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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1221-1222

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Sarasin, Philipp, u. Marianne Sommer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch.

Verlag:

Stuttgart-Weimar: Metzler 2010. XI, 424 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-476-02274-5.

Rezensent:

Hans-Dieter Mutschler

Dieses interdisziplinäre Handbuch ist eingeteilt in vier Kapitel. I: Konzepte, Begriffe und Begriffsgeschichte. In gut lesbaren, knappen, aber informativen Artikeln werden Begriffe behandelt, wie Anpassung, Natur, Kultur, Art, Zufall usw. Teil II handelt über Theorien und Debatten in der Biologiegeschichte, Teil III über Institutionen und Repräsentationen, Praktiken und Objekte, also über Museen, Vereine, Datenbanken usw. Teil IV über Einflüsse, Verbindungen, Auswirkungen, also über Ökonomie, Ethik, Soziologie, Politik, Kunst und Literatur. Interessiert man sich nur für innerbiologische Tatbestände oder für den Einfluss des Evolutionsdenkens auf andere Gebiete, dann scheint man erst einmal mit diesem Buch sehr gut bedient, denn die diesbezüglich gebotenen Informationen sind ebenso knapp wie kompetent.
Leider endet der positive Eindruck bereits hier. Denn abgesehen davon, dass ältere Semester die winzige 7-Punkt-Schrift ohne Leselupe nicht werden bewältigen können, ist man doch sehr erstaunt, dass das Buch zwar ein Personen-, nicht aber ein Sachregister enthält – ein absolutes Muss für ein Handbuch. Aber selbst das Personenregister enthält Fehler über Fehler. Viele der im Text erwähnten Personen kommen im Register überhaupt nicht oder an falscher Stelle vor – wie z. B. Pierre Teilhard de Chardin, von dem die Autoren glauben, dass Chardin sein Nachname sei. Weil das Buch aber auch kein generelles Literaturverzeichnis enthält, läuft das bei der Fehlerhaftigkeit des Personenverzeichnisses darauf hinaus, dass man oft keine Literaturrecherchen machen kann. Z. B. fehlt im Personenverzeichnis der sehr wichtige Autor John Dupré, der aber in den Artikeln häufig erwähnt wird. Wo finde ich seine Werke?
Oder was mache ich, wenn ich wissen will, was ›Leben‹ eigentlich ist, oder worin die Differenz zwischen Teleologie und Telonomie besteht oder was man unter Soziobiologie oder Evolutionärer Erkenntnistheorie versteht? Weder Stichwort noch ein diesbezüglicher Artikel werden einem weiterhelfen. Und falls über diese Themen in irgendeinem Artikel versteckt die Rede ist, wird man sie dort nicht finden. Ohnehin ist erstaunlich, was in diesem Handbuch alles fehlt: fast die gesamte Wissenschaftstheorie der Biologie, die seit 20 Jahren so intensiv betrieben wird. An philosophischen Artikeln findet man lediglich die allerdings ausgezeichneten Ausführungen der Autoren Michael Hampe zur Philosophie im All­-gemeinen, zur Ethik von Hans-Werner Ingensiep und zum Natur-Kultur-Verhältnis von Kristian Köchy. Dann ist aber auch schon Schluss. Z. B. steht in diesem Buch nichts über ökologische Sys­temtheorie, über ökologische Ethik oder über den ontologischen Status von Lebewesen. Wenn das dem begrenzten Raum ge­schuldet sein sollte, weshalb reichte dieser Raum dann für »Populäre Repräsentationen«, für Literaturwissenschaft und Film?
Man findet in diesem Buch auch nichts über die philosophische Tradition des Lebensbegriffs. Die beiden wesentlichen Autoren in dieser Hinsicht sind Aristoteles und Kant. Beide werden in den Texten häufig erwähnt, aber nicht in der Hinsicht, die uns hier interessieren würde. So werden wir über die Aristotelische Katharsislehre oder über seine Kosmologie aufgeklärt, aber nicht über seine Physis-techne-Parallele oder über seine Entelechielehre (die höchs­tens in einem Nebensatz gestreift werden) oder über Kant lernen wir ebenfalls Vieles bezüglich seiner Kosmologie und Ästhetik, hören aber kein Wort über seine Philosophie der Biologie in der Kritik der Urteilskraft. Konsequenterweise ignoriert das Handbuch all die bedeutenden Versuche doppelt qualifizierter Biologen und Philosophen, die Tradition für die moderne Diskussion fruchtbar zu machen, also Autoren wie Christoph Rehmann-Sutter, Georg Toepfer, Christian Illies oder Nicole Karafyllis, alles doppelt qualifizierte Biologen und Philosophen allein aus dem deutschen Sprachraum. Aber so weit müsste man ja nicht gehen. Köchy, Ingensiep und Hampe hätten ja auch die Lücken füllen können. Nach Hinweisen auf Autoren wie Reinhard Löw, Hans Jonas, Eva-Marie Engels usw. wagt man schon gar nicht zu suchen.
Sehr ärgerlich ist auch die Abwesenheit der Theologie und der gesamten Science-and-religion-Debatte. Stattdessen finden wir einen vernichtenden Artikel über Kreationismus und Intelligent Design. Die Autoren geben im Vorwort an, sie hätten niemand für die Theologie gefunden, was unglaubwürdig ist. Allein im deutschen Sprachraum gibt es viele doppelt qualifizierte Theologen und Biologen wie Ulrich Lüke oder Christian Kummer, die dem hätten abhelfen können, geschweige denn im angelsächsischen Bereich, auf den man sich ansonsten ja auch stützt.
Dieses Handbuch erinnert an ähnliche Handbücher, die man aus den USA kennt. Auch dort beobachtet man ähnliche Defizite, insbesondere dies, dass die Religion nur in ihrer Zerrform als Fundamentalismus wahrgenommen wird, während die Leistungen doppelt qualifizierter Theologen und Naturwissenschaftler wie Arthur Peacocke, John Polkinghorne oder Ian Barbour souverän übergangen werden. Demzufolge kann der Band noch nicht einmal einem Leserkreis empfohlen werden, dessen Interesse sich auf innerbiologische Begrifflichkeiten und das Verhältnis von Biologie zu einigen anderen Disziplinen beschränkt, denn was soll man mit einem Handbuch anfangen, in dem man vergeblich nach Auskunft über die Evolutionäre Erkenntnistheorie sucht und das einen der wesentlichen Urväter dieser Theorie, nämlich Gerhard Vollmer, ignoriert?