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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1267-1282

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Markus Wriedt

Titel/Untertitel:

Biblische Predigt fürs Volk
Beobachtungen zu Predigten des Spätmittelalters und zu ihrer Bedeutung für die Reformation*

1. Spätmittelalterliche Predigt im Schlagschatten der Reformation


Einem Trend der Reformationshistoriographie folgend wird häufig die negative Folie der aussagelos gewordenen spätmittelalterlichen Predigt benutzt, um den hellen Schein der reformatorischen Verkündigung umso deutlicher erkennbar zu machen. Die Reformation erscheint vor dem Hintergrund einer dunklen und zu überwindenden Vergangenheit als das Herandämmern des Neuen, Hellen und Klaren. Diese Haltung ist durchaus ein Konfessionsspezifikum und gehört seit dem 18./19. Jh. zu dem stereotyp wiederholten Überzeugungsbestand historischer Forschung protestantischer Provenienz. Dass dem so nicht ist, wurde vielfach herausgearbeitet und auch in den jüngeren Forschungen zur europäischen Predigt im Spätmittelalter deutlich.1 Dennoch scheint das Bemühen um eine klare Epochenzäsur nicht nur bei allgemeinhis­torisch arbeitenden Forschern, sondern in besonderem Maße bei konfessionell beheimateten Kirchenhistorikern, insbesondere aber bei jenen, die sich mit den Entstehungszusammenhängen der Re­formation beschäftigen, intensiv weiter zu bestehen. Die Gründe dafür sind durchaus vielschichtig.

Zunächst sind es die Reformatoren selbst, die Anlass zu dieser Sicht des hinter ihnen liegenden Zeitalters geben und es als glück­lich überwundenes Altes von der in leuchtenden Farben gezeichneten Gegenwart absetzen. So auch Luther, wenn er keine Gelegenheit auslässt, das »goldene Zeitalter der Gnade«2 von den vergangenen Jahrhunderten des Verfalls und der Zerstörung abzusetzen. Auch sein eigenes Empfinden schlägt sich in gleichlautenden Formulierungen nieder, die nicht vorschnell als »Selbststilisierung«, mithin als eine mit der historischen Wirklichkeit nur partiell übereinstimmende Darstellung abgetan werden sollten.3 Vielmehr ist zunächst doch einmal davon auszugehen, dass Luther die Dinge so, wie er sie schildert, wahrgenommen hat, sie also für ihn durchaus eine Realität hatten, die im Verlaufe des kommunikativen Austausches mit anderen Zeitgenossen geteilt und ebenfalls als »wahr« empfunden wurden.

So wie aber jene Wahrnehmung der Gegenwart im Licht der Offenbarung des Evangeliums von Luther und seinen Anhängern – und Gleiches gilt natürlich auch von Zwingli, Calvin und anderen– zur Etablierung einer »evangelischen Überzeugung« und zunächst noch vagen, im Verlaufe der Entwicklung konfessioneller Strukturen aber immer fester bestimmbaren evangelischen Identität wurde, gehört eben die Adaption jener Wirklichkeitssicht zum Bestand all jener, die sich in späterer Zeit als »evangelisch« oder gar »lutherisch« bezeichneten. Eine historisch-kritische Analyse der Elemente jener konfessionellen Identität ebenso wie ihrer Entstehungszusammenhänge muss mithin als Krisis einer Glaubensüberzeugung wirken, wo aus konfessioneller Tradition oder gar in überzeugungs- und millieustabilisierender Intention ebenjene Strukturen analysiert werden. Diese Haltung ist nicht grundsätzlich zu verwerfen – die Frage, ob Geschichte als jenes zu beschreiben ist, »wie es wirklich gewesen ist«, wird seit dem Historismusstreit und im Zeitalter postmoderner Erkenntnis- und Wirklichkeitstheorien in der Regel doch eher negativ beantwortet – freilich ist im Kontext hermeneutischer Vergewisserung darüber Rechenschaft abzulegen. Und hier scheinen in der jüngsten Zeit doch etliche Veröffentlichungen es an der nötigen Sorgfalt haben mangeln lassen, den Wahrheits- und Wirklichkeitsanspruch ihrer Forschungen im Kontext ihres Forschungsinteresse kritisch zu reflektieren.

Ein dritter Aspekt scheint in diesem Zusammenhang erwähnenswert: reformationshistoriographische Arbeit ist zutiefst von methodischen Ansätzen des 19. Jh.s bestimmt. Die Rezeption neuerer Forschungsansätze wurde zwar zu keiner Zeit grundsätzlich abgelehnt, doch haben sich bisher nur wenige Fragestellungen benachbarter Disziplinen wirklich etablieren lassen. Auch wenn inzwischen niemand mehr vom deutschen Helden, dem Genius des Turmzimmers oder dem standhaften Widerständler gegen römische Suppression spricht, leuchten derartige Charakteristika immer noch in Darstellungen Luthers auf. Das hat m. E. fatale Konsequenzen. Selbst vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Luther an derartigen Stilisierungen nicht völlig unbeteiligt war, müssen diese doch aus ihrem zeitlichen Kontext heraus gesehen und ihre spätere Rezeptionsgeschichte doch ebenfalls in ihrer jeweiligen Situation und im Blick auf die aktuellen Herausforderungen erläutert werden. 4 Es ist freilich nicht allein die stete Suche nach dem »Alleinstellungsmerkmal«, um diese abgedroschene Phrase aktueller Wissenschaftspolitik einmal aufzunehmen, es ist auch das un­erschöpfliche Bemühen um das innovativ Neue, die systemsprengenden Komponenten, den epochalen Bruch im Werk der Reformatoren, was m. E. zu einem schiefen Bild führt. Nicht nur, dass Luther und mit ihm die meisten seiner Anhänger ebenjenen Aspekt innovativer »Neuerungen« entschieden zurückwiesen, 5 es wäre auch zu fragen, warum ein mit Reformation etikettierter Prozess in seinem Bemühen, die vergangenen Idealzustände früherer Kirchlichkeit wieder herzustellen, denn nun mit einer gewissen Ausschließlichkeit im Fokus seines Innovationspotentials interpretiert werden muss. Dass in der Folge der Reformation zahlreiche innovative Entwicklungen entstanden, bleibt davon völlig unberührt. Worum es freilich geht, sind die Intention ihrer Hauptvertreter und ihr Selbstverständnis. 6 Letzteres ist doch nun gerade nicht von dem Bemühen getragen, etwas Neues vorzutragen und mit revolutionärer Sprengkraft auf die vorfindliche Wirklichkeit einzuwirken, sondern vielmehr in einem weitgehend behutsamen Reformationsgeschehen den durch Neuerungen der römischen Kirche verfremdeten Glauben sowie seine depravierte Praxis im Blick auf dessen Ursprungssituation zu restituieren.

In dieser Perspektive werden im Folgenden nach einer knappen Übersicht zur Verkündigung im Spätmittelalter zwei Prediger behandelt, die seit Längerem als »vorreformatorische« Wegbereiter des Aufbruchs in Wittenberg, Zürich oder Genf gewürdigt wurden. Weniger deren sich andeutende Ablösung von einem als vorherrschend betrachteten Trend spätmittelalterlicher Verkündigung als vielmehr ihre enge Verbindung zur vorherrschenden Tradition gilt es, sichtbar zu machen und in die gegenwärtige Spätmittelalter- und Reformationshistoriographie einzutragen. Dass die Betrachtung von weitaus mehr und anderen Predigern möglich gewesen wäre, versteht sich von selbst. 7

2. Die spätmittelalterliche Predigt


Im 13. und 14. Jh. nimmt die in handschriftlichen Zeugnissen be­legte Predigttätigkeit in außergewöhnlichem Maße zu.8 Die Gründe dafür liegen gleichermaßen in den sozio-politischen wie in den theologischen Entwicklungen jener Zeit: die ökonomische Prosperität seit und infolge der Kreuzzüge, die rapide Bevölkerungsentwicklung, mit der die Agrarproduktion mithalten kann, gleich­- zeitig die Entwicklung der Städte mit der Akkumulation von Menschen, Kenntnissen, Wirtschaftskraft und neuen Methoden wirtschaftlicher Entwicklung9 sowie schließlich die Ausbildung von Universitäten10 und die Entstehung der Mendikantenorden11. Die soziale Entwicklung macht eine Ausweitung und neue Formen der Seelsorge und auch der Verkündigung notwendig.12 Im Blick auf den deutschsprachigen Raum kann von einer signifikanten Förderung der Pfarrpredigt gesprochen werden.13 Eine Regelung der Predigtpraxis erfolgte im Zuge der kirchlichen Reformbewegungen anlässlich des 4. Laterankonzils unter Papst Innozenz III.14

In dessen Folge wird die für das Spätmittelalter wichtige Trennung von Predigt und Messliturgie zementiert: War das Recht zur Predigt im Mittelalter dem Bischof vorbehalten und konnte (nur) von diesem auf andere, in klarer Subordination befindliche Kleriker delegiert werden, kommt es seit 1250 in Ausweitung der klösterlichen Sonderrechte zur Verlegung der Predigtaktivitäten vor allem in die Ordenskirchen der neu gegründeten Mendikantenorden.15 Der für diese Orden explizite Predigtauftrag nötigte zu einer theoretischen Durchdringung der homiletischen Praxis.16

Ohne die in zahlreichen Einzeluntersuchungen noch zu be­schreibende Vielfalt spätmittelalterlicher Predigt nivellieren zu wollen,17 seien im Folgenden einige Charakteristika herausgearbeitet – freilich weder mit dem Anspruch auf den Nachweis ihres innovativen Potentials noch auf deren Vollständigkeit.18 Dabei mag zunächst einmal dahingestellt bleiben, inwiefern die Mendikanten einen ›neuen‹ Predigtstil initiierten.19 Wichtiger scheint die insgesamt positive Wahrnehmung ihrer Predigt in breiten Schichten der Bevölkerung.

