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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1241-1243

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Altermatt, Urs

Titel/Untertitel:

Konfession, Nation und Rom. Metamorphosen im schweizerischen und europäischen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts.

Verlag:

Frauenfeld u. a.: Huber 2009. 422 S. m. Tab. gr.8°. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-7193-1457-6.

Rezensent:

Peter Opitz

Seit 40 Jahren liegt ein Schwerpunkt der Forschung des ehemals an der katholischen Universität Freiburg/Schweiz als Professor für Zeitgeschichte lehrenden Historikers Urs Altermatt im Themenkomplex der (religiös-)kulturellen Identität, der politischen Integration und den Transformationen des Schweizer Katholizismus seit dem 19. Jh. War zunächst die Phase der Bildung einer »Subgesellschaft« und der politischen Selbstkonstituierung der Schweizer Katholiken nach dem Sonderbundkrieg und im Horizont des religiösen Aufstiegs Roms im Blick ( Der Weg der Schweizer Katholiken ins Ghetto. Die Entstehungsgeschichte der nationalen Volksorganisationen im Schweizer Katholismus 1848–1919, 1972), so weitet sich dieser im vorliegenden Band aus auf Fragen der politischen Integration des Schweizer Katholizismus in den liberalen Bundesstaat und auf die damit verbundenen Veränderungen im katholischen Selbstverständnis. Damit verknüpft ist die zeitliche Ausweitung des Blicks, der nun bis in die gesellschaftsgeschichtlich als »Spätmoderne« bezeichnete Gegenwart hinein reicht und mit Reflexionen im Anschluss an die Diskussion endet, welche die Rück­nahme der päpstlichen Exkommunikation der Priesterbruderschaft St.Pius X. im Januar 2009 im Schweizer Katholizismus ausgelöst hat.
Der Band vereinigt einige in den letzten 20 Jahren publizierte Beiträge, die vereinzelt überarbeitet wurden. Er enthält aber auch eine Reihe von neuen Aufsätzen, die sich etwa dem komplexen Verhältnis von Religionsgemeinschaft und politischer Gemeinschaft im modernen Staat oder auch den neuesten Entwicklungen im Schweizer Katholizismus widmen. Unter den Haupttiteln: Religion und Nation in europäischer Perspektive; Das Kulturkampfparadigma: Konflikte, Krisen und Integration, und Geschichte, Gedächtnis und Kulte werden Studien zu bestimmten Etappen im Verhältnis von »Nation« und (immer gemeint: katholische) »Religion« präsentiert, die unterschiedliche, teils punktuelle, teils längsschnittartige Einblicke in die Geschichte des Schweizer politischen Katholizismus seit der Mitte des 19. Jh.s geben. Einer Phase des »Rückzug(s) in die katholische Sondergesellschaft« folgten »Assimilationsprozesse an die national-liberal und protestantisch geprägte ›Leitkultur‹« und eine damit parallel verlaufende politische »Emanzipation«, die schließlich in einen transnationalen und doch patriotischen Katholizismus führten, in welchem sich der politische Katholizismus in seiner ursprünglichen Funktion letztlich überflüssig macht (25 f.).
Das Thema der katholischen Identitätsbewahrung und Assi­-milation, insbesondere aber der politischen »Gleichstellung« des Schweizer Katholizismus und seiner Integration in den liberalen Staat, stellt den roten Faden der gesammelten Studien dar: Die Gleichstellung der Christlichdemokraten mit der Freisinnig-Demokratischen Partei 1954, der erste katholisch-konservative Bundesrat 1891, die Verlegung der offiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten der Schweiz im selben Jahr in den katholischen Innerschweizer Kanton Schwyz, der Aufstieg des heiliggesprochenen Bruder Klaus zum gesamtschweizerischen Nationalhelden während und nach dem 2. Weltkrieg, die Aufhebung des Ausnahmeartikels bzgl. der Jesuiten 1973 und des Bistumsartikels 2001 – stets geht es um die schrittweise politische Integration in das Gemeinwesen »Schweiz« und die damit verknüpfte Überwindung des »chronischen Minderwertigkeitskomplexes« (71) der Schweizer Ka­tholiken. Die mehrfach eingestreuten Reminiszenzen des Vf.s an die eigene, stark durch das katholische Milieu geprägte Kindheit verleihen dem Thema zudem eine gewisse autobiographische Note (17.262).
Nicht nur das Forschungsgebiet, auch der Wahrnehmungs- und der (historische) Urteilshorizont des Vf.s bleiben auf den Schweizer Katholizismus beschränkt. So wird beispielsweise – auch aufgrund gelegentlicher thematischer Überschneidungen der Artikel – immer wieder auf den »unseligen« und »diskriminierenden« Jesuitenartikel Bezug genommen, der erst 1973 in einer Volksabstimmung beseitigt wurde (z. B. 17 f.77.155.183 f.243). Dass die »andere Seite«, repräsentiert durch den zumeist, aber keineswegs ausschließlich protestantischen »Liberalismus«, für ihre zeitweiligen Bedenken bezüglich der Integrations-, und Demokratiewilligkeit des nach Rom blickenden katholisch-politischen Milieus auch geschichtliche Anlässe und – wie auch immer plausible – Gründe gehabt haben könnte, wird als Möglichkeit keinen Augenblick ins Auge gefasst.
Aus protestantischer Außenperspektive bietet der Band lehrreiche Einblicke in die Prägekraft katholisch-kultureller Sozialisation und in ein Selbstverständnis des Schweizer katholischen »Milieus«, das bei allen internen »antirömische(n) Affekten« (253) sich zu­gleich gegen jegliche »antirömische(n) Vorurteile« (157) von protestantischer Seite verwahrt und sich, weitgehend ohne Rückkoppelung an offizielle katholisch-theologische Glaubenslehren, be­tont katholisch gibt und dabei vornehmlich durch den Kampf um volle gesellschaftlich-politische Anerkennung lebendig gehalten wird. Nicht um Kirchengeschichte handelt es sich hier, sondern um Sozialgeschichte katholischer Milieus im politischen Modernisierungsprozess. Zur Wendung der schweizerischen Katholizismusforschung hin zur (römisch-katholischen) Kulturgeschichte hat der Vf. als Herausgeber der »Schweizerischen Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte« (ehemals: Zeitschrift für Schweizer Kirchengeschichte) bekanntlich Maßgebliches beigetragen.
Der Schlussteil des Bandes (Vom Konfessionalismus zur universalen Religion, 259–313) beschreibt die innerkatholischen Konflikte der Gegenwart und endet mit dem Aufruf an den Papst, seine »auf die innerkirchlichen Probleme fokussierte Sicht« (312) abzulegen und sich dem Geist der Spätmoderne, in welchem sich Religion »zunehmend in Ethik und Moral« verwandelt (ebd.), dahingehend zu beugen, dass »katholisch« im Sinne eines »permanenten Dialogs« von »unterschiedlichen Erinnerungswelten« (ebd.) interpretiert wird. Vom Vf. eingefordert wird damit eine »positive Weltinterpretation«, die »über den traditionellen Konfessionalismus hinausweist« (313). Insgesamt liegt hier eine Art »Summe« der Forschung aus der Feder eines absoluten Kenners der neuesten Geschichte des Schweizer Katholizismus vor, wie man sie nicht so bald wieder wird greifen können. Sie ist gerade deshalb auch für eine protestantische Leserschaft äußerst lehrreich, weil ihre Perspektive und ihr Verständnis von »Religion« von der Kulturkampfzeit bis in die »Postmoderne« hinein so unerschütterlich innerkatholisch bleibt.