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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1293-1295

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Liss, Hanna, and Manfred Oeming[Eds.]

Titel/Untertitel:

Literary Construction of Identity in the Ancient World. Proceedings of the Conference Literary Fiction and the Construction of Identity in Ancient Literatures: Options and Limits of Modern Literary Approaches in the Exegesis of Ancient Texts. Heidelberg, July 10–13, 2006.

Verlag:

Winona Lake: Eisenbrauns 2010. XIV, 370 S. gr.8°. Geb. US$ 49,50. ISBN 978-1-57506-190-0.

Rezensent:

Thomas Hieke

Der bemerkenswerte Band versammelt 18 englischsprachige Beiträge aus verschiedenen Disziplinen mit einer großen thematischen Breite. Die Vielzahl der bearbeiteten antiken Texte ist intendiert, denn das Augenmerk liegt nicht auf der Behandlung eines bestimmten Textbereichs der Antike, sondern auf hermeneutischen und methodologischen Fragestellungen. Es geht darum, antike Texte nicht (mehr) nur als historische Quellen, sondern (auch) als literarische Artefakte anzusehen – ein Perspektivenwechsel, der im Vorwort nicht zu Unrecht als »paradigm shift« bezeichnet wird. Bibelwissenschaft, Ägyptologie und Klassische Philologie haben mittlerweile die traditionelle historisch-kritische Forschung durch literaturwissenschaftliche Ansätze ergänzt und damit das Tor zu weitreichenden neuen Einsichten aufgestoßen. Insbesondere aus der Bibelwissenschaft kennt man die intensive methodologische Diskussion der letzten Jahrzehnte. Das Ziel des Bandes ist es, die innerdisziplinären Diskurse über Hermeneutik und Methode gegenseitig ins Gespräch zu bringen. Dazu wurde 2006 eine internationale Konferenz an der Hochschule für jüdische Studien sowie der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg abgehalten: »Literary Fiction and the Construction of Identity in Ancient Literatures: Options and Limits of Modern Literary Approaches in the Exegesis of Ancient Texts«. Teilnehmende waren Experten der Ägyptologie, Klassischen Philologie, Vorderorientalistik, Bibelwissenschaft, Judaistik, Literaturwissenschaft und Vergleichenden Religionswissenschaft.
Unterschiedliche Texte und Gattungen haben je verschiedene Bezugspunkte zur Realität – nicht jeder Text will (in erster Linie) historische Ereignisse wiedergeben. Sehr viele Texte wollen lieber die Weltsicht und Identität ihrer Leserschaft beeinflussen und formen und nehmen dazu literarische Kreativität zu Hilfe. Was für heutige Texte gilt, trifft auch auf antike Werke zu. Allerdings zeigen religiöse Fundamentalisierungen in allen Religionen, dass diese – an sich alltägliche und selbstverständliche – Einsicht nicht von allen geteilt wird. Umso wichtiger ist die Wissenschaft von Philologie und Exegese, die zu klären versucht, was antike Texte, die vor 2000 und mehr Jahren entstanden sind, intendierten. Das Vorwort spricht hier von »ancient authors« (VII), aber es empfiehlt sich wohl eher, anstelle von historisch kaum mehr greifbaren »Autoren« von den Texten und ihren »Intentionen« ( intentio operis) zu reden. Selbst wenn man also beispielsweise herausgefunden hat, dass die Bibel in vielen Punkten keine historischen Fakten überliefert, sondern eine bestimmte Ideologie (oder, im besten Fall, »Theologie«) vertritt, so kann man bei diesem Ergebnis der historischen Kritik nicht stehen bleiben (wie dies manche »Minimalisten« tun), sondern muss die literarische Gestalt der Darstellung analysieren um herauszufinden, in welche Richtung die Aussage geht. So stellt dies z. B. Adele Berlin in ihrem Beitrag »The Exile: Biblical Ideology and its Postmodern Ideological Interpretation« eindrucksvoll heraus.
