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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1234-1236

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Albert, Anika Christina

Titel/Untertitel:

Helfen als Gabe und Gegenseitigkeit. Perspektiven einer Theologie des Helfens im interdisziplinären Diskurs.

Verlag:

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2010. 400 S. m. Abb. 8° = Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts der Universität Heidelberg, 42. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-8253-5743-6.

Rezensent:

Christoph Seibert

Bei der Arbeit von Anika Christina Albert handelt es sich um eine Dissertation, die im Kontext des Diakoniewissenschaftlichen Instituts der Universität Heidelberg angefertigt wurde. Sie widmet sich einem Thema, das von großem individual- und sozialethischem Belang ist: der Praxis des Helfens.
A. stellt sich bei der Behandlung dieses Themas einer doppelten Aufgabe: Zum einen geht es darum, Grundlinien einer Theologie des Helfens aufzuzeigen; dies soll zum anderen so geschehen, dass dabei auf die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit des theologischen Urteils geachtet wird. Die Ausarbeitung der theologischen Konzeption erfolgt daher mit dem Wissen, dass sie nur »im Dialog mit anderen Wissenschaften« (15) zum Ziel kommen kann. In diesem Sinn verweisen bereits die Leitbegriffe »Gabe« und »Gegenseitigkeit« auf Aspekte des Phänomens, die sowohl in einer theologisch qualifizierten Rede als auch in anderen wissenschaftlichen Zusammenhängen aufgeschlüsselt werden können (18). Denn die Praxis des Helfens, so die Leitthese, bildet ein allgemein menschliches Phänomen, ist aber zugleich offen für spezifisch christliche Formen. Diese Dialektik kommt in der interdisziplinären Anlage des Buches ebenso zum Ausdruck wie im leitenden Verständnis von Ethik. Es ist nämlich eine Ethik des Unterscheidens, die A. in Aufnahme von Kierkegaard profiliert. Sie vollzieht sich in mindestens zwei Hinsichten: Die erste zeigt sich darin, dass eine christlich bestimmte Praxis sich von einer nicht christlich bestimmten nicht durch äußere Handlungsvollzüge unterscheidet, sondern durch den Modus ihres Vollzugs, mithin durch ihre teilnehmende Ge­samtperspektive (17). Deshalb vollzieht sich ethische Reflexion in einer zweiten Hinsicht auch nicht von einem neutralen Standpunkt aus, sondern im Rahmen einer christlich qualifizierten Perspektive. Diese gilt es stets neu und in Selbstunterscheidung von anderen Sichtweisen der Wirklichkeit einzunehmen (23 f.). Sie fungiert daher auch als Hintergrund der ethischen Reflexion, die sich vornehmlich deskriptiv-hermeneutisch (79 f.) gestaltet. Soviel sei in aller Kürze zu Aspekten des methodisch-ethischen Ansatzes dieser Arbeit gesagt.
Was die Durchführung der Themenbehandlung angeht, so ist die Arbeit in drei Teilen aufgebaut. Im ersten Teil werden Ambivalenzen in der öffentlichen Wahrnehmung des helfenden Handelns aufgedeckt, aus denen heraus sich das Erfordernis ethischer Reflexion ergibt. Als ambivalent stuft A. den Befund ein, dass das helfende Handeln der Kirche einerseits zwar nach wie vor als überwiegend positiv eingestuft wird, sich andererseits aber auch – so Theißen – eine »Legitimitätskrise des Helfens« (45) konstatieren lässt. Diese äußert sich in einer vielstimmigen Kritik an der Praxis des Helfens. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Warnsignal, dass sich im Helfen häufig Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse generieren, die neue Formen von Hilflosigkeit hervorbringen (50). Vor diesem Hintergrund profiliert A. ihre These von der »Notwendigkeit einer Ethik des Helfens« (73), die sich um die Begriffe der Gabe und Gegenseitigkeit organisiert. Um einen Ansatz für diese Ethik zu finden, der allgemein ausweisbar und dabei zugleich offen für die Spezifizität des Christlichen ist, werden im Anschluss an Dietz Lange drei anthropologische Kriterien benannt: Jeder Mensch existiert in einem Selbstbezug (»Identität«), in einem Ge­meinschaftsbezug sowie in einem Weltbezug, für den es ebenfalls Verantwortung zu übernehmen gilt (»Sorge für die Welt«). Damit ist ein Grundraster gefunden, innerhalb dessen die Leitbegriffe der Gabe und Gegenseitigkeit sich interdisziplinär weiter konturieren lassen.
