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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1231-1234

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kelsey, David H.

Titel/Untertitel:

Eccentric Existence. A Theological Anthropology. 2 Vols.

Verlag:

Louisville: Westminster John Knox Press 2009. XII, 1092 S. gr.8°. Lw. US$ 80,00. ISBN 978-0-664-22052-5.

Rezensent:

Martin Hailer

»My aim in this project is to think through the agenda of theological anthropology in a way shaped from beginning to end by the triunity of the God with whom we have to do.« (46, vgl. 441) Diese Bemerkung David H. Kelseys, Emeritus an der Yale Divinity School, ist der Schlüssel sowohl zur Gliederung des Werkes als auch zu einer anderen formalen Eigenart.
Nach einführenden Erwägungen (1–156) wird der Stoff der Anthropologie als Diskussion der Ökonomie der trinitarischen Personen in Hinblick auf den Menschen behandelt. Der Vf. sortiert in der Reihenfolge Vater (»Created: Living on Borrowed Breath«, 159–438), Geist (»Consummated: Living on Borrowed Time, 441–602) und Sohn (»Reconciled: Living by Another’s Death, 605–889) und lässt dem zusammenfassende Argumentationen (893–1051), Bibliographie und Index folgen. Die Abwandlung der üblichen Reihenfolge Vater – Sohn – Geist indiziert den durchgängigen Zug der Gegenwartsbezogenheit: Die Themen der futurischen Eschatologie erscheinen im mittleren Hauptteil, der dritte wendet sich in Termini der Christologie wieder der Anthropologie der alltäglichen Gegenwart zu. Jeder dieser Hauptteile hat einen eigenen hamartiologischen Abschnitt, der diese Gliederungsentscheidung mit den klassischen drei paulinischen Begriffen verständlich werden lässt: S ünde im Angesicht des Werkes des Vaters entstellt die Existenzfülle des Glaubens, die im Angesicht des Werkes des Geistes die Exis­tenzfülle der Hoffnung und Sünde im Angesicht Christi die Existenzfülle der Liebe. Dies und der Umstand, dass die Hamartiologien jeweils gegen Ende des Hauptteils kommen (Begründung: 1036), zeigt eine charakteristische Brechung des tradierten Exitus-reditus-Schemas, das die Dogmatik weithin beherrscht: Das Hier und Jetzt des Lebens vor und mit Gott steht zur Durchmusterung an.
Der Vf. bezeichnet sein Projekt als »theocentric theological an­thropology« (78 u. ö.) Das kann man als Anklang an James M. Gus­tafsons »Ethics from a Theocentric Perspective« (1983/1992) hören, zumal der Vf. auch deren Sachanliegen teilt: Gustafson fragte sich, ob es eine unterscheidend christliche Ethik überhaupt gebe, und antwortete, sie bestünde nicht in Sondermethoden oder -normen, wohl aber im Ausschreiten des Wirklichkeitsverständnisses der Gott-Perspektive. Vergleichbar sagt der Vf., dass es einen isolierten Topos namens »Anthropologie« nicht gibt, sondern dass die theologische Rede vom Menschen im Ausschreiten der Fülle der Themen sichtbar wird, wie Gott an und mit den Menschen handelt. Wieder also wird die Loci-Dogmatik kritisch befragt, die sich zumindest in weiten Teilen auf einen Locus »De homine« verständigt hat, häufig in apologetischer Absicht (vgl. 80–119: »The Kinds of Project This Isn’t«). Ein Nebeneffekt dieser Grundentscheidung ist, dass beinahe alle Themen der Dogmatik abgeschritten werden, auch solche, die man in einer Anthropologie nicht erwarten würde, wie etwa Schrifthermeneutik (132 ff.458 ff.649 ff.) oder Detaildiskussionen zur Trinitätslehre (46 ff.120 ff.).
