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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1285-1287

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Müller-Karpe, Hermann

Titel/Untertitel:

Religionsarchäologie. Archäologische Beiträge zur Religionsgeschichte.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Lembeck 2009. 271 S. m. Abb. gr.8°. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-87476-578-7.

Rezensent:

Hans Waldenfels

Hermann Müller-Karpe zufolge sind die 13 Beiträge dieses Buches im Laufe von fünf Jahrzehnten entstanden (vgl. Vorwort). Sie sind Frucht einer langjährigen Feldforschungsarbeit, die letztlich der Frage nach dem Beginn der Religion und ihrer Stellung im menschlichen Leben diente.
Das erste Kapitel ist eine gute Zusammenfassung des heutigen Forschungsstandes und begründet die Einstellung M.-K.s. Er un­terscheidet zwischen zwei Grundeinstellungen »zur Religion der Urmenschheit« (9–24): eine geistesgeschichtliche und eine na­tura­listische. Nach der geistesgeschichtlichen Sicht wurde »die alle na­turale Erkenntnis neuartig fundierende und transzendierende Ganzheit … vom Menschen wohl von Anfang an nicht als abstraktes Prinzip erkannt, sondern geistig wahrgenommen als etwas Göttlich-Personales, das ihn befähigte, geistig mit dieser Gottesuniversalität zu ›kommunizieren‹, wodurch er selbst Person wurde.« (9) Diese Sicht ist am anschaulichsten in der Genesis zu finden. Im Gegensatz dazu reduziert die naturalistisch-materialistische Sicht das menschliche Erkennen auf das physisch Verifizierbare. Nach M.-K. stehen sich beide Sichtweisen seit der Antike gegenüber.
Die naturalistische Sicht findet ihre Fortsetzung im 19. Jh. In der physischen Anthropologie, in den evolutionspsychologischen, ethnologischen und heute in den neurobiologischen Forschungen. Entscheidende Autoren sind Darwin und Haeckel. Diese Forschungen gehen im Gegensatz zur geisteswissenschaftlichen Richtung, die auf ein Verstehen ausgerichtet ist, auf Erklärung aus.
In der geisteswissenschaftlichen Sicht spielt die historische Forschung die entscheidende Rolle. Wo der Mensch als historisches Wesen gesehen wird, richtet sich der Blick nicht so sehr auf die Naturgesetzlichkeit, sondern auf das, was Freiheit und Selbstverantwortung bewirken. M.-K. ist davon überzeugt, dass »für das Problem des geschichtlichen Anfangs des durch denkendes Be­wusstsein gekennzeichneten Menschen den archäologischen Kulturhinterlassenschaften des Paläolithikums eine maßgebliche Be­deutung« zukommt (16). Im Früh- und Altpaläolithikum liegen vor allem Gerätschaften des praktischen Lebens vor, während im Mit­telpaläolithikum (vor 30000 v. Chr.) rituelle Bestattungen be­kannt werden, die schon ein ausgeprägtes denkendes Bewusstsein zu be­zeugen scheinen. Gegen die naturalistische Ableitung des Be­ginns der Menschheit aus der Evolution aus dem physischen Weltgeschehen kann der uranfängliche Beginn von Geistbefähigung überall in der Zeit bis zur Eiszeit erfolgt sein.
