Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1208-1211

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Spalding, Johann Joachim

Titel/Untertitel:

Kritische Ausgabe. Hrsg. v. A. Beutel. Zweite Abtl.: Predigten. Bd. 5: Barther Predigtbuch. Nachgelassene Manuskripte. Hrsg. v. A. Beutel, O. Söntgerath, V. Look unter Mitarbeit v. M. van Spankeren, Ch. Weidemann, Ch. E. Wolff, R. Zastrow.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XXXV, 657 S. gr.8°. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-150574-4.

Rezensent:

Markus Wriedt

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Spalding, Johann Joachim: Kritische Ausgabe. Hrsg. v. A. Beutel. Zweite Abtl.: Predigten. Bd. 1: Predigten (11765; 21768; 31775). Hrsg. v. Ch. Weidemann unter Mitarbeit v. V. Look, O. Söntgerath, M. van Spankeren, Ch. E. Wolff, R. Zastrow. Tübingen: Mohr Siebeck 2010. LVII, 430 S. m. 1 Abb. gr.8°. Lw. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-150189-0.


In gewohnter Weise bibliophil ansprechend und in verblüffender Schnelligkeit erscheinen seit einiger Zeit die Bände der kritischen Spalding-Edition aus der zweiten Abteilung: Predigten. Das Müns­teraner Team der Bearbeiter und Herausgeber hat dies in den vergangenen Jahren u.a. darum schaffen können, weil in der ersten Abteilung und auch in den bereits erschienenen zwei Bänden der »Neuen Predigten« vorzugsweise gedruckte Quellen aufgenommen werden konnten. Das soll die Arbeit und teilweise äußerst schwierige Bibliotheksrecherche nach den Werken des vor der Ini­tiative des Gesamtherausgebers Albrecht Beutels relativ unbekannten pommerschen und später preußischen Theologen Johann Joachim Spalding nicht schmälern, sondern nur die Folie für die nun in Band 5 vorgelegte Edition handschriftlicher Quellenfunde abgeben. Der faksimilierte Abdruck auf S. XIV f. gibt beredt Auskunft, mit welchen Schwierigkeiten Herausgeber und Editoren frühneuzeitlicher Handschriften, insbesondere aber einer nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Kladde zu kämpfen haben. Umso mehr ist es der sechsköpfigen Forschergruppe zu danken, dass sie sich der mühseligen Arbeit der Dechiffrierung und druck­technischen Aufbereitung dieser in vielfacher Hinsicht wichtigen Quelle unterzogen haben.
Dass den Predigten Spaldings eine schlechterdings kaum zu überschätzende Bedeutung bei der breitenwirksamen Vermittlung aufgeklärt-neologischen Gedankengutes und der damit verbundenen Transformation reformatorischer Theologie im 18. Jh. zu­kommt, betont Beutel im Vorwort zu Recht. In einigen Aufsätzen hat er dies – gleichsam als Teilergebnis der Editionsarbeit – in der Vergangenheit deutlich gemacht. Doch nun liegen neben den gedruckten Texten auch die handschriftlichen Einträge des Barther Predigtbuches vor, die einen Einblick in die zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmten Verkündigungstexte des damaligen vorpommerschen Landpfarrers ermöglichen. In nuce und vor al­lem noch ganz in den Anfängen einer aufgeklärten homiletischen Praxis dokumentieren die Predigten und Predigtentwürfe den ge­danklichen Reflexionsprozess bei der Erarbeitung einer sonntäglichen Predigt und erlauben damit einen Blick in das Ar­beitszimmer des späteren Berliner Propstes und Konsistorialrates.
Zu betonen ist, dass die Herausgeber mit dieser Ausgabe ein bisher unzugängliches Original aus der frühen Berliner Zeit des Neologen Spalding vorstellen, auf dessen Existenz sich bisher in der Forschungsliteratur kein Hinweis findet. Im Original handelte es sich wohl um insgesamt 46 Einzelpredigten im Umfang von insgesamt 394 Seiten, die ursprünglich auf losen Doppelblättern notiert, von dem zunächst in Bonn als Praktischer Theologe tätigen, später als Konsistorialrat nach Magdeburg gewechselten Karl Heinrich Sack (1790–1862) zusammengebunden und mit einem handschriftlichen Titelblatt versehen wurden. So wurde es der Barther Kirche übergeben, wo Spalding als erster Prediger und Präpositus an der Synode in den Jahren 1757 bis 1764 gewirkt hatte, und überdauerte alle Wirren der folgenden 200 Jahre in der öffentlich nicht zugänglichen Kirchenbibliothek der evangelischen Kirchengemeinde St. Marien. Neben akribischen Hinweisen auf die Herkunft und Entstehung der Sammlung gibt das von Olga Söntgerath bearbeitete Einleitungskapitel minutiös Auskunft und editorische Hinweise, die u. a. sämtliche textkritischen Sigel erläutern sowie das methodische Vorgehen bei der Edition und der Umschreibung der schwer zu lesenden Handschrift dokumentieren (XI–XXIV).
