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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1219-1220

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Große, Jürgen

Titel/Untertitel:

Philosophie der Langeweile.

Verlag:

Stuttgart-Weimar: Metzler 2008. VIII, 199 S. gr.8°. Geb. EUR 39,95. ISBN 978-3-476-02281-3.

Rezensent:

Philipp David

Lange galt die philosophische Rede vom Menschen als einem vernunftbegabten Wesen (animal rationale) als maßgebliche anthropologische Denkungsart. Dass der Mensch auch durch Affekte, Gefühle und Stimmungen bestimmt wird und sie konstitutiv für das Erfassen von Welt sein könnten, war zwar nicht unbekannt, aber eher verdrängt worden und kein naheliegender Zugang zum Menschsein und zur Metaphysik. Zwar hat die theologische Haltung zu den Stimmungen, insbesondere der Acedia, Melancholie und Langeweile, auch immer die philosophische Reflexion mitbestimmt, aber eigens theologisch thematisiert wurden diese deswegen schon lange nicht mehr. Eine Wiedererinnerung an die Temperamente könnte jedoch zu einem umfassenderen Bild vom Menschen führen. Nun vermag sicher keine philosophische Studie allein, den theologischen Blick wieder auf die Stimmung der Langeweile zu richten, aber sie kann einen Überblick über die beiden philosophischen Problemlinien »Deutungen der Langeweile« und »Erkenntnisgehalt von Stimmungen« geben und aufzeigen, dass die Langeweile zu den metaphysisch privilegierten Stimmungen gehört, die gar in der Lage war, das Staunen als Anfangsgrund der Philosophie zu verdrängen. Doch zunächst kommt uns meist der alltagssprachliche Zugang zur Langeweile in den Sinn. Und wer kennt sie nicht, die Stimmung der Langeweile, die vielen Menschen gerade dort begegnet, wo Theologinnen und Theologen ihre Sache zu vertreten scheinen: im kirchlichen Gottesdienst, im schulischen Religionsunterricht, bei akademischen Vorträgen oder im universitären Seminar.
Diese Erfahrungen allein sollten Anlass genug sein, um der Langeweile auch theologisch auf den Grund zu gehen, da in ihr etwas Spezifisches über das Menschsein zum Ausdruck kommt. Das geht allerdings nicht ohne Kenntnisse der psychologischen, soziologischen, philosophischen und metaphysischen Debattenlagen, denen Jürgen Große in seiner Studie nachspürt. Schließlich hat man der Langeweile als empirisch, therapeutisch und metaphysisch »vertrautes Phänomen« (1) aufgrund ihrer historischen Transformation eine Schlüsselstellung für Fragen nach Zeit, Sinn, Nichts, Übel eingeräumt, wie auch zur Spezifik metaphysischen Fragens selbst bei Heidegger (30–34) und Cioran (34–38). Diese Beobachtung führt zur Arbeitshypothese der Studie: »Langeweile muß ihres anlaßbezogenen affektiven Status schrittweise entkleidet worden sein, muß vornehmlich als gegenständlich unbestimmte, dadurch aber metaphysisch deutungsfähige und -bedürftige Stimmung interessieren. Nur eine abstrakte, inhaltlich entleerte Stimmung kann zum Metaphysik-Vehikel werden – z. B. als ein Phänomen, das die Be­dingungen für Affizierbarkeit ihrerseits theoretisch verfügbar macht. Philosophischer Um­gang mit der Langeweile bzw. ›Leere‹ bedeutet den methodischen Verzicht auf ihre reale zugunsten einer hermeneutischen ›Füllung‹, sie fordert ein Aushalten und Ausdeuten der Leere. Diese philosophische Substitution ba­nalen ›Zeitvertreibs‹ wird metaphysisch um so ertragreicher sein, je aufwendiger die tatsächlichen – individuellen wie kollektiven – Bemühungen um einen Vertreib der durch Sinnleere lang geratenen Zeit schon geworden sind.« (1) Von dieser Warte aus gliedert G. seine Untersuchungen in vier Haupt­-teile, die von einer Einführung (»Zur Metaphysik einer Stimmung«; 1–5) und einem Epilog gerahmt sowie von Literaturverzeichnis (185–193) und Personenregister (195–199) be­schlossen werden.
Kapitel I (»Die Langeweile der Philosophen«; 7–50) stellt den Aufstieg der Langeweile zur metaphysischen Schlüsselstimmung dar und arbeitet insbesondere die Eigenart des philosophischen Um­gangs mit der Langeweile im Vergleich zu ihrer alltäglichen Erfahrung wie ihrer einzelwissenschaftlichen Deutung heraus. Aufgrund ihrer Stimmungsfundiertheit kann eine Metaphysik basierend auf Langeweile aber weder reine, weltentrückte Kontemplation noch bloße Gefühlsphilosophie sein, »sondern muß fundamentalontologisch jene Leere bzw. jenes Nichts dingfest machen, worin alles konkrete Seiende zu seinem Sinn und dieser zur Erfahrbarkeit kommen kann.« (2) Kapitel II verhandelt die »Anthropologie der Langeweile zwischen Kant und Schopenhauer« (51–86) unter der thematischen Verschränkung einer des Sinns entleerten Zeit einerseits und Zeit als Verwirklichungsmedium des Sinns andererseits. In Kapitel III (»Transformation in Geschichtsmetaphysik«; 87–134) wird die Ge­schichte des kontinuierlichen Emotionalitätsschwundes nacherzählt. Die Moderne kann sich lediglich als »Jetzt-Zeit« beschreiben. Sie wirkt inhaltlich unbestimmt und eigenschaftslos. Schließlich geht die Langeweiledeutung ein in die Pessimismus- und Nihilismusdiskussion. Die Allgegenwärtigkeit der Langeweile ist das Thema von Kapitel IV (»Zeitgenössische Deutungen«; 135–155). Langeweile wird als Erklärung für Enttäuschungen, Gewalt etc. herangezogen. Ihre fraglose alltägliche Präsenz wird jedoch als Rätsel gefasst.
Im Epilog (»Die neuzeitliche Langeweile im Dreieck von Liebe, Arbeit, Macht«; 157–184) geht G. abschließend der Frage nach: Weshalb ist die Langeweile neuzeitlich derart daseins- und auch deutungsmächtig geworden? Eine Antwort sucht G. mithilfe der mo­dernen metaphysischen Trias von Liebe, Arbeit, Macht. Doch vielleicht liegt sie auch in der Grundstimmung der »tiefen Langeweile« (Heidegger) begründet als essentielles Fragen an das Dasein, in der dem Menschen Wesentliches über sich selbst aufgehen kann. Und dieses könnte mitunter alles andere als langweilig sein.