Die Predigten folgten in der Regel einem einheitlichen Aufbau: Einem Stemma analog wird der Text (Thema) als Ausgangspunkt (Stamm) eines dreifach ausgegliederten Astwerkes gesehen: Prothema, Praelocution und Dilatation. Ergänzt werden kann diese Gliederung entweder durch eine erneut zu vollziehende Dreiteilung innerhalb der jeweiligen Abschnitte oder aber durch die ergänzende Erwähnung von biblischen oder kirchlichen Autoritäten.

Theoretisch wurde dieser Ansatz reflektiert: etwa in der Summa de arte praedicandi des Thomas von Salisbury, bei Thomas Waley und Robert of Basevorn.20 Sowohl die Beispielsammlungen als auch die Predigthilfen des Spätmittelalters zielen im Wesentlichen auf die Spannung zwischen Bußruf und Evangeliumsverkün­digung.21 Allen Predigten gemeinsam ist die handlungsorientierende22 und/oder moralische Fokussierung des Themas.23 Bemerkenswert ist hierbei allerdings die Beobachtung einer graduellen Akzentverschiebung innerhalb dieses theologischen Rahmens: Betont die Mendikantenpredigt im Zeitalter wirtschaftlicher Prosperität, wachsender Städte und eines signifikant verbesserten Le­bensalltags verstärkt die Notwendigkeit tätiger Reue, so ist seit der sog. »kleinen Eiszeit« zu Beginn des 15. Jh.s24 deutlich zu be­merken, dass der individuelle Trost und Gnadenzuspruch stärker ins Zentrum rückt.

Versuche, die Vielfalt der spätmittelalterlichen Predigt systematisch zu kategorisieren, scheitern in der Regel an der wenig dienlichen, weil anachronistischen Terminologie und Systematik. Folgt man hingegen Alanus ab Insulis, lässt sich eine präzise Definition des scholastischen Verständnisses einer Predigt festhalten: Predicatio est manifesta et publica instructio morum et fidei, informationi hominum deserviens ex rationum semita auctoritatum fonte proveniens.25 In ihrer populären Form erlangen Predigten seit der zweiten Hälfte des 13. Jh.s steigende Bedeutung. Die Fülle scholastischen Wissens wird jedoch auf moralische Anwendung (Handlungsorientierung) reduziert und eine große Zahl von Beispielen (exempla) bestimmt die traditionellen Formen der Auslegung.

Die steigenden Anforderungen an die Prediger stehen in Wechselwirkung mit den Ausbildungsangeboten der Universitäten. Waren schon die Generalstudia der Mendikanten wesentlich auf die Ausbildung eines gelehrten Predigtklerus ausgerichtet, so reagierten nun auch die Weltkleriker mit einer verstärkten Nachfrage an den Universitäten auf diese Konkurrenz. In der Folge entstand eine universitär gebildete Gruppe von Weltklerikern, deren Elite das geistige und pastorale Klima bestimmte.26 Zweifelsfrei beeinflusste die aktuelle theologische Diskussion auch das homiletische Verfahren – kaum hingegen jedoch die im Zuge der Scholastik entwickelte Methodenreflexion. Allein das Verfahren, komplexe Vorgänge zu entfalten, indem sie in kleinere, überschaubare Sach­-zusammenhänge aufgespaltet werden, dürfte die scholastische Dialektik mit dem homiletischen Differenzierungsprogramm verbinden. In der bisherigen Forschung werden die exegetischen Studien und ihr Niederschlag in der konkreten homiletischen Praxis kaum thematisiert. Dabei dürfte es alles andere als selbstverständlich sein anzunehmen, dass sich die Ausführungen in exegetischen Handbüchern und Kommentaren tatsächlich im konkreten Vollzug der täglichen oder wöchentlichen Predigt niederschlagen. 27

3. Biblisch orientierte Predigt am Vorabend


der Reformation


a) Geiler von Kaysersberg


Im Advent 1495 hielt Johann Geiler28 eine Serie von Predigten in der Kapelle des Klosters der »bußfertigen Schwestern«.29 Obwohl die Konventskapelle wohl der Klausur unterstand, dürften sich zahlreiche Hörer aus den umliegenden Wohngebieten eingefunden haben. War doch die Bewegung der devotio moderna für ihre Of­fenheit bei der Verkündigung des Evangeliums bekannt. Im Kontext eines wachsenden Rufes nach einer Reform des Ordenslebens entwickelt Geiler seine Auslegung als einen Prozess, den der Christ zu durchlaufen hat: Zunächst sind die Wünsche und Begierden des natürlichen Menschen zu töten. Der erste der insgesamt vier Sermone beginnt mit ebendieser Forderung nach Abtötung der natürlichen Begierden. Geiler unterscheidet zwischen dem physischen Tod, dem ewigen Tod und den Todeserfahrungen, wenn ein Mensch der Todsünde verfällt bzw. stirbt, um der Sünde zu verfallen. Grundlage seiner Auslegung ist Ps 116,15: »Der Tod seiner Heiligen ist wertgehalten vor dem Herrn«, wobei nicht recht klar ist, ob dieser Text im Rahmen des liturgischen Formulars vorgeben war oder von Geiler frei gewählt wurde. Auch ist die Akzentuierung des Todes, um zu sündigen, nicht frei von zeitbedingter Textunabhängigkeit. Wichtig erscheint allerdings die mystisch anmutende Quintessenz auf das Absterben des Frommen gegenüber den weltlichen Versuchungen: So, wie der Tote keine Kontrolle mehr über seinen Körper hat, so hat der Devote keinen eigenen Willen mehr, keine Wünsche und Begierden. Er ist völlig von Gott abhängig. 30

Die zweite Predigt wendet sich der Unterscheidung von Natur und Gnade zu. Den Vers Mt 3,10: »Die Axt ist dem Baum an die Wurzel gelegt« allegorisiert Geiler mit der Behauptung, dass die menschliche Seele zwei Wurzeln habe, die der Natur und die der Gnade. Aus ihnen gehen alle Handlungen des Menschen, die guten wie die bösen, hervor. In insgesamt 40 Distinktionen führt Geiler nun eine Meditation des scholastischen Grundthemas durch. Er­neut betont er die Notwendigkeit der radikalen Abtötung aller gottfeindlichen und vom eigentlichen Ziel entfernenden Handlungen und Wünsche. Eine moralische Ausrichtung der Auslegung ist unübersehbar. Sie verdrängt die christologische Botschaft des Evangeliums zugunsten der Handlungsorientierung.

Diese Tendenz ist auch in der dritten Predigt zu Sir 3,27 »Das verhärtete Herz wird ein böses Ende am letzten Tage finden« un­übersehbar. Geiler erläutert insgesamt 19 Zeichen eines verhärteten Herzens. Neben der Phänomenologie wendet er sich allerdings auch einer Interpretation von Anfechtungen und Nöten zu, die einerseits aus der Herzensverhärtung resultieren und andererseits dazu dienen, diese aufzulösen. Die Interpretation wird durch etliche Anspielungen und Zitate aus den Vätern und der Schrift selbst ergänzt.

Die Härte des Herzens und Wege zu ihrer Auflösung bilden schließlich auch den thematischen Schwerpunkt der letzten Predigt. Erneut werden ausführlich Autoritäten der Tradition, diesmal Thomas von Aquin und Bernhard, zitiert. Die Verstockung findet diesmal ihren Ausgangspunkt bei der Geschichte der Versto­ckung Pharaos. Freilich ist ebendieser das moralische Beispiel da­für, wie durch aufrichtige Reue und wahre Buße das Heil dennoch erworben werden kann. Die Predigtreihe kommt zum fulminanten Schluss in der Bußaufforderung des Propheten Joel 2,12: »Kehrt um zu mir mit ganzem Herzen und reinigt Eure Herzen und nicht Eure Gewänder«. Die Gemeinde soll sich zum Evangelium und zu bußfertiger Gesinnung bekehren. Zahlreiche Konkretionen des Ausdrucks dieser Gesinnung werden geboten.