Den »Glücksumstand« der Entdeckung des Manuskripts und weitere Hinweise zu dessen Provenienz liefert sodann Albrecht Beutel in seiner Einleitung (XXV–XXXI). Die Tatsache, dass diese Manuskriptsammlung so lange verborgen blieb, verdankt sich der theologiegeschichtlichen Würdigung, die Karl Heinrich Sack 1872 im Geiste der im 19. Jh. verbreiteten Distanzierung von der Aufklärungstheologie formulierte. Er habe die Predigten Spaldings auch darum nach Barth gegeben, weil sie »wohl von geringerem Werthe, als die in mehreren Bänden gedruckten« seien und allesamt »den damaligen Karakter des moralischen und praktischen Supernaturalismus« trügen (XVII). Dass diesem Urteil aus heutiger Sicht zu widersprechen ist, macht der Herausgeber in aller Klarheit deutlich. Freilich geht es nicht nur um den zeitbedingten Wandel des Geschmacks, sondern die 46 Predigten zeigen ein präzises rhetorisches Schema, das sie als Themapredigten klassifiziert: Einem allgemeinen exordium (Einleitung) folgen die propositio (Predigtthema) und eine Gliederungsübersicht (partitio). Die argumentatio wird unter der Anrede »meine lieben christlichen Zuhörer« in zwei bis drei Schritten entfaltet und schließt mit einer peroratio (Schlussteil). Freilich zeugen die Predigten, die zwischen 1771 und 1779 in Berlin, dem damaligen Zentrum der theologischen Aufklärung in Deutschland, vorbereitet und gehalten wurden, auch von einer tiefgreifenden theologischen Reflexion und Transformation des protestantischen Erbes.
Sie schreiten den Jahresfestkreis mehrfach ab, sind allerdings insgesamt sehr viel stärker thematisch als liturgisch-kasuell ausgerichtet. Die Predigttexte entsprechen weitgehend der Perikopenordnung, doch vermag Spalding auch auf Passagen jenseits des vorgeschriebenen Predigttextes zurückzugreifen. Seine thematische Konzentration erlaubt ihm weiterhin eine relative Freiheit im Umgang mit dem exegetischen Befund. Entgegen der theologischen Verurteilung durch Karl Heinrich Sack lassen sich freilich einige theologische Akzente erkennen, die es in einer Gesamtanalyse des Predigers aus Berlin zu berück­sichtigen gäbe: Neben den klassischen Themen aufgeklärter Neologie (Gewissen, Gemüt und Seelenfrieden) betont Spalding immer wieder das individuelle Gottesverhältnis und dessen erfahrungsbezogene Manifestation. Erst daraus ergibt sich die als moralisch denunzierte Handlungsorientierung, die bei näherem Hinsehen eben genau dies nicht ist, sondern die vielmehr kontextbezogene, lebenspraktische Umsetzung des gehörten Evangeliums. Aufgeklärt ist zweifellos die anthropologische Konzentration in erfahrungsbezogener und individueller Hinsicht. Freilich kommt dabei eine lebendige, authentische, weil biblisch bezogene Frömmigkeit nicht zu kurz, auch wenn sie auf der Folie der immerwährenden Kritik an falschem Rationalismus und bigottem Pietismus nicht recht zum Leuchten gelangt. Ganz im Sinne der lutherischen Orthodoxie vermag Spalding das reformatorische Grundthema ›des reuigen Sünders vor dem barmherzigen Gott‹ in einer den zeitlichen Umständen am Vorabend der französischen Revolution angemessenen Form vorzutragen.
Die Erläuterungen zum Text sind wie in den vorhergehenden Bänden bewusst kurz gehalten und verweisen auf biblische Belege sowie zeitgeschichtliche Bezüge (477–494). Sehr viel umfangreicher sind hingegen die Bibelstellen, Personen- und vor allem das Sachregister, das allein mit 155 Seiten den edierten Text detailliert und sachgerecht erschließt.
Ergänzend zum Barther Predigtbuch ist nun auch der erste Band der zweiten Abteilung der kritischen Ausgabe der Werke Spaldings erschienen. Es handelt sich allerdings hierbei erneut um eine in drei Auflagen zwischen 1765 und 1775 erschienene, zum Druck von Spalding vorbereitete Ausgabe von 15 Predigten, mit der sich der nach Berlin berufene Konsistorialrat von seiner vorpommerschen Gemeinde in Barth verabschiedet hatte. Auch sie thematisieren wie ihre späteren Nachfolger das reformatorische Grundthema des reuigen Sünders vor dem barmherzigen Gott sowie die sich aus dieser Konstellation ergebende Lebensperspektive. Stark in ›gefühliger‹, erfahrungsbezogener