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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1225-1227

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Etzelmüller, Gregor

Titel/Untertitel:

… zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn. Eine biblische Theologie der christlichen Liturgiefamilien.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Lembeck 2010. 575 S. gr.8°. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-87476-615-9.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Diese Heidelberger systematisch-theologische Habilitationsschrift von Gregor Etzelmüller geht nach der Methode der vergleichenden und systematischen Liturgiewissenschaft vor. Die seinerzeit von Romano Guardini als »systematisch« propagierte Methode soll die liturgischen Kategorien nicht deduktiv im Vorhinein festlegen, sondern diese (induktiv) aus den liturgischen Gegebenheiten entwickeln (33, Anm. 56). E. folgt diesen Prinzipien und legt eine in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Studie vor. Das »Vergleichende« bezieht sich dabei weniger auf die Liturgiegeschichte, sondern vor allem auf die biblischen Wurzeln der gegenwärtigen liturgischen Praxis der Kirchen. Besonders hervorzuheben ist, dass bei dem Vergleich auch die amerikanischen Pfingstkirchen und ihre methodistischen Wurzeln genau in den Blick kommen, die von der kontinentalen Liturgiewissenschaft bisher nur wenig zur Kenntnis genommen worden sind (Kapitel 6, »Die Biblizität des missionarischen Gottesdienstes der amerikanischen ›revival tradition‹«, 253–312).
Neu ist auch der ökumenische Ansatz dieser Studie. Stand die liturgische Entwicklung der europäischen Kirchen in den letzten Jahrzehnten im Zeichen der zunehmenden Annäherung (katholische Stärkung von Predigt und Verständlichkeit, evangelische Neuentdeckung von Mahlfeier und Ritualität), so nimmt E. einen Perspektivwechsel vom Gemeinsamen zur Differenz vor. Exegese und ökumenische Theologie haben laut E. viel zu lange nach dem Kanon im Kanon gesucht, anstatt sich mit den inhaltlich bestimmbaren Grenzen des Kanons zu beschäftigen (506, Anm. 48). Dabei versteht E. das Unterscheidende aber nicht als trennend, sondern – nach dem Modell der biblischen Kanonhermeneutik – als impulsgebend und bereichernd. Die Kirchen sollten im Gottesdienst darum laut E. nicht weiter nach dem Gemeinsamen suchen, weil ja das Verbindende im gemeinsamen Bezug auf die Bibel in ihrer Vielfalt bereits gegeben ist. Sie sollten einander vielmehr durch den Blick auf ihre liturgischen Stärken und Spezifika vor Einseitigkeiten bewahren: »Wie aber der Kanon die priesterschriftliche und die deuteronomische Kultkonzeption unvermittelt nebeneinander stehen lässt, so kann es auch in der gegenwärtigen Ökumene nicht darum gehen, diese Differenz im Sinne einer Einheitsliturgie und -kulttheologie zu überwinden. Im ökumenischen Dialog sollte es stattdessen darum gehen, eine gemeinsame Grenzsensibilität zu entwickeln.« (499)
Diese These bestimmt die weit ausgreifende Studie, die einfach und klar gegliedert ist: Nach einer Einleitung behandelt E. in Teil I in fünf »Fallstudien« die orthodoxe, katholische, lutherische, reformierte und freikirchliche Liturgiefamilie hinsichtlich ihrer unterschiedlichen »Biblizität« (37–312), bevor er in Teil II den liturgischen Pluralismus zusammenfassend »im Lichte der biblischen Überlieferungen« darstellt (313–521). Es folgen 50 Seiten Quellen- und Literaturverzeichnis (525–575).
Hervorzuheben ist die gesamtbiblische Perspektive, die in dem zusammenfassend vergleichenden alttestamentlichen (355–416) und neutestamentlichen (417–482) Kapitel zur Sprache kommt. Klärend sind besonders die Hinweise zum altorientalischen »Kultkreislauf« (360–366) sowie zum Zusammenhang von Kult und Recht (380–383). E. stellt fest, dass es zwar mit einzelnen Psalmen (Ps 34 zur Kommunion) sowie mit Kyrie, Gloria, Vaterunser und verba testamenti nur sehr wenige gemeinsame Texte in allen Liturgien gibt (343–348). Aber er macht dann einander überschneidende biblische Traditionen als das die fünf Liturgiefamilien eigentlich Bestimmende aus. So lebt die orthodoxe Liturgie von der