Geiler steht erkennbar in der Tradition der franziskanischen Predigt.31 Doch nicht nur die systematische Nähe zu Ockham, Gerson und teilweise auch Biel ist zu sehen, sondern es steht auch die grundsätzliche Ausrichtung auf eine zur Buße mahnende, gesellschafts- und wirtschaftskritische Auslegung der Evangeliumsbotschaft in dieser Linie. Aus späterer Sicht könnte die Betonung der Handlungsnotwendigkeit für den Menschen in Folge des Gnaden­empfanges durchaus als semipelagianisch eingeschätzt werden.32 Doch wird das dem Kontext von Geilers Predigten, der städtischen Kultur Straßburgs am Ende des 15. Jh.s, nicht gerecht. Lag doch der Fokus erkennbar auf anderen seelsorgerlichen Phänomenen, als sie von den späteren Reformatoren wahrgenommen wurden. Sein An­liegen ist die evangeliumsgemäße, durchaus an der Schrift und in ihrem Licht auch an der Vätertradition entfaltete Bußpredigt. Sie trug ganz entschieden zu seinem »Erfolg« bei und sollte daher un­abhängig von der Tatsache gewürdigt werden, dass später Luther und andere Menschen durch ebendiese Bußforderung zutiefst angefochten wurden. 33 Die bürgerliche Gesellschaft der Reichsstadt Straßburg offenkundig aber nicht. Es ist wohl die in fran­-ziskanischer Tradition formulierte konkrete Handlungs­anwei­sung,34 welche die Hörer in besonderer Weise ansprach: Sie wuss­ten anschließend schlicht, was zu tun und was zu lassen ist.

Die akzentuierte Bußpredigt hindert Geiler freilich nicht, die Gnade und Barmherzigkeit Gottes, seinen unbedingten Erlösungswillen gegenüber den durch Buße und Sündenangst Angefochtenen deutlich zu artikulieren. Das unterscheidet ihn nicht nur von radikalen Bußpredigern wie Savonarola in Florenz, sondern lässt erkennen, dass die in der späteren reformatorischen Kritik behauptete Ausschließlichkeit der semipelagianischen Rechtfertigungslehre nicht vorlag. Vielmehr bieten die Predigten Geilers das ganze Panorama der scholastischen Gnadenlehre. Christi Leiden wird zur Grundlage menschlicher Hoffnung und Zuversicht. 35 Allerdings fehlt die später akzentuierte radikale Infragestellung menschlicher Handlungsfähigkeit. Vielmehr wird diese durch den Verweis auf Christi Heilshandeln noch herausgefordert.

Es ist jenes ausbalancierte Verhältnis von Gnade und Handlungsforderung gegenüber dem Menschen,36 das Geiler in die Reihe der spätmittelalterlichen Prediger stellt und ihn zugleich in seiner Akzentuierung der Buße als – wiewohl dem säkularen Klerus zugeordnet – Vertreter der franziskanischen Predigttradition auftreten lässt. Dieser Traditionszusammenhang ist exemplarisch auch für einen anderen Prediger des Spätmittelalters nachzuweisen.

b) Johann von Staupitz


Die Bedeutung des sächsischen Adligen, Diplomaten und Ordensmannes Johann von Staupitz37 wurde der Nachwelt in besonderer Weise im Urteil seines Ordensbruders Martin Luther vermittelt. Freilich war die hilfreiche Zuwendung von Staupitz nicht auf den jüngeren Ordensbruder beschränkt. Vielmehr ist die außer­-gewöhnliche Hochachtung, die seine Zeitgenossen dem General­-vikar der observanten Augustinereremitenkongregation entge-gen­brach­ten, zum größten Teil in seiner menschlichen Integrität und seinem seelsorgerlichen Wirken in Predigten und persönlicher Begegnung begründet. Freilich entzieht sich dieses weitgehend der historischen Rekonstruktion, weil die Gespräche in der Regel nicht festgehalten wurden und die weitverstreute Korrespondenz auch nur einen geringen Teil der für die Gesprächs- und Korrespondenzpartner wichtigen und hilfreichen Momente wiedergeben. So sind es in der Hauptsache Predigten, die ein freilich eingeschränktes Bild von der Weite und Tragfähigkeit des seelsorgerlichen An­satzes von Staupitz gewinnen lassen.

Auf Einladung des Nürnberger Ratskonsulenten Christoph Scheurl, mit dem er seit dessen Promotion in Bologna bekannt war, hielt Staupitz im Advent 1516 in der Augustinerkirche eine Reihe von Predigten, die aufgrund ihrer großen Resonanz, die sie bei den Hörern gefunden hatten, wenige Tage nach Neujahr 1517 im Druck erschienen.38 Bereits das literarische Genre lässt ein stärker seelsorgerliches, vorwiegend an den ethischen Problemen der Zuhörerschaft orientiertes Interesse der Auslegung vermuten. Staupitz macht mit dem Titel der lateinischen Predigtsammlung Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis deutlich, dass er mit den folgenden 257 Paragraphen eine Darstellung der Fragen und tröstenden Antworten vorlegt, die im Umgang mit der Prädestinationslehre entstehen. Es geht um die »entliche Volziehung« (exsecutio) der ewigen Prädestination; gemeint sind die lebenspraktischen Konsequenzen dieser Lehre. Staupitz beschreibt die göttliche Erwählung als universalen Heilsprozess und gliedert seine Darstellung in zwei große Blöcke: Der erste, stärker dogmatisch orientierte Teil handelt von jenen Dingen, »die zu der Seligkeit notwendig und zu Erlangung derselben notwendig zu glauben sein«. Der zweite, mehr seelsorgerlich ausgerichtete Abschnitt beinhaltete den Trost, der aus dieser Lehre folgt, und die praktischen Konsequenzen für ein Leben unter und mit dieser Lehre. Wie Lichtstrahlen durch eine Linse gebündelt erscheinen im Verlauf der Predigten die zentralen Topoi der klassischen Dogmatik von der Gotteslehre bis hin zur Eschatologie und werden im Blick auf die Erwählungslehre in christologischer Akzentuierung interpretiert. Die dogmatische Aussage findet ihre Erklärung im Miteinander von christologischer und seelsorgerlicher Predigt zum Trost der geängsteten Gewissen.

Eine weitere Sammlung von Adventspredigten aus dem Jahre 1517 veröffentlichte Staupitz unter dem Titel »Von der Liebe Gottes«.39 In 20 Unterabschnitten beleuchtet der Augustiner darin die Frage der Gottesliebe. Er beginnt mit dem Gebot, Gott über alle Dinge zu lieben, und stellt die Unerfüllbarkeit dieser Forderung für den Menschen fest. Staupitz löst die Problematik unter Rück­griff auf die Pneumatologie und die Erwählungslehre: Der Heilige Geist ist es, der die Liebe zu Gott in die Herzen der Menschen senkt. Allerdings ist es Gottes freie Gnade, die verfügt, wer in welchem Ausmaß der Einwohnung des Geistes teilhaftig wird. Staupitz re­kurriert dazu auf eine allen Dingen schöpfungsmäßig inhärente Ordnung, die freilich nur Gott völlig offenbar ist. Stärker noch als die Nürnberger Predigten sind die Münchner Adventspredigten von Schriftzitaten insbesondere aus den Paulusbriefen geprägt.

Aus den Jahren 1517 bis 1520 sind erneut zahlreiche Predigtmitschriften erhalten. In ihnen setzt Staupitz die theologischen Ak­zente wie bereits zuvor. Im Zentrum steht das Zeugnis der Schrift, die Autoritäten der Tradition treten völlig zurück. Tenor nahezu aller Auslegungen ist der Trost der geängsteten Gewissen aus der Offenbarung des Versöhnungs- und Erlösungswillens Gottes im Leiden und Sterben Jesu Christi. Stärker als in frühen Jahren betont Staupitz das Wirken Gottes verborgen unter dem Gegensatz, die Alleinwirksamkeit Christi bei der Erlösung und des Heiligen Geis­tes beim Trost und in den Werken der Liebe sowie die faktische Unfreiheit des menschlichen Willens. Auffällig ist ein explizit antipelagianischer Akzent: Staupitz wendet sich gegen jegliche Mitwirkung des Menschen zu seinem Heil. Allein das Sündenbekenntnis und die Bitte um Vergebung sind sein Teil. Deutlich fällt in diesem Zusammenhang seine Polemik gegen die »eitle Wundenme­ditation«, d. h. eine selbstgefällige und auf die eigene Leistung konzentrierte Reflektion der persönlichen Nachfolgebereitschaft, und den Ablass aus.

Staupitz war ein von tiefer Frömmigkeit geprägter Mensch, der sich der Not seiner Zeitgenossen nicht verschließen wollte oder gar konnte. Sein seelsorgerliches Handeln ist zwar theologisch reflektiert und begründet, gleichwohl fehlen weitgehend theoretische oder allgemeine Geltung beanspruchende Überlegungen. Die Seelsorge von Staupitz speist sich aus der persönlich erfahrenen Geborgenheit in der Liebe Gottes und dem unerschütterlichen Wissen um die Barmherzigkeit des Schöpfers. Zumeist wendet sich der Augustiner dem einzelnen Menschen in seiner individuellen Not und in dem für ihn persönlich wirksamen Kontext zu. 40 Stets rücken das Vorbild Christi und die Forderung an alle Menschen, sich ihm nachzubilden, in den Mittelpunkt der tröstenden Überlegungen. Er setzt dabei den Anfechtungen konkrete Bilder und Vorstellungen entgegen. Sein Trost besteht in dem immer neuen Hinweis auf die Überwindung des Todes in Jesus Christus.

