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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1211-1213

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Brüggemann, Heinz, u. Günter Oesterle [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Walter Benjamin und die romantische Moderne. Hrsg. in Verbindung m. A. von Bormann, G. von Graevenitz, W. Hinderer, G. Neumann u. D. von Wietersheim.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. 585 S. m. Abb. gr.8° = Stiftung für Romantikforschung, 46. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-8260-4035-1.

Rezensent:

J. Christine Janowski

Das Werk des deutsch-jüdischen Denkers Walter Benjamin (1892–1940), dem keine akademische Karriere gegönnt war, so dass er sich bis zu seinem suizidalen Ende in der Flucht vor den Nazis als freier Schriftsteller, Übersetzer und Publizist durchschlug, sprengt die Grenzen der akademischen Disziplinen sowie Usancen und ein je­des philosophisches Systemdenken zugunsten des ihm Heterogenen, von ihm Marginalisierten. Aufgrund der Vielfältigkeit seiner Impulse, seines spannungsvollen Potentials und der Widerständigkeit auch von Benjamins Schreibweise ist die Rezeption seines Werks seit dem Abschluss der Ausgabe seiner Gesammelten Schriften gegenüber besonders der Benjaminrezeption im 68er Kontext international und interdisziplinär in eine neue Phase getreten. Das spiegelt sich in spezifischer Weise auch in diesem Sammelband – und zwar allein schon dadurch, dass der Fokus auf dem Begriff der »romantischen Moderne« liegt, der sich ohne Not und mit gelegentlich auch direktem Anhalt auf den gegenwärtigen Streit um die sog. Postmoderne beziehen lässt. Denn deren umstrittener Begriff hängt natürlich von dem der Moderne ab.
Der Sammelband enthält vor allem literaturwissenschaftliche und -theoretische Beiträge, dazu einige aus der (jüdischen) Ge­schichts-, der Kultur- und der Medienwissenschaft sowie der Philosophie, die insgesamt auch im Blick auf den Begriff der (romantischen) Moderne zum Teil höchst unterschiedliche Akzente setzen.
Die Einleitung der Herausgeber (9–38) führt vor allem knapp in Benjamins früh beginnende, sich dann verschiebende Auseinandersetzung mit der Romantik in ihren unterschiedlichen Gestalten und Grundaspekten ein, um zugleich aufgrund des von Benjamin schon in seiner Dissertation über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik von 1919 aufgewiesenen Zusammenhangs von Frühromantik (vgl. bes. Fr. Schlegel) und (ästhetischer) Moderne den Titel zu plausibilisieren.
In Teil I »Querschnitte und Panoramen« (39 ff.) werden be­sonders die kunsttheoretischen und geschichtsphilosophischen Aspekte von Benjamins Romantikbegriff, -rezeption und -kritik in sieben Beiträgen auf unterschiedliche Weise in den Blick genommen. I. Shedletzky setzt in ihrem Beitrag mit dem Titel »Romantisierte Aufklärung – aufgeklärte Romantik?« Benjamin in den Kontext der deutschjüdischen Romantikrezeption vom frühen 19. bis ins frühe 20. Jh. (von H. Heine bis zu M. Buber und G. Scholem), um abschließend L. Goldbergs Fortschrittsvision vom neuen säkularen Juden in einer neuen Gesellschaft im Essay »Mut zum Profanen« von 1938 (abgedruckt am Ende des Beitrags, 74 ff.) mit der katastrophischen Vision Benjamins vom »Engel der Geschichte« und dem »Sturm vom Paradies« aus »Über den Begriff der Geschichte« zu konfrontieren. U. Steiner führt u.a. in eine bisher unbekannte Handschrift des Briefes des von Benjamin hochgeschätzten F. Chr. Rang zu seiner Dissertation (Transkription und Faksimile, 113 ff.) ein, der Goethes Kunstphilosophie und die der Romantik nah aneinanderrückt, um damit der neueren These, dass die ästhetische Moderne um 1800 gleichursprünglich Klassik und Moderne umfasse, noch einmal mehr eine Stütze zu geben. G. Oesterle stellt Benjamins frühe Entdeckung einer anderen, aktuellen und nüchternen Romantik unter dem Titel »Die Idee der Poesie ist die Prosa« heraus und R. Simon in einem eindrücklichen Beitrag »Politiken des Romantischen (Benjamin, Schmitt)« in mehreren Gedankenschritten schließlich die These auf, dass Benjamin »trotz der Nähe zu dem konservativen Theoretiker in jedem Teil anders denkt, ist … wiederum der Romantik geschuldet« (188).
