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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1239-1241

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Wahl, Heribert [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Den »Sprung nach vorn« neu wagen. Pastoraltheologie ›nach‹ dem Konzil. Rückblicke und Ausblicke.

Verlag:

Würzburg: Echter 2009. 254 S. gr.8° = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 80. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-429-03190-9.

Rezensent:

Volker A. Lehnert

50 Jahre nach Ankündigung des II. Vatikanischen Konzils hält dieser Aufsatzband »Rück-Schau, Um-Sicht und Aus-Blicke, wie wir Einfluss und Wirkungen dieses kirchlichen Großereignisses heute erleben und einschätzen« (5). Im Hintergrund stehen zwei für die römisch-katholische Kirche bedeutsame Aspekte: eine gewisse Resignation über den »kirchlichen Reformstau« (5) sowie die Tatsache, dass die aktive Dienstzeit der vom Konzil geprägten Priester und Theologen zu Ende geht (6). Was ist aus den Impulsen des Konzils geworden, insbesondere aus der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, die einen expliziten Zeit- und Weltbezug der Pastoral forderte? 16 Theologen und eine (!) Theologin kommen in diesem Sammelband zu Wort.
Konrad Baumgartner skizziert kurz die Geschichte der Pastoraltheologie, fordert einen progressiven Umgang mit der Tradition und eine Vernetzung der Theologie mit den Humanwissenschaften und beklagt, dass der dialogische Aufbruch nach 1965 und die Mitverantwortung des Kirchenvolkes zunehmend zurückgedrängt werden.
Martina Blasberg-Kuhnke betont die bleibende Bedeutung von Gaudium et Spes, die sich aber nicht im Beharren auf das Konzil, sondern in der Aufnahme von dessen Dynamik der Weltwahrnehmung realisiert.
Karl Bopp unterscheidet die »unbedingte Treue zu Gott« von der »relativen Treue zur geschichtlichen Kirche« (38) und fordert im Sinne Don Boscos eine kritische Loyalität zur Kirche.
Ottmar Fuchs bescheinigt dem II. Vaticanum die »reformatorische Einsicht« nachzuholen, dass die Kirche eine »sekundäre Größe« ist (49) und fordert eine Verkündigung der ›unbedingten Gnade‹, für die weder der Glaube noch institutionelle Voraussetzungen Bedingung sind. Dies sei in den gegenwärtigen pastoraltheologischen Diskurs einzubringen.
Walter Fürst charakterisiert das II. Vaticanum als »epochales Zeichen der Hoffnung« (66) und skizziert insbesondere das Anliegen von Gaudium et Spes, wonach das kirchliche Leben nicht mehr allein von der Lehre bestimmt werden, sondern auch auf diese zurück­wirken soll. Eindrücklich stellt er die beiden konträren Hermeneutiken aktueller Konzilsauslegung dar: die »Hermeneutik der Diskontinuität«, nach der der Bruch mit der Tradition dominiert, und die »Hermeneutik der Reform«, wonach der Bezug auf die Tradition dominiert. Letztere wird derzeit in Rom vertreten. Fürst hält diese Alternative für falsch und verortet die Dynamik ständiger Selbstaktualisierung in der Tradition, im biblischen Sinne als paradosis aufgefasst, selbst. In diesem Sinne stellt das Konzil eben gerade »keinen Bruch mit der kirchlichen Tradition dar« (82).
Erich Garhammer porträtiert den Konzilpapst Johannes XXIII. unter den Aspekten Meditation des Sterbens, Einfachheit und Gehorsam, verbunden mit einer großen Lauterkeit. Daraus erklären sich aus seiner Sicht das große Charisma und die faszinierende Wirkung dieses Papstes.
Richard Hartmann benennt »Spuren der Auseinandersetzung um das Vaticanum II« (96) in seiner eigenen Biographie und warnt vor einer Idealisierung des Konzils, das s. E. sehr weite Interpretationsmöglichkeiten hat.