Tempeltheologie, Theophanie und der »Emmaus-Struktur« als Epiphanie des Auferstandenen. In der tridentinischen Messe standen Bitt- und Sühnopfer im Vordergrund, wobei entsprechend der levitischen Tempeltheologie eine mitfeiernde Gemeinde nicht notwendig war, während die Messreform des II. Vatikanums mit der Leitkategorie des »Pascha-Mysteriums« das letzte Mahl Jesu mit den Seinen in den Vordergrund rückte – durchaus ähnlich wie die lutherische Messe, die aber auf das Messpriestertum und den Tempelbezug verzichtete. Die reformierte Liturgie kann als feierliches öffentliches Gebet im Anschluss an tempeltheologische Vorstellungen sowie an das Johannesevangelium verstanden werden. Die pfingstlichen Gottesdienste dagegen sind orientiert an allem, was neu macht, also an Heilung, Auferstehung und Bekehrung (u. a. an der Bekehrung des Paulus nach Apg 9), aber auch an archaischen enthusiastischen Traditionen der Frühzeit wie der Ladeerzählung.
Eine breite Würdigung erfährt in diesem Zusammenhang die Zungenrede als ein demokratisierendes liturgisches Element. Dieses stellt für E. nicht nur »einen niederschwelligen Zugang zur religiösen Kommunikation« dar, sondern gilt ihm auch als ein »funktionales Äquivalent zum Sanctus-Gebet der klassischen Groß-kirchen« (457). Man wird hier vorsichtig zustimmen und die Beo­b­achtung hinzufügen können, dass bisweilen auch die Hochgebildeten und diskursiv Beanspruchten zu dieser Art von liturgischer Regression Zugang finden und dass diese Tatsache bisher noch kaum zur Kenntnis genommen wird.
Für die kirchliche Praxis sind E.s Anmerkungen zur Unterscheidung zwischen dem sog. »1. und 2. Programm« von Gottesdienst wichtig. Eine einzige Gottesdienstform mit Abendmahl kann nach E. nicht missionarisch wirken. Die evangelische Kirche der Gegenwart benötige auf jeden Fall eine zweite, einladende Form, die sich explizit an die Außenstehenden richtet. Es ist allerdings bekannt, dass gerade auch die in den letzten Jahren entwickelten und er- folg­reichen Formen des »2. Programms« (Thomasmesse, »GoSpecial« u. a.) wiederum eher von den Hochverbundenen angenommen und mitgestaltet werden. Ein missionarisches Ereignis im Sinne der Pfingstkirchen kann man dergleichen jedenfalls in Deutschland bisher nicht nennen.
Die ausführliche Darstellung der amerikanischen »revival tradition« aus den Quellen schließt eine empfindliche liturgiewissenschaftliche Lücke, und man wird auf dieses spannend geschriebene Kapitel sowie auf die daraus entwickelten Argumentationen künftig gern zurückgreifen. Besonders auch der Abschnitt zur »Verhältnisbestimmung von Enthusiasmus und Ordnung« (449–466) hat mich in seiner besonnenen Dialektik überzeugt. E. verschweigt nicht seine Sympathie für die pfingstlichen Impulse, übersieht dabei aber keineswegs das großkirchlich ordnende Anliegen. Beachtenswert ist auch die von E. mehrfach geäußerte Kritik an der sündentheologischen Ausdünnung des evangelischen Gottesdienstes in der Gegenwart, wie diese im evangelischen Gottesdienstbuch von 1999 in der Selbstprüfung vor dem Abendmahl greifbar ist (181.434, Anm. 64).
Insgesamt leistet die Arbeit einen neuartigen Beitrag zu einem ökumenischen »Vertrauensvorschuss« in Sachen Gottesdienst. Wenn die evangelische Theologie den anderen Liturgiefamilien nicht ihre Biblizität abspricht, aber dafür plädiert, in Sachen Bibelbezug genau hinzusehen und das Problematische auch problematisch zu nennen – wie besonders die kirchliche Darbringung von Leib und Blut Christi in neueren Hochgebeten (509 f., Anm. 55), dann kann sie damit rechnen, Gehör zu finden oder wenigstens die richtigen Anstöße gegeben zu haben.
Die Studie verhilft zu einer genauen liturgietheologischen Ur­teilsbildung im biblischen und gesamtkirchlichen Horizont. Man kann allerdings fragen, ob nicht die allzu umfangreiche Form der Darstellung der (kirchlichen) Rezeption entgegensteht. Einiges in den zusammenfassenden Kapiteln des II. Teiles hätte – gerade im Interesse der Durchschlagskraft der Thesen E.s – durchaus gestrafft werden können.
Das Buch ist sehr gut lektoriert. Leider fehlen ein Sach-, Personen- und (hier besonders schade) ein Bibelstellenre­gister.