Zahlreiche zeitgenössische Bilder und Motive lassen sich in seinen trostspendenden Äußerungen aufspüren. So weist das mystische Motiv der Gelassenheit auf einen für das Bildmaterial der seelsorgerlichen Theologie von Staupitz bestimmenden Traditionsstrang.41 Das ganze 12. Kapitel ist der »endlichen Gelassenheit« gewidmet und das 13. Kapitel beschreibt in einem 15-stufigen Aufstiegsschema, wie der Durst nach Gott, den der Sterbende empfindet, gestillt werden kann. Freilich beschränkt sich Staupitz in seiner Seelsorge nicht auf den mystischen Rat der Gelassenheit, sondern fordert als Vorbereitung des Christen auf seinen Tod erstens das Lobopfer Gottes und seiner Barmherzigkeit – interessanterweise nicht das Sündenbekenntnis –, zweitens die Ruhe in Gott und drittens die Zuversicht in Gottes barmherzigen Heilsratschluss. Damit schließt die Sterbetrostschrift.

Wesentlich stärker als die Problematik des Objektes der Seelsorge wird von Staupitz der Umgang zwischen Subjekt und Objekt seines theologischen Bemühens thematisiert. Es geht um den modus loquendi, in dem die seelsorgerliche Eigenart sichtbar wird. Die unbestreitbare Tatsache des außergewöhnlichen Predigterfolges von Staupitz ist nicht auf sein systematisches Profil zurückzuführen. Ein Großteil seines theologischen Gedankengutes ist gleichzeitig mit ihm und vielfach lange vor ihm in prononcierterer Form von anderen Theologen vorgetragen worden. Die antipelagianische Gnadenlehre wurde im Spätmittelalter ebenso wenig vergessen wie die Unterordnung des menschlichen Willens unter Gottes Offenbarung und Gebot. Die Christusfrömmigkeit bestimmter Strömungen der mittelalterlichen Theologie steht ebenfalls der seinen in nichts nach. Selbst die Aufnahme der Erfahrungswirklichkeit des Menschen in die theologische Reflexion ist kein Proprium des beginnenden 16. Jh.s oder gar einer bestimmten Schule innerhalb des Augustinerordens. Alles in allem ist die Besonderheit und Einzigartigkeit von Staupitz systematisch-theologisch nicht zu charakterisieren. Vielmehr ist diese von dem seelsorgerlichen Ansatz der Predigten her zu verstehen.

In erster Linie ist hier eine gewisse »Existentialisierung« der Schriftauslegung und des meditativen Umganges mit theologischen Fragestellungen zu nennen. Darunter soll die Aufnahme der individuellen Erfahrung des sich im Prozess des Glaubens befindenden Menschen verstanden werden. Allerdings geht es bei Staupitz nicht um die Verifikation biblischer oder traditioneller Aussagen im Lichte der Erfahrung, sondern um die Brechung und Artikulation persönlicher Glaubenserfahrung im Lichte der Heiligen Schrift. Insbesondere der Anfechtung des Glaubens misst Staupitz dabei große Bedeutung zu. Akzentuierter als in anderen spätmittelalterlichen Traditionen des 13. und 14. Jh.s macht Staupitz einerseits die persönliche Erfahrung und Frömmigkeit zum Ausgangspunkt seiner Überlegung. Aber stärker wird andererseits die Schrift in christozentrischer Auslegung zum Maßstab der Formulierung möglicher Lösungsvorschläge. Immer wieder betont Staupitz die Einmaligkeit persönlicher Erfahrungen, ihre prinzipielle Inkompatibilität und die Tatsache, dass sie sich im Grunde kaum vermitteln lassen. Entsprechend gering schätzt er ihre Bedeutung im Kontext theologischer Normfindung und -begründung, umso höher aber bei der Behandlung der Fragen des Glaubensalltags.

Charakteristisch für Staupitz’ Vorgehen ist seinVersuch, Mo­-mente der Gnadenzuwendung Gottes im Leben eines getauften, aber von der erfahrenen Abwendung Gottes angefochtenen Menschen nachzuweisen. Diese signa caritatis – die Liebe selbst wird bereits als Folge der Gnadenzuwendung Gottes verstanden – werden nicht, wie man erwarten könnte, an den traditionellen Tugendkatalogen im Gefolge der scholastischen Summenkommentare entwi­ckelt, sondern in der allegorischen Auslegung von Mk 16,17 f.

Mit der Betonung der individuellen Glaubenserfahrung kommt eine gewisse Akzentuierung des frommen Individuums in den Blick. Freilich wird sie bei Staupitz noch stärker als bei späteren Theologen des 16. Jh.s im sakral-institutionellen Kontext verankert. Konkret: Der Behandlung der signa caritatis geht die Sakramentenlehre in Form einer Allegorese der sieben Sakramente als signa infallibilia amoris Dei logisch voran. Für den Mönch und Theologen Staupitz ist die Existenz des Christen außerhalb der Gemeinschaft anderer Christen, mithin außerhalb der Kirche, undenkbar. Freilich ist die Ekklesiologie des Augustiners von einer unübersehbaren Tendenz zur Verinnerlichung und Individualisierung bzw. Spiritualisierung geprägt. Das wird besonders deutlich, wenn man sich die häufige Verwendung von Motiven der Braut- und Ehemystik vor Augen hält, die Staupitz zur Illustration seines Ansatzes verwendet. Im Unterschied zu der traditionellen Deutung der Braut im Hohelied als der Gemeinde, wie sie seit Origenes vertreten wird, versteht Staupitz sie im Gefolge Bernhards von Clairvaux auch als die fromme Einzelseele. Die Ehe Christi mit seiner Braut wird gleichermaßen zum Bild der Verbindung Christi sowohl mit der Gemeinschaft der Getauften als auch mit jedem einzelnen Christen. Die Kirche wird zum Ur- und zum Abbild: Abbild der Beziehung Christi zur gläubigen Einzelseele, welche die Liebe des Vaters zum Sohn widerspiegelt, und Urbild der Liebesgemeinschaft zwischen den Ehepartnern. So dient der Einzelne der Gemeinschaft, indem seine Gottesbeziehung die ihre konstituiert. Die Kirche vertritt aber auch den Einzelnen im Falle bestimmter Defizite seines Glaubens. Von entscheidender Bedeutung ist, dass dieses Verhältnis von Christus aufgebaut und erhalten wird. Die Seele selbst kann dazu nichts beitragen. So hält Staupitz auch in der Ekklesiologie seine christozentrische Gnadenlehre durch.

Die Brechung der alltäglichen menschlichen Erfahrung im Licht der biblischen Botschaft von der freien, unbedingten Gnade Gottes, seiner Barmherzigkeit, sowie der allein in Christus geschehenen Versöhnung mit der gefallenen Schöpfung und die daraus resultierende prinzipielle Offenheit für das Anliegen seiner angefochtenen Mitmenschen machen die außergewöhnliche Bedeutung Johanns von Staupitz aus. Sie liegt in der kontextbezogenen, auf den Einzelnen und seine geistliche Not ausgerichteten Vermittlung bestimmter Antworten und Argumentationsmuster der Heiligen Schrift und der theologischen Tradition. Die seelsorgerliche Vermittlung lebt nun allerdings in gleichem Maße von den Inhalten wie von dem modus loquendi, in dem sie geschieht. Bei Staupitz zeichnet sich dieser aus durch eine eigentümliche Verbindung von biblischer Terminologie und Denkweise mit einem weitgehend unstrukturierten Konglomerat an Traditionsstücken, welches seine Kontur erst durch die biblische Argumentationsstruktur und eine aus ihr gewonnene Frömmigkeit gewinnt.

c) Zum Problem der volkssprachlichen Predigt


Johann von Staupitz hat vor einem wohl als ›Hörergemeinde‹ zu bezeichnenden Publikum gepredigt. Er war als prominenter Gastprediger sowohl in Nürnberg als auch in Salzburg bekannt. Seine Predigten hat er in deutscher Sprache gehalten. Sie sind nicht erhalten, wohl aber Nachschriften von Hörern, die entweder simultan oder nachträglich ins Lateinische übersetzt wurden.42 Zahlreichen anderen Publikationen von Staupitz dürften ebenfalls Predigten zugrunde liegen.

Die meisten Predigten des Spätmittelalters waren im Verlauf ihrer Verschriftlichung einer erheblichen Redaktion ausgesetzt.43 Nur in wenigen Ausnahmen sind authentische Vorlagen oder aber detaillierte Berichte über ihren Vortrag erhalten. Es stellt sich mithin die Frage, ob das literarische Phänomen der Predigt des Spätmittelalters im Sinne einer literaturgeschichtlichen Typologie überhaupt erfasst werden kann. Möglicherweise wird nicht viel mehr als die Analyse von mehrfach überarbeiteten, übersetzten und redigierten Manuskripten übrig bleiben, deren ursprüngliche Gestalt nur in einem hypothetischen und reichlich spekulativen Reduktionsverfahren erschlossen werden kann.