Alle drei Hauptteile sind über weite Teile als systematischer Anschluss an exemplarische Exegesen entworfen. Die erste Überraschung in einem Werk, das seine presbyterianische Herkunft sonst nicht verleugnet, ist, dass der Vf. für den 1. Hauptteil die alttestamentliche Weisheitsliteratur als Gesprächspartner wählt, und zwar gerade weil sie Schöpfungstheologie unter weitgehender Abkoppelung von der Versöhnung und Eschatologie betreibt. So kommt laut Vf. das Phänomen der alltäglichen Geschöpflichkeit des Menschen angemessen in den Blick (161.176 ff.235.250–270.337–356). Es geht um »God’s attentive delight in creation« (191). Dieser zumindest für die deutschsprachige Diskussion innovative Zug führt zu interessanten Ergebnissen. Formen des alltäglichen Le­bens werden als konkrete Ausgestaltung Gott lobender Dankbarkeit (»doxological gratitude«) und entsprechend ihre Verdrehung und Zerstörung als Böses und Sünde beschrieben (212–214.333–356.402–421). Der Vf. betreibt hier eine Phänomenologie des alltäglichen Lebens, bei der Dogmatik und Ethik (von expliziter Moraltheorie aber zu unterscheiden, 739) wie selbstverständlich ineinandergehen, weil die Beschreibung einer Lebensform von der Beschreibung des ihr angemessenen Handelns nicht zu trennen ist.
Kurzformel: Wir sind »finite creatures called by God to be wise for the well-being of the quotidian, including ourselves; hence our personal identities are appropriately reflected in our responsive loyalty to God’s own loyalty to the quotidian and its well-being« (338). In kritischer Weise setzt der Vf. sich im Zuge dieser Erkundungsgänge vor allem mit dem modernen Personbegriff auseinander, der Person als selbstreflexive Ich-Identität beschreibt. Dem wird hohe Reduktivität vorgeworfen und ein entsprechend kritisches Bild der sich darauf berufenden protestantischen Theologie gezeichnet (268–297.357–401).
Der zweite Hauptteil ist pneumatologisch zentriert und entfaltet die Themen der Anthropologie, die in den Blick kommen, wenn man Gottes Werk dahingehend betrachtet, dass er seine Geschöpfe der endgültigen Vollendung entgegenführt. Die Leitvorstellung dabei ist, dass ein solches menschliches Leben aus von Gott geliehener Zeit gelingen kann (480 f.).
Der Vf. entwickelt das von der Unterscheidung von futurum und adventus her und versteht Gottes Zukunft und die von ihr geliehene Zeit rein vom Adventus-Aspekt her als sein wirklichkeitssetzendes Versprechen ebendieser Zukunft für seine Geschöpfe (452–455). Das trägt ein teleologisches Moment (»goal-oriented movement of God’s creative blessing«, 480, vgl. 518) herein, das vom schöpfungstheologischen Aspekt nicht abgebildet wird. Dem entspricht als menschliche Haltung ein Leben aus freudiger Hoffnung, der Vf. entfaltet sie als eine Art Basis-Habitus des christlichen Lebens, als »settled and long-lasting … complex responsive attitude« (503), die aus Gottes Advent kommt und für die, die in ihr leben, entsprechend »eccentrically, from outside itself« (504) kommt. Das »how«, »who« und »what« eines solchen Lebens kann nie vollständig beschrieben werden, wohl aber legt der Vf. Erkundungsgänge vor, bei denen es u. a. um die wesentliche Sozialität eines solchen Lebens geht, das die intellektuellen, imaginativen, leidenschaftlichen und emotionalen Res­sour­cen eines Menschen anfasst und verändert. Im weitesten Sinne ist ein solches Leben eucharistisch zu nennen, weil es an der »eucharistic or thankful celebration of the inauguration of eschatological blessing« (520) teilnimmt. Es schließt das Zugehen auf Gottes Gericht ausdrücklich ein (533–536). Neben vielen anderen Aspekten bietet der Vf. in diesem Abschnitt auch eine Rekonstruktion der paulinischen Rede vom Auferstehungsleib (552–557). Das ist nicht nur exegetisch geboten, sondern in der Gesamtanlage des Projekts konsequent, da der Vf. durchgängig von »living bodies« oder »personal bodies« spricht, um einen Leib-Seele-Dualismus zu vermeiden.