Das geschieht im zweiten Teil der Arbeit in drei Schritten. In einem ersten wird dem Aspekt der Identitätsbildung in einer psy­chologischen Perspektive nachgegangen. Gefragt wird hier nach den »subjektiven Voraussetzungen helfenden Handelns« (112). In der Auseinandersetzung mit psychologischer Literatur kommt es zum Aufweis, dass die Praxis des Helfens sich als relationales Geschehen darstellt, in dem der Akt des Helfens und die Akte des Empfangens der Hilfe und des Antwortens auf die Hilfe immer wieder neu ausbalanciert werden müssen. Ansonsten, so die Pointe, kommt es zu Zerrformen des Helfens. In einem zweiten Schritt fragt A. unter soziologischen Gesichtspunkten nach den gesellschaftlichen Dimensionen dieser Praxis. Dabei wird aus einer sys­temtheoretischen Sicht zunächst nachgezeichnet, wie helfendes Handeln im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung von Ge­-sellschaft zu einer sozial erwartbaren Größe wurde. Allerdings bleibt das systemtheoretische Paradigma nicht ohne Kritik. Denn in ihm werden die individuellen, nicht funktional darstellbaren Aspekte des Helfens in den Hintergrund gedrängt. Diese sieht A. in dem »Konzept der Bedürfnisorientierung« (162) zur Geltung ge­bracht, das von ihr daher als Korrektiv eingeführt wird. Insgesamt ist es ein erklärtes Ziel, auf die »Komplementarität« (184) beider Paradigmen hinzuweisen. Im Anschluss an diese Überlegungen fragt sie in einem dritten Schritt danach, wie sich Gabe und Gegenseitigkeit aus phänomenologischer und hermeneutischer Sicht darstellen. Neben einer ausführlichen Diskussion des Reziprozitätskonzeptes besteht eine wichtige Pointe der in diesem Zusammenhang vorgetragenen Überlegungen darin, die Behauptung einzulösen, dass »beide als universale und allgemein menschliche Phänomene« (241) zu verstehen sind. Das geschieht u. a. in Auseinandersetzung mit Mauss’ Theorie der Gabe und ihren Kritikern. So scheint die Allgemeinheit des helfenden Handelns ausgewiesen, allerdings ohne die Frage nach dem spezifisch Christlichem hinreichend geklärt zu haben.
Ihr widmet sich der dritte Teil, in dem Helfen aus »theologischer Perspektive« (243) betrachtet wird. Das geschieht wiederum in drei Schritten. Im ersten erfolgt die Grundlegung einer Ethik des Helfens in rechtfertigungstheologischer Absicht. Ein Ertrag dieser Überlegungen besteht darin, die Hilfeleistenden nun ihrerseits in einem radikalen Sinn als Empfänger der Gabe des Lebens zu verstehen. Dadurch kommt es zur Überwindung der eingangs erwähnten Kritik an dem strukturellen Machtgefälle, das sich zwischen Helfenden und ihren Bezugspersonen aufbauen kann. Denn vor Gott befindet sich jede Person grundsätzlich in der Position des Empfangens. Unter Voraussetzung dieses Ergebnisses widmet sich A. in einem zweiten Schritt Fragen der »Umsetzung« (281) mit Blick auf das Gebot der Nächstenliebe. In einer Diskussion der Positionen Barths und Kierkegaards kommt sie zum Schluss, dass im Liebesgebot Gegenseitigkeit nicht als Voraussetzung, sondern als »intendierte Zielvorstellung« (314) zu verstehen ist. Dieser Gedanke wird schließlich in einem dritten Schritt weiter konkretisiert. Dies geschieht, indem zwei bislang nur beiläufig erwähnte Prinzipien der Gegenseitigkeit im Detail thematisiert werden: der kategorische Imperativ und die goldene Regel. A. sieht den Unterschied zwischen beiden vor allem in dem »Situations- und Erfahrungsbezug« (329) der goldenen Regel. Da dieser auch für das helfende Handeln konstitutiv ist, begründet er ihre relative Vorordnung gegenüber der abstrakten Forderung der Vernunftmoral. Das bestätigt sich für A. im christlichen Liebesverständnis, das sie in einem abschließenden Gedankengang mit Ricœur zum Begriff der Ge­rechtigkeit ins Verhältnis setzt.
A. hat mit ihrem Buch ein zentrales Thema aufgegriffen und in seiner Komplexität aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven beleuchtet. Diese multiperspektivische Entfaltung macht das Buch lesenswert und konfrontiert mit einer Vielzahl wichtiger Einsichten. Sie führt aber auch dazu, dass die Argumentation stellenweise etwas unübersichtlich und redundant wirkt. Letzteres vor allem deshalb, weil immer wieder neu auf bereits Bekanntes verwiesen wird.