Die Artikel des Bandes sind in fünf Abschnitte gruppiert. Teil 1, überschrieben mit »Thinking of Ancient Texts as Literature«, behandelt Beispiele, die zeigen, dass antike Texte als Literatur interpretiert weitaus mehr sind als bloße Fens­ter in eine ferne Vergangenheit. So geht es um die Interpretation der Exodus-Geschichte als politischer Mythos (Jan Assmann), um die Poetik biblischer Erzählungen (Joachim Vette), um die Kategorie des »Dramatischen« als verbindendes Element für alttestamentliche Prophetie, attische Tragödie und ägyptische Kultperformanz (Helmut Utzschneider) und um die erfolgreiche Integration literaturwissenschaftlicher Methoden in die Klassische Philologie (Irene J. F. de Jong).
Der zweite Teil nähert sich der Frage der Identität von Autoren und Lesern. Dabei reicht das Spektrum von einer Fallstudie zu den Inschriften König Assurnasirpals (Barbara N. Porter) über die philologische Identifikation von Lesersteuerung (Christof Hardmeier) hin zu zwei antiken literarischen Figuren in bemerkenswerten Texten: das Alphabet des Ben Sira (Dagmar Börner-Klein) und Catulls carmen 8 (Melanie Möller).
Im dritten Teil beschäftigen sich mehrere Beiträge mit dem Verhältnis von Fiktion und Faktum. Frank H. Polak untersucht, wie die dialogischen Redeformen der biblischen Erzähltexte (Verhandlungen, Absprachen) stark von der mündlichen Kommunikation des antiken Vorderen Orients geprägt sind. Die schwierige Frage biblischer Fiktionalität behandelt Hanna Liss im Blick auf die Reinheitsgesetze der priesterlichen Literatur und Ute E. Eisen im Blick auf die Apostelgeschichte. Weitere Beiträge befassen sich mit der Konstruktion jüdischer Identität im Talmud (David Kraemer) und Hesiods Dichterweihe (u.a. im Vergleich mit biblischen Berufungsgeschichten; Gerrit Kloss).
Teil 4 versammelt drei Beiträge, die unter den hermeneutischen Vorzeichen moderner Zugänge biblische Poesie neu lesen. So unternimmt Nehama Aschkenasy eine Lektüre des Rutbuches im Lichte antiker Dramentheorie (von Aristoteles bis hin zu modernen Dramentheorien und Mikhail Bakhtins Theorie des Karnevalesken). Francis Landy fragt nach Spuren der literarischen Prophetengestalt »Jesaja« im Buch Jesaja. Krise und Identität sind passende Begriffe für das Ringen Ijobs, und dieses Paradigma in Ijob 28 sowie dessen Klimax in Ijob 29–31 untersucht Jan Fokkelman.
Der fünfte Teil zeigt zwei Beispiele dafür, wie die Rekonstruktion und Konstruktion der Vergangenheit dazu hilft oder dient, die Zukunft zu gestalten. Dazu untersucht Joachim Vette die Abschiedsrede des Samuel in 1Sam 12 und deren Rezeption bei Josephus und Pseudo-Philo (LAB). Adele Berlin widmet sich dem »Babylonischen Exil« und dessen Deutung in der postmodernen Bibelinterpretation. Hier wird nochmals deutlich, worum es letztlich allen Beiträgen geht: Dass ein antiker Text »Literatur« ist, näherhin auch »Fiktion« und Poesie, beeinträchtigt nicht seinen Wert als historische Quelle. Freilich geht es nicht (mehr) um das Erheben von bruta facta, an die man auf diese Weise nicht kommt, sondern vielmehr um das ansatzweise Erfassen des antiken bzw. »biblischen« Denkens, das sich hinter der literarisch-fiktiven Gestaltung von Figuren und Geschichtserzählungen zeigt. – Der Band wird durch einen Index von Autorinnen und Autoren sowie von Bibelstellen erschlossen.
Die Aufsatzsammlung setzt Interdisziplinarität und Methodenvielfalt gewinnbringend ein. Bei aller Vielfalt der behandelten antiken Texte und der methodischen Herangehensweisen werden doch bestimmte hermeneutische Grundeinsichten als gemeinsam deutlich. Die historisch-kritische Befragung der antiken Texte nach ihrer Entstehung und den geschichtlichen Verhältnissen ihrer Zeit muss durch literaturwissenschaftliche und soziologische Analysen ergänzt werden, um die literarische Konstruktion von Identität durchschauen zu können und so die poetische, religiöse, soziale und politische Funktionalität der Texte zu erhellen. Auch dies dient der Vermeidung und Abwehr von Fundamentalismen, die glauben, insbesondere aus den religiösen Texten der Antike die Wahrheit für alle Zeiten schlechthin deduzieren zu können. Insofern werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen (Theologie/Bibelwissenschaften, Kultur- und Geschichtswissenschaften, Sozialwissenschaften, Klassische Philologie und Altertumswissenschaften) in den einzelnen Beiträgen hilfreiche Anregungen finden.