Im dritten Hauptteil wird das Phänomen der Liebe als anthropologische Entsprechung zu Gottes versöhnendem Handeln breit entfaltet. Der Vf. legt hierfür ausführliche Exegesen zur Bergpredigt vor und entwickelt anhand ihrer Überlegungen, wie die Grundhaltungen eines Lebens in Entsprechung zu Gottes versöhnendem Handeln aussehen könnten (765–827 u. ö.). Wie schon in den anderen Teilen ist der Kernbegriff hierfür »flourishing life«, dem deutschen ab etwa den achtziger Jahren üblichen »gelingendem Leben« nicht unähnlich. Dies gelingt, wo Menschen »radically eccentric« (718) sind, d. h. in Beziehung zur ihnen äußerlichen Liebe Gottes im Ereignis Christus stehen. Die entsprechende Hamartiologie versteht Sünde als Verzerrung/Entstellung (»distortion«) der Strukturen eines solchen Lebens, auch und gerade da, wo es als Leben vor Gott angelegt ist (847 ff.1041). Kernpunkt ist demnach der soziale Charakter der christlichen Existenzform. Der Vf. wehrt sich bündig gegen ein Verständnis des Glaubens als interne Bewusstseinstat­sache: »To be ›in Christ‹ … is something public and observable.« (697, vgl. 815.830–833) Entsprechend ist von Sünde auch immer in struktureller Hinsicht die Rede.
Beinahe schon provozierend spät, nämlich erst in den »Codas« (893 ff.), kommt der Vf. auf den anthropologischen Kernbegriff der imago Dei zu sprechen. Die strukturelle Eigenart des Werks wird hier deutlich. Jeder der Hauptteile berichtet von einem Narrativ der Gottesbegegnung, das auf die anderen nicht abbildbar ist und eigener Logik gehorcht. Es ist deshalb falsch, Anthropologie an Hand eines Kernkonzepts allein zu entwickeln. Die drei Narrative sind viel eher einer Tripelhelix zu vergleichen: Umeinander ge­wunden, einander wechselseitig erklärend, aber eben nicht identisch (897–900.914). Das ist das Interpretationsangebot des Vf.s für eine ökonomische Trinitätslehre in anthropologischer Hinsicht. In Sachen imago argumentiert der Vf. aufgrund ausführlicher Exegesen (922–1007), dass der Begriff als menschliche Wesensbeschreibung nur abgeleitet infrage kommt. Erst neutestamentlich kommt er zur vollen Geltung in der Identifikation Christi als Bild Gottes (1002 u. ö.). Das zeigt sich darin, dass Christus die dichteste Realisationsform der drei Handlungsweisen Gottes an dem, was nicht Gott ist, ist. Die Imago-Existenz der Menschen ist sodann »eccentric existence as imaging the image of God« (1008, Zusammenfassung 1026–1033).
Diskussionen müssen andernorts geführt werden, etwa die, ob eine Christologie, die die paradigmatische Existenz Christi in den Mittelpunkt rückt, von einer Vorbildchristologie ausreichend weit entfernt ist. Insgesamt jedoch: Es handelt sich um ein opus magnum, und zwar nicht nur des Vf.s, sondern der gesamten Disziplin. Eine umfassende Anthropologie, gelehrt, profiliert und konstruktiv, im engen Gespräch mit der Exegese und zugleich ohne überflüssige historische Belehrungen, nicht zuletzt ökumenisch dia­-log­offen. Die amerikanische Diskussion ist seit Erscheinen der Bände lebhaft und kontrovers (vgl. C. Pickstock, MoTh 27 [2011], 26–40; D. Burrell/J. Wood, IJST, Juni 2011), der deutschsprachigen kann man das nur dringend ans Herz legen.