durch eine alles Bisherige überbietende Materialfülle, durch eine verlässliche und faire Repräsentation sowie durch scharfsinnige Anfragen an jeweilige Konzepte. Sie ist vorbildlich gelungen.
In Kapitel 2 diskutiert und empfiehlt A. Kriterien zur Bestimmung der Existenz und der Richtung von möglichen direkten literarischen Benutzungsverhältnissen zwischen den Synoptikern. Diese Kriteriendiskussion ist hilfreich. Dass sie aber keinen wegweisenden Durchbruch (vgl. auch die Einschränkungen auf S. 205) bietet und die Entscheidungen von A. keine Eindeutigkeit beanspruchen können, wird anschaulich an der darauf folgenden An­wendung von vorgeblich angemessenen Kriterien in der Analyse von synoptischen Parallelen zu 13 Perikopen aus Mk 1,14–2,28. Hier kommt A. zu Resultaten, die sicher nicht exegetisch allgemein nachvollziehbar sind.
In den Kapiteln 3 bis 5 untersucht A. den Umgang von Mk, Lk und Mt mit ihren jeweiligen Quellen, und zwar unter Rekurs auf entsprechende Analysen von zahlreichen Einzelperikopen. Daraus ergeben sich ihm – unter der Voraussetzung großer gestalterischer Kreativität auf Seiten der Synoptiker – weitreichende Konsequenzen hinsichtlich der veranschlagten Quellen der synoptischen Evangelien einerseits und ihrer historischen Verortung andererseits: Mk »was in fact a result of systematic, sequential, hypertex­tual reworking of the main letters of Paul the Apostle, namely Gal, 1 Cor, Rom, and 1 Thes (in this particular order)« (443). Darüber hinaus hätte Mk neben der Septuaginta extensiv Homers Illias und die Werke des Josephus benutzt. Es wäre zwischen 100 und 110 n. Chr. entstanden. Ähnlich wäre Lk vorgegangen, der neben Mk, den Paulusbriefen, dem Damaskusdokument usw. auch Herodots Histo­-riae benutzt und Motive daraus in sein Narrativ eingearbeitet hätte. Das LkEv wäre zwischen 110 und 120 n. Chr. entstanden. Mt als letztes Werk in dieser Reihe hätte das MkEv, das LkEv, die Apg, den Jakobusbrief und den 1Petrusbrief benutzt.
Er kommt damit insgesamt zu Ergebnissen, die exegetisch nicht belastbar sind. Sie verdanken sich einer unkontrollierten Anwendung des Intertextualitätsparadigmas als historische Methodik. A. stellt ernstzunehmende Anfragen an die Existenz von Q und die Triftigkeit der Zweiquellentheorie. Seine Lösung des synoptischen Problems ist aber kaum plausibel.