Leo Karrer beschreibt die Praktische Theologie als das We­sen der Theologie und den Aufruf des Konzils als Vermittlung zwischen dem »Buch des Lebens« und den »Büchern des Lebens« (118). Dabei warnt er vor einer Verwechslung des Weltbezuges mit Realitätsdominanz: »Marktgängigkeit allein ist keine theologische Ressource« (118). Das ureigene Thema der Theologie ist und bleibt die Gottesfrage.
Stefan Knobloch fragt: »Wohin steuert die katholische Kirche?« und stellt retardierende nachkonziliare Entwicklungen dar, z. B. die Laieninstruktion von 1997, die Erklärung Dominus Jesus von 2000 oder die Rehabilitation der Pius-Bruderschaft in 2009.
Weniger mit dem Konzil als mit seiner persönlichen theologischen Biographie befasst sich der Beitrag von Georg Köhl. Ludwig Mödl äußert den Verdacht, dass das Konzil die falschen Fragen gestellt haben könnte. Er nennt drei Bereiche: Die Idee einer Gemeindekirche war eine romantische Illusion, denn Volkskirche ist immer mehr als Gemeindekirche. Das Dekret über das geistliche Amt war theologisch zu dürftig. Vor allem aber: Die Volksfrömmigkeit wurde zu sehr abgewertet. Sie muss dringend gefördert werden.
Udo Schmälzle sieht den Verdienst des Konzils vor allem in dessen Überwindung der Bruchstellen zwischen Evangelium und Kultur, insbesondere in der lange überfälligen Auseinandersetzung mit der eigenen Gewaltgeschichte, sowie in der Verpflichtung der Kirche zur Selbstevangelisierung.
Ehrenfried Schulz deutet am Beispiel des Geschickes des Institutes für Katechetik und Homiletik in München die gegenwärtigen Tendenzen den konziliaren ›Weg des Dialoges‹ zu beenden als Angstphänomen. Nötig sei eine »Neubesinnung auf Gottes Geist« (191).
Von Gaudium et Spes her fordert Hermann Steinkamp die Integration von »Mit-Betroffenheit« und »Compassion« in die Pastoraltheologie (195). Die Gemeinden dürfen nicht länger »Freizeitagenturen« sein, sondern müssen Orte »wechselseitiger Fürsorge als sensibler Hilfe zur Selbstsorge« werden (204). Hermann M. Stenger berichtet von einigen seiner nachkonziliaren Begegnungen und Erfahrungen.
Die Erinnerungen von A. M. J. M. Hermann van de Spijker zeigen eindrück­lich, wie wenig die Beratungen des Konzils seinerzeit in der theologischen Ausbildung wahrgenommen wurden.
Der letzte Beitrag stammt vom Herausgeber des Bandes, Heribert Wahl. Mit M.-Dominique Chenu charakterisiert er das Konzil als »prophetisch«, es ruft »selbst dazu auf, es zu überholen« (zit. Chenu, 243). Die nachlaufenden Einschränkungen der vom Konzil eröffneten Perspektiven erklärt Wahl nicht nur aus »individuellen Persönlichkeitsverengungen« der handelnden Subjekte, sondern ebenso aus »systemischen Wirkungen« kirchlicher Strukturen (244). Insgesamt sei das Konzil noch nicht recht ›verdaut‹ worden. Die Kirche muss im Gefolge von Gaudium et Spes immer noch »zuerst hörende und lernende Kirche werden, mater et discipula et serva« (249). Das Konzil war ein performatives Ereignis. Es vollzog selbst, was es ankündigte: ein »Miteinander-Ringen, Aushandeln und Sich-Einlassen auf ein Wagnis« in »vorläufiger Form« (ebd.). Die Pastoralkonstitution fordert daher auch »ihre ständige Fortschreibung« (250). Wahl resümiert: »Von dieser kirchlichen Einfühlungskraft als Grundzug der pastoralen Option sind wir im Stil lehramtlicher Dokumente und Entscheidungen wieder ein ganzes Stück entfernt.« (ebd.)
Auch wenn die skizzierten Beiträge recht unterschiedliche Qualität zeigen: Dieser katholische Band ist auch für die evangelische Meinungsbildung hochinteressant, gibt er doch aufschlussreiche Einblicke in das gegenwärtige Ringen um die Auslegung des II. Va­ticanums und eine zeitgemäße Pastoraltheologie. Sie zeigen eindrück­lich, dass sich das Befremden einigen neueren römisch-ka­tholischen Verlautbarungen gegenüber offensichtlich nicht auf den evangelischen Raum beschränkt.