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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1251-1252

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Wyrwoll, Nikolaus

Titel/Untertitel:

Politischer oder petrinischer Primat? Zwei Zeugnisse zur Primatsauffassung im 9. Jahrhundert.

Verlag:

Freiburg (Schweiz): Institut für Ökumenische Studien der Universität Freiburg Schweiz 2010. IV, 147 S. gr.8° = Epiphania, 2. Geb. EUR 18,00. ISBN 978-2-9700643-7-4.

Rezensent:

Tobias Georges

Um das Jahr 1900 wurde »in Handschriften der kirchlichen Gesetzbücher …, die den Bulgaren nach ihrer Bekehrung im neunten Jahrhundert übergeben worden waren« (9), ein interessantes kleines Schriftstück entdeckt: ein ursprünglich griechischer Traktat, der unter Berufung auf Canones der Synode von Chalzedon den kirchlichen Primat Konstantinopels einklagt und in den wiederum ein kurzes Scholion eingeflochten ist, das nur auf Altslavisch erhalten ist, ursprünglich wohl auch auf Griechisch abgefasst war, und das in Gegenstellung zum Traktat für den Primat Roms Partei ergreift. Der genaueren Untersuchung dieses Textzeugnisses, das freilich speziell für die Debatte zwischen der römisch-katholischen Kirche und den Kirchen des Ostens um den Primat brisant und aktuell erscheint, hat sich Prälat Dr. Nikolaus Wyrwoll, Direktor im Ostkirchlichen Institut Regensburg, in seiner Schrift angenommen, die schon im Jahr 1965 von der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom als Dissertation angenommen wurde und die jetzt in gedruckter Form erschienen ist.
Nach einer knappen Einführung und kurzen Angaben zur Textüberlieferung und zur Forschungsgeschichte (Kapitel 1) untersucht W. zunächst den Traktat und dessen Primatslehre (Kapitel 2 und 3), analysiert sodann das Scholion und dessen Argumente (Kapitel 4 und 5). Vor diesem Hintergrund fragt er nach dem Autor des Scholion (Kapitel 6). In einem abschließenden Kapitel stellt er die Primatsauffassung von Traktat und Scholion einander gegen­-über (Kapitel 7).
Auf diese Weise strebt W. in erster Linie danach, die für Traktat und Scholion maßgeblichen Lehrkontexte zu erhellen. In unmissverständlicher Art kennzeichnet er, aus dezidiert römisch-katholischer Perspektive, den Traktat als Exponenten einer ostkirchlichen Primatsauffassung, der zufolge der Primat sich aus der politischen Dominanz der Reichshauptstadt herleite, die von Rom auf Konstantinopel übergegangen sei. In diesem Sinne stelle der Traktat kirchliche Canones der Synode von Chalzedon (9.17.28) und Bestimmungen aus dem Gesetzeswerk Kaiser Justinians I. in eine Reihe. Das Scholion hingegen interpretiert W. als herausragenden Repräsentanten des römischen Primatsverständnisses, das den Vorrang nicht mit der weltlichen Stellung der Stadt begründe, sondern mit der »göttlichen Wahl und dem apostolischen Auftrag« (26), dem Auftrag Jesu an Petrus aus Joh 21,16 f. (»Weide meine Schafe«). Als Kronzeugen für diese Auffassung identifiziert W. insbesondere Papst Leo I.
Während W. die primäre Zielsetzung seiner Arbeit auf diese Weise einholt und die beiden idealtypischen Primatsauffassungen mit einer Fülle von Quellentexten illustriert – einem protestantischen Leser stellen sich freilich auch im Blick auf das römisch-katholische Verständnis Anfragen –, wird er seiner zweiten – in der Konzeption der Arbeit deutlich nachgeordneten – Intention nicht hinreichend gerecht: W. hat vor, von seiner Quellenlektüre her auch zu fragen, in welchem historischen Umfeld »Traktat und Scholion entstanden sind« (10). Für den Traktat schließt er sich aber einfach der These S. Troickis an, dieses Zeugnis sei vom Konstantinopeler Patriarchen Sergius und seinen Mitarbeitern zwischen 610 und 629 zusammengestellt, von Patriarch Photius dann an die neubekehrten Bulgaren gesandt und schließlich vom Kreis um Cyrill und Method ins Altslavische übertragen worden. Das Scholion hatte Troicki nicht näher untersucht, eine Verfasserschaft in Rom, namentlich durch Cyrill und Method hatte er aber unter Verweis darauf ausgeschlossen, dass das Scholion Charakteristika aufweise, die eindeutig in den Osten wiesen. Lediglich an dieser Stelle setzt W. ein, und hauptsächlich, indem er die negativen Argumente Troickis zu widerlegen sucht.
Ein positiver Nachweis der Verfasserschaft Cyrills – wie W. sie annimmt – kann schon daher nicht gelingen, da die historische Einordnung von Traktat und Scholion Quellen aus urchristlicher Zeit bis zum 15. Jh. heranzieht und zu wenig historische Tiefenschärfe besitzt.
Wird die dogmatische Differenz zwischen »petrinischer und politischer Primatsauffassung« somit sehr deutlich, so bleibt die genauere historische Einordnung von Traktat und Scholion in ihrer eigentümlichen Zusammenstellung ein Desiderat.