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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1227-1228

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Gietenbruch, Felix

Titel/Untertitel:

Höllenfahrt Christi und Auferstehung der Toten. Ein verdrängter Zusammenhang.

Verlag:

Wien-Berlin-Münster: LIT 2010. 200 S. gr.8° = Studien zur systematischen Theologie und Ethik, 57. Kart. EUR 18,90. ISBN 978-3-643-80040-4.

Rezensent:

Markwart Herzog

Felix Gietenbruchs an der Universität Basel entstandene Lizentiatsarbeit stellt die Geschichte des Lehrstücks vom »descensus ad inferos«, der sog. »Höllenfahrt Jesu«, dar und erkundet neue Wege, um dessen Wahrheit zu begründen. G. sucht nach Antworten auf die »Jenseitsfrage als Frage des modernen Menschen«, eine Frage »nach einer Hoffnung, die über den Tod hinaus geht« (12). Den Wahrheitsanspruch dieser Antworten begründet er im Kontext von Nahtoderfahrungen und übersinnlichen Erlebnissen. G. argumentiert gegen den Mainstream der zeitgenössischen protestantischen Theologie, die unter dem überwältigenden Eindruck der reformatorischen Rechtfertigungslehre eine Weiterentwicklung der Persönlichkeit nach dem Tod ablehnt (vgl. 19–21).
Der erste Hauptteil rekapituliert die historische Entwicklung des Theologumenons der Höllenfahrt. G. weist der Anastasis-Ikone, dem Osterbild der Ostkirche, eine Schlüsselfunktion zu: Sie zeigt den auferstehenden Christus, der Adam und Eva und andere Tote aus der Unterwelt erlöst. Die Ikone dramatisiert den Zweck der Höllenfahrt als österlichen »Befreiungs- und Erlösungsakt« (28), indem sie die Auferstehung Jesu nicht als isoliertes Geschehen, sondern im Verbund mit einer Auffahrt der Toten aus der Unterwelt darstellt. Wie der Untertitel der Lizentiatsarbeit signalisiert, sei dies ein in der okzidentalen Theologie »verdrängter Zusammenhang«. Der Westen konzipiere Jesu Auferstehung als singuläres Ereignis, das die allgemeine Auferstehung der Toten davon abtrenne und auf den Jüngsten Tag »vertage« (vgl. 30–32). Die Ostkirche indes sehe in der Anastasis einen nicht nur solidarischen, sondern auch präsentischen soteriologischen Akt, der eine »Auffassung der Erlösung mitten in der Geschichte« (42) begründe.
Im zweiten Hauptteil geht es G. um die Wahrheit des Descensus-Glaubens. Dabei wendet er sich gegen die existentiale Hermeneutik (86–89) und die empiristischen Engführungen eines »re­-duzierten Erfahrungsbegriffes« (90–106). Damit soll der Weg frei gemacht werden für ein »transzendenzoffenes Weltbild«. Diese er­kenntnistheoretische Weichenstellung verbindet G. mit einem ontologischen Argument: Er stellt die in der westlichen Theologie petrifizierte Trennung von Geist und Materie in Frage und plädiert für einen »hylischen Pluralismus« (51.98). Demzufolge komme der Seele eine »feinstoffliche Geistleiblichkeit« (105) zu. Auf der Basis dieser epistemologischen und ontologischen Grundannahmen wendet sich G. der Parapsychologie und der Erforschung von Nahtoderfahrungen zu.
Mithilfe spiritistischer Phänomene will er den positivistisch »reduzierten« Natur- und Erfahrungsbegriff erweitern, um die Bibel als wohlbegründete »Fundgrube paranormaler Phänomene« (113) auszuweisen. Die Höllenfahrt Christi sei ein Anwendungsfall für den von G. verfochtenen »okkulten Empirismus« (115). Die spiritistische Hypothese personaler Wesenheiten, die in einem räumlichen Jenseits existieren, mit einer feinstofflichen Leiblichkeit ausgestattet sind und auf die materielle Welt einwirken können, »stellt schlicht die Grundlage für ein transzendenzoffenes Weltbild dar« (126), das für die Theologie von existenzieller Bedeutung sei. Ebenso lieferten Nahtoderfahrungen keine rein innerpsychischen Er­lebnisse, sondern Erfahrungen »einer objektiv bestehenden, jenseitigen Welt« (156).
G.s ebenso »spekulative« wie »visionäre« (160.162) Theologie stellt den individuellen Akt der Höllenfahrt als Anfang der allgemeinen Totenauferstehung als einen Heilsweg dar, in den alle Menschen eintreten und im Jenseits einem Läuterungsprozess unterliegen, der in die kosmische Allerlösung einer vollendeten Schöpfung mündet (164.169). Er bietet ein mutiges Plädoyer für eine Soteriologie, die Höllenfahrt und Auferstehung, individuelle und allgemeine Eschatologie mit der Vision der Apokatastasis verbindet. Zugleich will G. dem Descensus-Glauben einen aktuellen Sinn verleihen, mit dem er sich der Position einer »Auferstehung im Tode« nähert (16.172) und das Jenseits als Sphäre einer postmortalen Weiterentwicklung der Totenseelen konzipiert. Dieses Erlösungsverständnis verfolgt darüber hinaus das katechetische Ziel, die Befriedigung religiöser Bedürfnisse aus der Esoterik in die Kirche zurückzulenken.
In einigen Punkten wünscht man sich gleichwohl eine etwas stärkere »Erdung« des visionären Überschwangs: Einerseits setzt sich G. nicht mit dem naheliegenden Einwand auseinander, dass seine Eschatologie dem Ernst des sittlichen Sollens, hier und jetzt das Gute zu tun, entgegenstehen könne. Andererseits liefern spiritistische Phänomene und Nahtoderfahrungen sicher Hinweise, die in die Richtung eines »transzendenzoffenen Wirklichkeitsverständnisses« gedeutet werden können. Ob sie allerdings stark ge­nug sind, um die Wirklichkeit und Erkennbarkeit eines Jenseits und eines Erlösungswegs im Jenseits zu begründen, darf bezweifelt werden. Denn G. setzt zu sehr auf einen Bruch mit naturwissenschaftlicher Erkenntnistheorie, anstatt sinnvolle theologische »Anschlussofferten« in Betracht zu ziehen.