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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1236-1237

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Becker, Uwe [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Perspektiven der Diakonie im gesellschaftlichen Wandel. Eine Expertise im Auftrag der Diakonischen Konferenz des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2011 (2. Aufl.). 127 S. 8°. Kart. EUR 14,90. ISBN 978-3-7887-2517-4.

Rezensent:

Alexander Dietz

Mit dieser Schrift möchte das Diakonische Werk der EKD eine notwendige Diskussion in Kirche und Diakonie zu drängenden grundlegenden Fragen anregen, die das Selbstverständnis von Diakonie und Kirche – im Kontext sich verändernder gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Rahmenbedingungen – betreffen. Zweifellos werden in diesem Buch aktuelle und wichtige Probleme und Herausforderungen klar benannt, das allein ist schon kein geringes Verdienst. Die Analysen lesen sich über weite Teile differenziert und überzeugend, aber vor allen Dingen regt das Werk zum Nachdenken und Diskutieren an. Kritisch anzuführen sind einzelne formale Schwächen (der Text wirkt »zusammengestückelt«, Quellenangaben fehlen), theologische Schwächen (Bezug auf Jesus Christus ist formelhaft bzw. folgenlos für die Argumentation [3], Tendenz zur Beliebigkeit im Blick auf Lebensformen und Kulturen [74 ff.97]) sowie analytische Schwächen (uneinheitliche Verwendung des Ökonomisierungsbegriffs [155 f.], Verharmlosung von Missständen [10.27.224]).
Die Schrift fordert von der Diakonie, deren Profil oft kaum noch erkennbar sei (151), einen Prozess der Selbstvergewisserung bezüglich ihrer eigenen Grundlagen. Unter den zahlreichen möglichen Bezugspunkten eines diakonischen Profils, die an verschiedenen Stellen vorgeschlagen werden, spielt völlig zu Recht der Gedanke der Sozialanwaltschaft eine besonders wichtige Rolle. Das Problem des Verhältnisses von Kirche und Diakonie wird differenziert dargestellt und seine Lösung als drängend ins Bewusstsein gehoben (227 ff.).
Das Buch macht deutlich, dass sachgerechte diakonische Arbeit die Wahrnehmung relevanter gesellschaftlicher Veränderungsprozesse voraussetzt. In diesem Zusammenhang werden sechs solcher Veränderungsprozesse beleuchtet: der Wandel der Arbeitsgesellschaft (20 ff.), der demographische Wandel (38 ff.), Armut und Reichtum in Deutschland (56 ff.), Veränderungen der Familienstruktur (74 ff.), Dynamik der Interkulturalität (91 ff.) und Veränderungen in der Zivilgesellschaft (108 ff.). Der Inhalt dieser Ab­schnitte fordert im Großen und Ganzen weder zu Widerspruch heraus noch birgt er Überraschendes.
Besonders hervorzuheben ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Ökonomisierung im Bereich der Diakonie, die man in so differenzierter, konstruktiver und (nach allen Seiten hin) unideologischer Form nur selten findet. Die Vermarktlichung des Sozialstaats und deren Auswirkungen auf diakonische Arbeit werden präzise beschrieben: beispielsweise Leistungsbegrenzungen und Nachteile für kleine Anbieter durch Budgetierung und Pauschalierung (159 f.), Pflegepersonal im Zeitkorsett (155), Schaffung prekärer Arbeitsverhältnisse (31), Ausschreibungen bestimmen Angebote (163), Risikoselektion (152), aber auch wachsende Transparenz, realistische Kalkulation und hoher Stellenwert von Qualifizierung (156). Der Text fordert zu Recht eine interne Qualitätsdebatte im Blick auf die Frage, unter welchen Bedingungen Diakonie zu bestimmten Dienst­-leis­tungen bereit ist und unter welchen nicht (17).