Solange die Predigt in lateinischer Sprache entweder einem ausgewählten Fachpublikum (Klerus, Konvent, gebildete Bürger etc.) oder aber einem weitgehend ungebildeten Publikum zugemutet wurde, dürfte ihr keine besondere Wirkung beigemessen werden können. Insofern kommt den volkssprachlichen Predigten eine ungleich größere Bedeutung zu, bleibt sie doch nicht den gebildeten Eliten vorbehalten. Nicht nur im Sinne des missionarischen Werbens, sondern auch und vor allem zur Etablierung dogmatischen, i. e. heilsverbindlichen Wissens und zur Implementierung erwünschten Verhaltens ist hier ein, wenn nicht der entscheidende Ort kirchlich-theologischer Kommunikation zu vermuten. 44 Von Anfang an dürfte die Predigt in volkssprachlicher Form Anwendung gefunden haben.45 Im Hochmittelalter setzte, wie bereits erwähnt, eine Verdrängung der Predigt aus dem gottesdienstlichen Geschehen ein, die häufig dazu führte, dass im eigentlichen Gottesdienst die sakramentale Feier der Eucharistie im Zentrum stand und die Predigt entweder ganz ausfiel oder an den Rand gedrängt wurde. Die Orte mittelalterlicher Predigt waren außerhalb des Gottesdienstes zu suchen, bei religiösen Praktiken aller Art (Wallfahrten, Heiligenfesten und den damit verbundenen Versammlungen, Predigtreisen von Vertretern kirchlicher oder auch kirchlich marginalisierter Vereinigungen etc.) aus unterschiedlichen Anlässen (erneut Wallfahrten, Reliquienkulten, Ablasskampagnen etc.). Hinzu dürften eher individual ausgerichtete Gelegenheiten kommen, an denen katechetisches Handeln einsetzt: Bußsakrament und lebensbegleitende Maßnahmen, Katechese als Taufvorbereitung bzw. im Verlauf des Rekonziliationsprozesses reuiger Sünder, Jugendkatechese etc.

Es sind nicht allein die mangelnden Quellen, sondern auch das ihnen aufgezwungene Interpretationsmuster, welche einen erfolg­reichen Abschluss zahlreicher Untersuchungen bis heute verhindert haben.46 Als Beispiel sei hier auf die schlicht unausrottbare Behauptung verwiesen, dass die in den Niederlanden gegründete und rasch bis ins Innere des Alten Reiches vordringende reformorientierte Bewegung der devotio moderna insofern zu den vorreformatorischen Kräften zu zählen sei, als sie nicht nur den Laien die fleißige Lektüre der Bibel nahelegte, sondern darüber hinaus durch praktische Lebensführung, vor allem aber ein hohes, wenig hierarchisches Bildungsverhalten zur Implementierung evangelischen Gedankengutes in weiten Kreisen der Bevölkerung beitrug. So wa­ren es wiederum »protestantische Pfarrer und Theologen, die im 19. Jh. die wissenschaftlich-historische Erforschung der devotio moderna initiierten und grundlegten«.47 Dass die devotio moderna in erheblichem Maße zur spätmittelalterlichen Buchproduktion48 und auch zu einer Verbesserung des Bildungsstandes der Laien beigetragen hat, steht außer Zweifel.49 Freilich konnte Nikolaus Staubach nachweisen, dass das Engagement für den Laienstand durchaus seine Grenzen fand. In einer subtilen Analyse des Trak­-tates de libris teutonicalibus50 von Gerhart Zerbolt von Zutphen vermag er nachzuweisen, dass dieser der volkssprachlichen Verkündigung und einer umfassenden Laienbildung keineswegs das Wort redete.51 Die insgesamt aus zwei Teilen bestehende Schrift wirft ein bezeichnendes Licht auf eine offenkundig im 14. und 15. Jh. virulente Diskussion. In ihrem ersten Teil behandelt sie die grundsätzliche Befürwortung der Laienlektüre und wendet dabei durchaus juris­tisch-dialektische Fähigkeiten an, den spröden kirchenrechtlichen Texten die eigene Position aufzuzwingen. Der zweite Teil hingegen erläutert »die Beschränkungen, denen sie [sc. die Laien] sich zu unterwerfen haben«. 52 Dabei geht es, wie Staubach betont, um Unterweisung und Belehrung. In mehrfacher Untergliederung werden Schriften aufgeführt, die für die Laienlektüre ungeeignet sind. Interessant sind dabei die zwei Modi, in denen theologische Fragen behandelt und vermittelt werden sollten: »Während die Gelehrten sich in subtiler Disputation um ein eindringes Verständnis bemühen dürfen, müssen sie den Laien in lapidarer Formulierung zur fraglos glaubenden Hinnahme präsentiert werden.« 53 Die lapidare Formulierung erfährt aber eine durchaus le­bens- und frömmigkeitspraktische Zuspitzung. Es gilt nämlich, das Interesse der Lektüre bevorzugt auf jene Dinge zu richten, die dem Glauben, dem Handeln, dem Leben und dem Beispiel der Heiligen gewidmet sind. Nicht nur erklingt der biblische Dreiklang von Glaube, Liebe, Hoffnung in einer praktischen Anwendung, sondern auch das Leben der Heiligen wird gleichsam diesen Aspekten subsumiert. Entscheidendes Kriterium ist in jedem Falle die fraglos richtige Kirchenlehre, von der unter keinen Umständen abgewichen werden darf. Jegliche neuartige Aus­drucks- und Betrachtungsweise, die dem Entstehen abweichender oder gar häretischer Meinungen Vorschub zu leisten imstande wäre, ist abzuweisen. Vielmehr gelten das apostolische Zeugnis und seine Explikation in den verbindlichen Lehren der Kirche als Richtschnur und Maßstab. Auch hier ist also der Aspekt der Innovation, u. a. in der Zurückweisung einer Eckhart zugeschriebenen pseudepigraphen Schrift, rigoros abgelehnt.

Die Bibel wird in Predigt und Erbauung tradiert, freilich stets nach Maßgabe kirchlich approbierter Lehre, was einer tatsächlich tiefgreifenden Reform grundlegend entgegensteht. Die Kontinuität dieser Auffassung wird bestätigt durch einen Blick in die Stellungnahmen im Kontext konfessioneller Identitätsbildung etliche Jahrzehnte später: Die Mehrheit der Löwener Theologen um Johannes Latomus vertrat etwa die Meinung, dass die Gläubigen allein eine gründliche Kenntnis des Glaubensbekenntnisses, der Zehn Gebote, der notwendigen Verhaltensweisen in der Kirche und zum Sakramentsempfang sowie des Vaterunsers haben sollten. Sie können sich ganz auf die Bibellesungen und Predigten im kirchlichen Rahmen verlassen. Gleichwohl ist seit den humanistischen Forderungen nach einer volkssprachlichen Bibelübersetzung und einem freien Zugang dazu ein verstärktes Bedürfnis der Bevölkerung nach einer selbstbestimmten Bibellektüre festzustellen. Faktisch unterwerfen sich die kirchlichen Eliten diesem Druck, indem sie derar­tige Praxis nicht aktiv bekämpften.

Die vorgetragenen Beobachtungen gestatten keine zusammenfassende Ergebnissicherung. Wohl aber sind Tendenzen für die künf­tige Beschäftigung mit der spätmittelalterlichen Predigt festzuhalten.

4. Ausblick


1. Die Forschung zu spätmittelalterlichen religiösen Quellen hat sorgfältig über das erkenntnisleitende Interesse Rechenschaft abzulegen. Nicht aus der – anachronistischen – Sicht späterer Entwicklungen, sondern vielmehr aus der Perspektive ihres Herkommens sind die Differenzierungen der mittelalterlichen Frömmigkeit und Theologie zu beschreiben.

2. Etikettierungen einer nachträglich angebrachten und konstruierten Systematik sind zu vermeiden. Hingegen ist den Selbstbezeichnungen und authentischen Charakterisierungen größere Aufmerksamkeit zu widmen.

3. Die spätmittelalterliche Predigt ist vor allem anhand der Men­dikantenpredigt analysiert worden. Der Weltklerus hat sich offenkundig im Wesentlichen an den aufgrund ihrer Bildung und methodischer Fertigkeit weit überlegenen Dominikanern und Franziskanern orientiert. Eine gleichsam selbständige Predigtentwicklung der Augustiner ist nicht nachweisbar.

4. Die bereits im 14. Jh. für Florenz nachweisbare hörergemeindenspezifische Ausprägung der scholastischen Theologie akzentuiert insgesamt den individual-ethischen Aspekt der Auslegung. Dabei steht die lebenspraktische Anweisung bzw. mit ihr verbunden die mannigfaltige Kritik an herrschenden Zuständen im Sinne der Aufforderung zu ihrer Veränderung im Zentrum.