Gegenüber dem Mittelpaläolithikum kommt es in der jungpaläolithischen Kultur (30.–9. Jt. v. Chr.) zur Ausbildung von Bilddarstellungen, die in der Forschung sicher als religiös gelten (vgl. 18). Diskutiert wird, ob sie eher als zukunftsorientierter Jagdzauber und magische Riten oder als religiöse Votivbilder im Sinne von Dank für real Erhaltenes (Begegnungen, Lebensereignisse) anzusehen sind. Offensichtlich hat es in dieser Zeit auch bereits einen Sinn für astronomische Beobachtungen und damit für Zeitabschnitte (13 Mondmonate mit jeweils vier Wochen) gegeben, also ein Gefühl für einen gegliederten Zeitablauf und eine Zeitlenkung durch einen universalen Gott (22). M.-K. spricht von einer »Ah-­nung von der vermuteten Gottesschau als Ursprung menschlichen Ichbewusstseins und menschlicher Religiosität« (22), einem An­satz, der später in die Mystik führt. »Demnach würde am Beginn des Menschseins eine Gotteserkenntnis stehen als eine alles Vor- und Außermenschlich-Naturhafte radikal und total übersteigende ganzheitliche Erkenntnisdimension, durch die das kreatürliche Gewordensein alles Wahrgenommenen zum Bewusstsein kam. Darin würde eine mentale Grundhaltung wurzeln, die als Demut und Dankbarkeit gegenüber der Gottheit zu kennzeichnen wäre, aber auch als Geistesregungen in der Art von Sichwundern, Sichfreuen und Beglücktsein sowie als Bekundigungen von Gottesverherrlichung im Sinne von dankerfülltem Lobpreis.« (23) Hier stände dann nicht notwendigerweise ein bestimmtes technisches Können am An­fang, sondern die Ausbildung des Menschen gründete in einer Spontaneität, die am Ende als Mysterium zu verstehen ist, »dessen Wirklichkeit nicht von einer realhistorischen (erst recht freilich nicht von einer naturgesetzlichen) Erklärung abhängt« (24).
M.-K. fasst zusammen und hält es für vorstellbar, dass »das postulierte uranfängliche Aufbrechen der ganzheitlich-menschlichen Erkenntnisdimension sich spontan bei Mitgliedern einer Hominidengrupppe ereignete, die, in ihrer praktischen Lebensweise nicht von ihren hominiden Gruppengefährten unterschieden, sich von diesen einzig abhoben durch ihr reflektierendes Bewusstsein mit einer Erkenntnisschau Gottes als Universalem, Ewigem, Allmäch-tigem, Heiligem« (24). – Es kann hier nicht darum gehen, die Sicht M.-K.s zu diskutieren bzw. zu befragen. Wichtig erscheint vielmehr zunächst, dass eine solche Sicht angesichts der sich verbreitenden, aber letztlich nicht überzeugenden naturalistischen Erklärungs­versuche zumindest zur Kenntnis genommen wird. Sie gründet schließlich in beachtlichem archäologischem Material, das vorliegt.
Die weiteren Kapitel des Buches enthalten – nicht systematisch geordnet – vielfältige archäologische Materialien, die hier nicht im Einzelnen vorzustellen sind. Wir weisen nur auf einige Punkte hin. Die geschichtliche Zäsur zu Beginn des Neolithikums ist für die Entstehung des Polytheismus und die Verhältnisbestimmung von Mono- und Polytheismus interessant (Kapitel 2: 25–33). Aufmerksamkeit verdienen auch die Beobachtungen zu den frühen Urbanisationen (Kapitel 3: 34–67), die Hinweise auf das Heilsverständnis in der Bronzezeit (Kapitel 5: 80–91), die Ausführungen über die Frauen im 13. Jh. v. Chr. (u. a. Nofretari, Debora, Fu Hao; Kapitel 8: 105–178). Analogiebetrachtungen sind anregend. M.-K. hat in vielen Teilen der Welt geforscht und kommt so immer wieder zu interessanten Nebeneinanderstellungen und Vergleichen: mediterran-mitteleuropäische Kontakte (Kapitel 9: 179–196), die Religion Roms (Kapitel 10: 197–219) und Pakistans (Kapitel 11: 220–232).
In gewissem Sinne bricht das Buch ab. Man hätte gut noch weiterlesen können. Doch 13 ist vielleicht auch für M.-K. eine heilige Zahl. Man darf für Lebensrückblicke und Forschungssummarien dieser Art dankbar sein.