Teil II »Einzelwerke in romantischen Konzepten [bzw. Kontexten, vgl. 21!] und Referenzen« (191 ff.) enthält sieben Beiträge. Diese widmen sich u. a. Benjamins Trauerspielbuch unter dem Stichwort Allegorisierung versus Symbolisierung (M. Greiner), seinem Aufsatz zur Aufgabe des Übersetzers in seiner Affinität zu W. v. Humboldts Sprachtheorie (Chr. Kambas) sowie über Traumkitsch (B. Lindner), dem Nachleben von Benjamins Wahlverwandtschaften-Essay (V.Liska), das der These nach von einem vielfachen, fast humoresk einzustufenden literaturwissenschaftlichen Angriff auf Benjamins ästhetische, philosophische und theologische Auffassungen be­stimmt ist, aber ebenso von den Kräften, die – einer Ben­jaminschen Gedankenfigur entsprechend – aus ihrem Verfall hervorgehen (248, vgl. 250 ff.), ferner der Dekonstruktion von Sinnstiftung (vgl. »Austreibung des Scheins«) und zugleich einem ge­schichtsphilosophischen Pessimismus Benjamins ( H. Stenzel) vor allem in seinem Passagen-Werk.
Teil III »Themen und Motive« (341 ff.) konzentriert sich in fünf Beiträgen auf die in spezifischer Weise konstitutive Rolle des Vergessens in Benjamins und Tiecks poetischer Gedächtnistheorie (R. Borgards), auf Benjamin »und die Dinge« (D. Kimmich) als einem Thema, das alle anderen Themen seines Werkes einrahmen könnte, auch insofern es sich auf Zeitgenossen wie z. B. Kafka bezieht, auf Benjamins »romantische Astronomie« (A. Honod), auf sein Projekt »Phantasie und Farbe« (H. Brüggemann) als Bildtheorie des un- bzw. vorbegrifflichen, ungegenständlichen oder auch reinen Se­hens (vgl. auch Kind) und schließlich auf die »Wiederkehr der Gespenster« (L. Weissberg) im Ausgang von Dürers Stich »Melancholie« und dessen Einschätzung als symptomatisches Bild der frühen Neuzeit durch Benjamin.
In Teil IV »Philosophische Konstellationen« (465 ff.), die an sich längst schon mitpräsent waren und auch sein mussten, geht es vor allem um solche zeitgenössischer Art, in denen Benjamins Denken sich bewegt. So wird Benjamins exemplarische »gegenhistorische Lektüre Hölderlins« (P. Fenves) auf einen phänomenologischen Wahrheitsbegriff, auf den Funktionsbegriff der Marburger Schule und auf die spezielle Relativitätstheorie (vgl. Raumzeitlichkeit) zurückbezogen und damit die Erinnerung an seine Heideggerkritik verbunden. Benjamins Kritik an H. Cohens »Ästhetik des reinen Gefühls« (A. Deuber-Mankowsky) siedelt Benjamins philosophisches Konzept der Kunstkritik zunächst einmal zwischen Lebens- und neukantianischer Systemphilosophie an, um es dann durch Benjamins kritische Stellung zu M. Buber und St. George unter Rekurs auch auf E. Cassirer zu präzisieren. Es folgt ein Beitrag zu Benjamins spannungsvollem Geschichtskonzept (M. Motzkin) und – hochinteressant, aber leider ohne Bezug auf Benjamin – einer zu »Ironie und Kenosis. Von Kierkegaards zu Schmitts Kritik der romantischen Ironie« (Chr. Schmidt).
Teil V (551 ff.) ist dann dem aus verschiedenen Gründen längst schon präsenten Thema »Erinnerung« (vgl. auch Tradition) so gewidmet, dass Auszüge aus O. K. Kulkas, einem Auschwitz Überlebenden, »Landschaften der Metropole des Todes« (561 ff.), eingeleitet von H. Brüggemann, mit der »memoria passionis« (W. Benjamin) noch einmal mehr an die Grenzen der Sprache führen.
Der opulente Sammelband ist nicht nur bedeutsam für die Benjaminforschung und -rezeption, sondern auch für die interdisziplinäre Debatte um die Moderne – mit Folgen für die um die sog. Postmoderne. Abgesehen von gewissen methodologischen oder sprachlichen Problemen mancher noch so anregender Beiträge und von mancherlei Fehlschreibungen wird seine Rezeption leider erschwert durch den Ausfall des Bezugs der Beiträge aufeinander und zum Teil auch auf frühere Literatur, vor allem aber eines jeden Registers.