5. Es lässt sich weiterhin eine Tendenz zu stärkerer Berücksichtigung des biblischen Textes und seiner selbständigen Rezeption durch fromme, nicht klerikale Kreise erkennen. Die Reaktionen der kirchlichen Leitungseliten sind nicht nur im Blick auf das Zerrbild einer suppressiven kirchlichen Praxis, sondern vor allem auch im Blick auf die Krise religiöser Identität im ausgehenden Mittelalter hin wahrzunehmen: Die bisher fraglose Heilsmittlerschaft gerät unter Druck und damit die kirchlich-religiöse Struktur, die über lange Jahrhunderte hinweg Gesellschaft und Kultur geprägt hatten.

6. Zweifellos liegt eine christozentrische Auslegung vor, die allerdings stärker im Sinne des ethischen Vorbildes als im Sinne einer dogmatischen Durchdringung vorgenommen wird. Christus ist ohne Frage der Urheber allen Heils. Allerdings akzentuiert die spätmittelalterliche Predigt vor diesem Hintergrund stärker die Buße und Aufforderung zu einem christusförmigen Leben in konkreter Nachfolge.

7. Dies alles erlaubt nicht, die spätmittelalterliche Predigt im Schema von »traditionell scholastisch« einerseits und »vorreformatorisch« andererseits zu gewichten. Vielmehr macht gerade die lang anhaltende homiletische wie theologische Kontinuität erst deutlich, an welcher Stelle die Reformation zu selbständigen, die Einheit der abendländischen Kirche zerbrechenden Interpretationen der Heiligen Schrift kommt.

Summary


Late medieval preaching serves until today as a negative contrast to sermons of the Reformation. The article takes a closer look at the process of transmission and the great variety of a suprisingly large number of sermons from the 13th to the 15th century. Two examples of influential preaching at the eve of the Reformation show both: the biblical orientation and the close and limiting influenc of ecclesiastical doctrine. Just as one can state a certain appropriation of late medieval preaching, so one can see another balance between doctrine- and scripture-based approaches develop with Luther, Zwingli, Calvin. Future research will have to give a more detailed and differentiated account of late medieval preach­ing and sermons to illumine the uniqueness and singularity of a new generation of evangelical preachers.

*) Gekürzte Fassung eins Vortrags anlässlich der Fachgruppentagung der Sektion Kirchengeschichte der Wissenschaftlichen Ge­sellschaft für Theologie e. V. vom 14.–16.03.2008 in Brandenburg/Havel zum Thema Kommunikation des Evangeliums. Zur methodologischen und materialen Relevanz der Predigt für die Kirchengeschichtsschreibung. – In diesem Zusammenhang kann auf eine Stellungnahme zur Diskussion zur Abgrenzung des Mittelalters als einer Epoche und seiner Teilzäsuren verzichtet werden; vgl. dazu R. W. Southern: The Making of the Middle Ages, New Haven-London 1992; W. Demel: Fließende Epochengrenzen, GWU 48 (1997), 590–598; J. Le Goff: Pour un long Moyen Age, in: Le Moyen Age maintenant: Europa 61/654 (1983), 19–24; R. Herzog u. a. (Hrsg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987; Ulrich Knefelkamp: Das Mittelalter. Geschichte im Überblick, Paderborn u. a. 22003, 12–15.

Fussnoten:

1) Vgl. ergänzend zu den o. g. Beiträgen die folgende Literatur: Larissa Taylor: Soldiers of Christ. Preaching in Late Medieval and Reformation France, New York-Oxford 1992; Alan J. Fletcher: Preaching in late-medieval Ireland: the English and the Latin tradition, Colmán N. Ó Clabaigh: Preaching in late-medieval Ireland: the Franciscan contribution, beide in: Irish Preaching 700–1700. Ed. by Alan J. Fletcher and Raymond Gillespie, Dublin 2001, 56–93; Daniel R. Lesnick: Preaching in Medieval Florence. The social world of Franciscan and Dominican Spirituality, Athens-London 1989; Nirit Ben-Aryeh Debby: The preacher as Goldsmith: the Italian preacher’s use of the visual arts, in: Carolyn Muessig (Ed.): Preacher, Sermon and Audience in the Middle Ages. An Introduction, Leiden 2002, 127–153; Carolyn Muessig: Audience and Preacher. Ad Status sermons and social classification, in: Dies. (Ed.), a. a. O., 255–276; Blake Beattie: Coram Papa preaching und rhetorical community at papal Avignon, in: Muessig (Ed.): a. a. O., 63–86; Rudolf Hirsch: Printing, Selling and Reading, 1450–1550, Wiesbaden 1967; Kathrine L. French, The People of the Parish, Philadelphia 2001; Christopher Harper-Bill: The Pre-Reformation Church in England 140 0–1530, London 1989.
2) Martin Luther: An die Ratsherren … [ 1524], WA 15, 31.
3) Zu dieser Problematik vgl. Gottfried Seebaß: Ein Luther ohne Goldgrund– Stand und Aufgaben der Lutherforschung am Ende eines Jubiläumsjahres, in: Otto Hermann Pesch (Hrsg.): Lehren aus dem Lutherjahr. Sein Ertrag für die Ökumene, München/Zürich 1984, 49–85; die Differenz von Selbststilisierung und Monumentalisierung Luthers aufnehmend Volker Leppin: Von der Renaissance zur neuen Nüchternheit? Lutherforschung im 20. Jahrhundert, in: Luther 75 (2004), 69–80; ders.: Von Sturmgewittern, Turmstuben und der Nuss der Theologie. Martin Luther (1483–1546) zwischen Legende und Wirklichkeit, in: Peter Freybe (Hrsg.): Wittenberger Lebensläufe im Umbruch der Reformation. Witten­berger Sonntagsvorlesungen 2005, Wittenberg 2005, 11–27; ders.: Martin Luther, Darmstadt 2006; ders.: Die Monumentalisierung Luthers. Warum vom Thesenanschlag erzählt wurde – und was davon zu erzählen ist, in: Joachim Ott u. Martin Treu (Hrsg.): Faszination Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion, Leipzig 2008 (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 9), 69–92.
4) Vgl. dazu etwa Bernd Moeller: Das Berühmtwerden Luthers, wiederabgedruckt in: Ders.: Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, hrsg. von Johannes Schilling, Göttingen 2001, 15–41.
5) Vgl. dazu Markus Wriedt: Theologische Innovation und konservatives Beharren bei Martin Luther und Philipp Melanchthon, in: Werner Zager (Hrsg.): Luther und die Freiheit, Darmstadt 2010, 59–80.
6) Vgl. zu diesem methodischen Ansatz Quentin Skinner: Visions of Politics. Vol. 1: Regarding Method, Cambridge 2002; Skinners weitestgehende Vernachlässigung religiöser Fragen wird jetzt korrigiert in: Seeing Things their Way. Intellectual History and the Return of Religion, ed. by Alister Chapmann, John Coffey, and Brad S. Gregory, Notre Dame 2009; zur Cambridge School of History siehe jetzt auch Martin Mulsow (Hrsg.): Die Cambridge School moderner Ideengeschichte, Berlin 2010.
7) Hierzu sei nur verwiesen auf Johannes von Paltz, vgl. dazu Berndt Hamm: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982; sowie die seit 1983 von Christoph Burger verantwortete Edition seiner Werke; oder auf Eberlin von Günzburg, da­zu Lothar Noak: Johann Eberlin von Günzburg (um 1460–1533) und seine Flugschriften in der deutschsprachigen Flugschriftenliteratur der Jahre 1520–1524, Leipzig Univ. Diss. 1983; Günther Heger: Johann Eberlin von Günzburg und seine Vorstellungen über eine Reform in Reich und Kirche, Berlin 1985; Christian Peters: Johann Eberlin von Günzburg: ca. 1465–1533; franziskanischer Reformer, Humanist und konservativer Reformer, Gütersloh 1994; Geoffrey Dipple: Antifraternalism and Anticlericalism in the German Reformation: Johann Eberlin von Günzburg and the Campaign Against the Friars, Aldershot 1996.
8) Otis C. Edwards: A History of Preaching, Nashville 2004, 210 unter Bezug auf J. B. Schneyer: Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters für die Zeit von 1150–1350, Münster 1969–1980; sowie David L. d’Avray: The Preaching of the first Friars. Sermons diffused from Paris before 1300, Oxford 1985. – Eine Übersicht zu den erhaltenen Manuskripten und Beständen diverser Bibliotheken im europäischen Raum ist gegenwärtig nicht zu erstellen. Gleichwohl gibt es zahlreiche elektronische Ressourcen, die hier weiterhelfen: Vgl. Alois Haidinger: «Elektronische Hilfsmittel für den Handschriftenbibliothekar« Referat auf dem 4. Tübinger Symposium «Handschriften, Alte Drucke vom 7.11.2000 (Internetressource: http://www.ksbm.oeaw.ac.at/varia/tb2000.htm). Gegenwärtig werden zahlreiche nationale Bibliotheken mit Recherchen zu Predigtbeständen beauftragt. Siehe dazu etwa: Johannes Baptist Schneyer (Hrsg.): Repertorium der lateinischen Sermone des Mittelalters für die Zeit von 1150–1350, Münster 1969–1990; ders. (Hrsg.): Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters. Anonyme Predigten Bibliotheken A bis N., Münster 1978; Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters. Anonyme Predigten Bibliotheken O bis Z, Münster 1980, mit den ergänzenden Indexbänden zu den Textanfängen hrsg. von Charles H. Lohr, Münster 1989 u.1990; Hans-Jochen Schiewer: Repertorium der ungedruckten deutschsprachigen Predigten des Mittelalters, 1. Die Handschriften aus dem Straßburger Dominikanerinnenkloster St. Nikolaus und den benachbarten Provenienzen, Tübingen 2000. Zur literaturgeschichtlichen Gattungsbestimmung vgl. Volker Mertens, Hans-Jochen Schiewer: Erschließung einer Gattung, in: Editio, Berlin 1990, 93–111; zur Forschungsgeschichte siehe jetzt: Augustine Thompson: From Texts to Preaching. Retrieving the Medieval Sermon as an Event: in: Carolyn Muessig (Ed.), a. a. O., 13–37.
9) Vgl. zusammenfassende Darstellungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters bei Michael Borgolte: Europa entdeckt seine Vielfalt 1050–1250, Stuttgart 2002; Michael North: Europa expandiert 1250–1500, Stuttgart 2007.
10) Walter Rüegg: Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1: Mittelalter, München 1993.
11) Vgl. dazu den umfassenden Überblick bei André Vauchez: Geschichte des Christentums. Religion – Politik – Kultur, Bd. 5: Machtfülle des Papsttums (1054–1274), deutsche Ausgabe bearbeitet u. hrsg. von Odilo Engels unter Mitarbeit von Georgios Makris und Ludwig Vones, Freiburg 1994; sowie Bd. 6: Die Zeit der Zerreißproben (1274–1449), hrsg. von Michel Mollat du Jourdin und André Vauchez, deutsche Ausgabe bearbeitet u. hrsg. von Bernhard Schimmelpfennig, Freiburg 1991.
12) Hellmut Zschoch: Die Christenheit im Hoch- und Spätmittelalter, Göttingen 2004; etliche wertvolle Hinweise bietet jetzt auch die Aufsatzsammlung von Berndt Hamm: Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, hrsg. von Reinhold Friedrich und Wolfgang Simon, Tübingen 2011.
13) Isnard W. Frank OP: Art. Predigt VI, TRE XXVII (1997), 250. Zur Predigt im Hochmittelalter siehe jetzt Regina D. Schiewer: Die deutsche Predigt um 1200. Ein Handbuch, Berlin-New York 2008. Sie betont darin, »dass es sich beim Corpus der Frühen deutschen Predigt … um autochthon deutschsprachiges Schriftgut« handelt, das das »Genre der Predigt durchaus kreativ und innovativ erstmals in beachtlicher Quantität in die deutsche Schriftkultur einführt« (a. a. O., 75).
14) Konst 10 (COD 239–240); zur Geschichte des Konzils siehe: G. Alberigo, A. Duval (Hrsg.): Les Conciles œcuméniques, 2 Bände: L’Histoire und Les Décrets (= Collection Le magistère de l’Église), Paris 1994; Raymonde Foreville: Lateran I–IV (= Geschichte der ökumenischen Konzilien, Bd. 6), Mainz 1970 (Übersetzung des frz. Originals, Paris 1965); Edition der Konzilsbeschlüsse lateinisch/deutsch in: Josef Wohlmuth (Hrsg.): Dekrete der ökumenischen Konzilien, Bd. 2: Konzilien des Mittelalters, Paderborn u. a. 2000, 227–271.
15) Isnard W. Frank, a. a. O., 250.
16) Siehe beispielsweise G. Buchwald: Die Ars praedicandi des Erfurter Franziskaners Christianus Borxleben, in: Franziskanische Studien 8 (1921), 67–74; sowie die Anmerkungen zu Alanus ab Insulis w. u.; vgl. auch Phyllis B. Roberts: The ars praedicandi and the medieval sermon, in: Muessig (Ed.), a. a. O., 41–62.
17) Vgl. dazu als Übersicht: Carolyn Muessig (Ed.): Preacher, Sermon and Audience in the Middle Ages, Leiden 2002.
18) Dass die Autoren spätmittelalterlicher Predigten den den historiographischen Axiomata des 19. Jh.s folgenden Parametern von »Individualität« oder »Innovativität« kaum Rücksicht zollten, betont R. Schiewer, a. a. O., 73–75. – Vor diesem Hintergrund erscheint der Hinweis auf ›innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit‹, wie ihn Berndt Hamm unter dem Obertitel: Die ›nahe Gnade‹, in: Jan A. Aertsen und Martin Pickaevé (Hrsg.): »Herbst des Mittelalters. Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin-New York 2004, 541–557 (= ders.: Religiosität im Mittelalter, a. a. O., 544-560) behauptet, doch diskussionswürdig; vgl. dazu meine knappe Skizze: Theologische Innovation und konservatives Beharren bei Martin Luther und Philipp Melanchthon (a. a. O., 59–80).
19) Die Originalität der Bettelorden besteht nicht in der Erfindung einer auf Predigt beruhenden Seelsorge, sondern in der Intensivierung und Institutionalisierung der Predigt als Verbandsaufgabe. Den kanonischen Rechtsgrund bildet die päpstliche Predigtlizenz (commission ad officium praedicandi), ausgesprochen zunächst in Einzelmandaten, generell geregelt in der Bulle Super Cathedram von Bonifatius VIII. und erneuert durch das Konzil von Vienne (1312) im Dekret Dudum; Frank, a. a. O., 250.
20) Vgl. dazu James J. Murphy: Rhetoric in the Middle Ages: A History of Rhetorical Theory from Saint Augustine to the Renaissance, Berkeley-Los Angeles 1974.
21) John O’Malley: Praise and Blame in Renaissance Rome. Rhetoric, Doctrine, and Reform in the Sacred Orators of the Papal Court, c. 1450–1521, Durham 1979; siehe weiterhin Berndt Hamm: Severity and Mercy. Three models of pre-reformation Urban preaching: Savonarola, Staupitz, Geiler, in: Continuity and Change. The Harvest of Late Medieval and Reformation History. Essays Presented to Heiko A. Oberman on his 70th Birthday. Ed. by Robert J. Bast and Andrew C. Gow, Leiden u. a. 2000, 321–358.
22) Sicherlich zielt diese Handlungsorientierung auch in die Richtung der später so massiv kritisierten Verdienstlehre. Freilich ist diese ausführlicher in den dazu angelegten dogmatischen Traktaten oder Handbüchern behandelt als unter expliziter Verwendung der einschlägigen kontroverstheologisch markierten Terminologie in den Predigten.
23) Insofern der Verdienstgedanke gerade aus der späteren Sicht seiner reformatorischen Bestreitung einen kontroverstheologisch aufgeladenen Terminus darstellt, wird im Folgenden auf die Begrifflichkeit von »Verdienst, verdienstlich« etc. verzichtet. Es bedarf weitergehender Untersuchungen, ob die von den Reformatoren im 16. Jh. zu Recht kritisierte Depravation des Verdienstgedankens im Sinne einer heilswirksamen Eigenaktivität des Menschen in dieser krass dem biblischen Zeugnis und der Tradition widersprechenden Weise auch schon in den Predigten des 13. und 14. Jh.s vertreten wurde.
24) Vgl. The New Cambridge Medieval History, ed. by David Abulafia, Christopher Allmand, Michael Jones u. a., Bd. 5–7, Cambridge 1998–2000; Gerhard Fouquet u. a.: Europa im Spätmittelalter 1215–1378 (Odenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 8), München 2003; Malte Prietzel: Das Heilige Römische Reich im Spätmittelalter, Darmstadt 2004; Hans-Friedrich und Hellmut Rosenfeld: Deutsche Kultur im Spätmittelalter 1250–1500, Wiesbaden 1978 (= Handbuch der Kulturgeschichte, Bd. I, [5]).
25) Die Predigt ist eine offizielle und öffentliche Belehrung über Lebensweise und Glaube; hergeleitet aus Verstandesgründen und der Quelle der Autoritäten, dient sie zur Unterweisung der Menschen. OL 210, 111C, zitiert nach Frank, a. a. O., 253.
26) Vgl. Société des Historiens Médiévistes de l’Enseignement Supérieur Public (Ed.): Le clerc séculier au Moyen Age, Paris 1993.
27) Nach wie vor einschlägig Berryl Smalley: The Study of the Bible in the Middle Ages, Notre Dame 31978; Hughes Oliphant Old: The Reading and Preaching of the Scriptures in the Worship of the Christian Church, Vol. 3: The Medieval Church, Grand Rapids 1999.
28) Zu Biographie und Werkverzeichnis vgl. Friedrich Wilhelm Bautz: BBKL II, 194–195; die auf 11 Bände geplante maßgebliche Ausgabe: Johannes Geiler von Kaysersberg. Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Bauer, Teil 1: Die deutschen Schriften, Abt. 1: Die zu Geilers Lebzeiten erschienenen Schriften, Berlin-New York Bd. 1, 1989, Bd. 2, 1991, Bd. 3, 1995. Zur Stagnation der Editionstätigkeit siehe G. Bauer in Daphnis 5 (1994), 559–589. – Unter der jüngeren Literatur seien zitiert: Jane Dempsey Douglass: Justification in late medieval preaching. A study of John G. of K. (Diss. Harvard), Cambridge 1962 u. Leiden 1966, 2. Aufl. Leiden u. a. 1989; Herbert Kraume: Die Gerson-Übersetzungen Geilers von Kaysersberg. Studien zur deutschsprachigen Gerson-Rezeption, Zürich-München 1980; Klaus Manger: Literarisches Leben in Straßburg während der Prädikatur Johann Geilers von Kaysersberg (1478–1510), Heidelberg 1983; Roland Fillinger: Johannes Geiler von Kaysersberg. Die Predigten. »Von den neün früchten oder nützen eines rechten kloster lebens« und ihre Quellen. Diss. Mannheim 1991; Gerhard Bauer: »Auch einer« – Leiden, Weisheit, Mystik und Mystiker bei Johannes Geiler von Kaysersberg, in: Leiden und Weisheit in der Mystik, hrsg. v. Bernd Jaspert, Paderborn 1992, 207–233; Herbert Schmidt: »Seelenparadies« und »Paradisus animae«. Studien zu einem Predigtwerk Johannes Geilers von Kaysersberg und seiner lateinischen Vorlage, Diss. Mannheim 1994; Gerhard Bauer: Wandel und Bestand um 1500: Die Predigten des Johannes Geiler von Kaysersberg über Sebastian Brants »Narrenschiff«, in: Makarios Hebler u. a. (Hrsg.): Wandel und Bestand. FS Bernd Jaspert, Paderborn-Frankfurt 1995; Rita Voltmer: Wie der Wächter auf dem Turm. Ein Prediger und seine Stadt. Johann Geiler von Kaiserberg (1445–1510) und Straßburg, Trier 2005.
29) Sie wurden erstmals 1503 gedruckt; siehe jetzt die kritische Edition: Johannes Geiler von Kaysersberg. Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard Bauer, Teil 1: Die deutschen Schriften, Abt. 1: Die zu Geilers Lebzeiten erschienenen Schriften, Bd. 2, Berlin-New York 1991, 176–222.
30) Geiler, Predigten, 185.
31) Jane Dempsey Douglass, a. a. O.; Hamm, Severity, 344.
32) Vgl. Hamm, Severity, 345.
33) Freilich sollte nicht übersehen werden, dass zumindest in dieser Hinsicht die reformatorische Kritik an der teilweise vorherrschenden Predigt ihrer Zeit durchaus einen historisch nachvollziehbaren Kern hat.
34) Vgl. Hamm, Severity, 348.
35) Vgl. Dempsey Douglass, Justification, 168–170.
36) Vgl. Jacob Wimpfelings Charakterisierung »Nulli blandus adulator, non peccata nimium attenuas nex plus aequo exaggerans, in dicenda veritate nullius timens potentiam.« Zitiert nach Hamm, Severity, 256, Anm. 130.
37) Vgl. zu Leben und Werk von Staupitz: Markus Wriedt: Art. Staupitz, in: NDB (2008); sowie ders: Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zur Johann von Staupitz und Martin Luther, Mainz 1991; Franz Possett: The Front-Runner of the Catholic Reformation. The Life and Works of Johann von Staupitz, Aldershot 2003. Die ältere Forschung ist relativ vollständig erfasst bei Rudolf K. Markwald, Franz Posset: 125 years of Staupitz Research (Since 1867): An annotated Bibliography of Studies on Johannes von Staupitz (c. 1468–1524), Sixteenth Century Bibliography 31, Saint Louis 1995.
38) Johannes von Staupitz: Libellus de Executione aeternae praedestinationis mit der Übertragung von Christoph Scheurl: Ein nutzbarliches Büchlein von der entlichen Volziehung ewiger Fürsehung, bearbeitet von Lothar Graf zu Dohna, Richard Wetzel und Albrecht Endriss, Berlin-New York 1979. – Anstelle ausführlicher Nachweise sei auf meine o. g. Veröffentlichung Gnade und Erwählung (s. Anm. 37) hingewiesen.
39) Vor der Fertigstellung der Tübinger kritischen Edition muss zunächst auf die ebenfalls unvollständige Herausgabe von Joachim Karl Friedrich Knaake: Iohannis Staupitii opera quae reperiri potuerunt omnis I, Potsdam 1867, verwiesen werden.
40) Vgl. dazu die knappe Untersuchung von Markus Wriedt anhand Staupitz’ Büchleins von der Nachfolgung des willigen Sterben Christi, Leipzig 1517, in Christian Möller: Geschichte der Seelsorge in Einzelportraits, Göttingen 1995, Bd. II, 25–44.
41) Ob man freilich Staupitz als Mystiker bezeichnen sollte, scheint mehr als fraglich. Auf mystische Traditionen in seinem Werk verweisen aber immer wieder Forscher aller Generationen. Neben Ludwig Keller und Ernst Wolf zuletzt Rudolf K. Markwald: A mystic’s passion. The spirituality of Johannes von Staupitz in his 1520 Lenten sermons, New York-Bern-Las Vegas 1990.
42) Die aus der Tübinger Zeit erhaltenen ›Predigten‹ dürften schließlich kaum als solche zu bezeichnen sein. Weder lassen sich die gelehrten lateinischen Ausführungen in Predigtformat wiedergeben, noch sind sie für eine nicht theologisch gebildete Hörerschaft geeignet. Die unterschiedliche Länge und die von erheblicher Sachkenntnis geprägte wissenschaftliche Schriftauslegung lassen eher auf einen gelehrten Kommentar oder eine Predigthandreichung schließen. Vgl. Richard Wetzel: Einleitung zu den Tübinger Predigten, in: Johann von Staupitz: Sämtliche Schriften, Abhandlungen, Predigten, Zeugnisse, hrsg. von Lothar Graf zu Dohna, Richard Wetzel, Bd. 1, Lateinische Schriften 1: Tübinger Predigten. Bearbeitet von Richard Wetzel, Berlin-New York 1987, 3–14. Die Salzburger Predigten wurden von den Schwestern eines Konvents mitgeschrieben und dann herausgegeben; vgl. dazu Wolfgang Schneider-Lastin: Einleitung zu den Salzburger Predigten 1512, angekündigt als Bd. 3 der kritischen Gesamtausgabe; zgl. Diss. Tübingen 1990.
43) Vgl. dazu auch Hans-Jochen Schiewer: Spuren von Mündlichkeit in der mittelalterlichen Predigtüberlieferung, in: Editio 1992.
44) Neben der Beichte wahrscheinlich.
45) Unter Bezug auf die Predigtpraxis der Mendikanten bemerkt David d’Avray durchaus überzeugend: »That friars achieved their undoubted successes by preaching in a language which their audience could not understand is so wildly implausible that the onus of proof is on those who propose it.« A. a. O., 94; vgl. des Weiteren Giles Constable: The Language of Preaching in the Twelfth Century, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 25 (1994), 131–152; sowie Beverly Mayne Kienzle: The Sermon, Tournhout 2000, 971–974.
46) Zu diesem Zusammenhang vgl. jetzt Beverly Mayne Kienzle: Medieval sermons and their performance: Theory and Record, in: Carolyn Muessig (Ed.), a. a. O., 89–124.
47) Nikolaus Staubach: Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Laienbibel, in: M. Lamberigts, A. A. den Hollander (Hrsg.): Lay Bibles in Europe 1450–1800 (= Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, CXCVIII) Leuven 2006, 3, bes. Anm. 1; vgl. diesen Aufsatz zum Nachfolgenden ebenso wie ders.: Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Apologie der Laienlektüre in der Devotio moderna, in: Thomas Kock, R. Schlusemann (Hrsg.): Laienlektüre und Buchmarkt im späten Mittelalter, Frankfurt a. M. 1997, 221–289.
48) Vgl. dazu Wolfgang Oeser: Die Brüder des gemeinsamen Lebens in Münster als Bücherschreiber, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Frankfurter Ausgabe 18 (Nr. 42a) (1962), 979–1079; Thomas Kock: Die Buchkultur der devotio moderna, Frankfurt a. M. 2002.
49) Vgl. Staubach, a. a. O, Anm. 21, sowie die Beiträge von Anton G. Weiler und Heinrich Rüthing in Klaus Schreiner (Hrsg.): Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge, München 1992, 191–226.
50) A. Hyma: The ›De libris teutonicalibus‹ by Gerhard Zerbolt of Zutphen, in NAKG 17 (1924), 42–70.
51) Staubach, a. a. O., 13.
52) Staubach, a. a. O., 17.
53) »Misteria fidei seu documenta alta dupliciteer possunt proponi, dupliciter potest de eeis tractari in libris … Illi enim (sc. libri), qui quesciones vel dubia movent vel dicta super argumenta et raciones mulitpliciter probant, laycis non expediunt, sed possunt impedire multum. Sed illi libri, qui simpliciter dicunt et simplici et plano modo pertractant quid sit credendum, quid agendum, quid vitandum, quid nobis in exemplis santorum ymitandum, isti sunt laycis utiles et fructuosi.« Hyma, a. a. O., 61 f., zitiert nach Staubach, a. a. O., 18, Anm. 42.