Terminologie entfaltet Spalding sein Thema an zahlreichen Evangelientexten – besonders häufig hier Perikopen aus dem Lukasevangelium – und insgesamt nur drei alttestamentlichen Passagen. Aus der Perspektive verheißener Erfüllung der Erlösungszusage, gleichsam das eschatologische Datum antizipierend, wird die existentielle Bedeutung dieses Evangeliums in erfahrungsmäßiger Metaphorik entfaltet. Trotz dieser Betonung des Evangeliums kommt das Gesetz nicht zu kurz, wird allerdings auf die konkrete Zeitansage in individueller, existentieller Weise appliziert. Dies in einer Weise, mit welcher Johann Georg Sulzer das Alleinstellungsmerkmal des Berliner Propstes charakterisiert, durch das Spalding »fast der einzige [ist], der Weise und Einfäl­tige zugleich unterrichtet u[nd] erbauet. Und der die Religion in dem Lichte vorstellt, worinn man sie, ohne unsinnig zu seyn, nicht verwerfen kann.« (V) Kant sollte später des Predigers Menschenkenntnis und Goethe seinen guten und reinen Stil loben (XXI).
In den 15 Predigten kommt, wie Beutel in seiner Einleitung hervorhebt, »die neologische Verbindung von Herzens- und Verstandesfrömmigkeit« auf exemplarische Weise zum Ausdruck und erklärt die außerordentliche Wirkung, die der Prediger auf seine Zeitgenossen ausübte. Für eine Edition ungewöhnlich, allerdings als Einführung in die zweite Abteilung der Kritischen Ausgabe sehr hilfreich, ist der einleitende Aufsatz des Bandbearbeiters und Herausgebers Christian Weidemann über den Prediger Spalding (XXI–LIV) zu lesen. Gleichsam ohne die Brille des Theologen fasst der Philosoph Weidemann die Charakteristik der Predigten Spaldings zusammen, indem er unter Berufung auf Norbert Hinske zunächst die Programmideen des homiletischen Œuvres im Text der Dokumente aufsucht: Aufklärung, Selbstdenken (und Selbsterkenntnis) und Perfektibilität. Ein zweiter Abschnitt behandelt die »Kampfideen: Aberglaube und Schwärmerei«, hinter denen der Neologe seine Kritik an falscher Frömmigkeit, falscher Absonderung, falscher Bekehrung und falschem Wunderglauben entfaltet. Freilich, das macht der nähere Nachvollzug der Einführung deutlich, handelt es sich dabei nicht allein um antipietistische Polemik, sondern auch um eine ideologiekritische Applikation der neologischen Überzeugungen gegenüber der rationalistischen Tendenz zeitgenössischer Theologie. Ein dritter Abschnitt verhandelt Basisideen von der Bestimmung des Menschen, der allgemeinen Menschenvernunft, einer für alle Menschen gleich gültigen Moral, auf die ausführlicher im Zusammenhang der monographischen Veröffentlichungen Spaldings eingegangen wurde. Daraus lassen sich allerdings auch weitere Ideen wie etwa die der Religionsfreiheit, der Toleranz gegenüber Andersgläubigen sowie im Umgang mit Athe­isten ableiten.
Diese Zusammenstellung mag den theologisch konditionierten Leser zunächst verunsichern oder gar in seinem Vorurteil bestärken, dass es sich bei der Neologie Spaldings eben doch um eine neuzeitliche Form der Philosophie und keine Theologie mehr handele. Freilich – der Eindruck täuscht. Die in dieser Zeit bereits einsetzende polarisierende disziplinäre Unterscheidung von Theologie und Philosophie ficht Spalding kaum an. Sein theologisches Nachdenken ist in Form und Vermittlung säkular, transformiert aber gerade in dieser Weise beeindruckend das reformatorische Erbe. Spalding hat sich zeitlebens als Theologe verstanden, der die Philosophie seiner Zeit kennt und deren Sprache spricht. Angesichts einer zunehmenden sprachlichen wie inhaltlichen Entfremdung so­wohl der konfessionellen Orthodoxie als auch des Pietismus inzwischen in vierter und fünfter Generation von den seelsorgerlichen, liturgischen und theologischen Bedürfnissen hat sich Spalding entschieden, die Sprache der Gebildeten seiner Zeit zu nutzen, um ebenjenen Eliten die Freiheit des Evangeliums und dessen handlungsorientierende Applikation für die Gegenwart zu vermitteln. Wenn man dem Urteil seiner Zeitgenossen trauen darf, hat er seiner Gemeinde durchaus »auf’s Maul geschaut« und ihnen das geboten, was sie in ihrer spezifischen Frömmigkeitskrise erwarteten. Freilich schieden sich an ihm auch die Geister, sowohl die der Gelehrten als auch die seiner Gemeindeglieder. Und gerade der erbitterte Gegensatz eines Herder oder Hamann sowie der ungenannten Gemeindeglieder aus Berlin, deren Anmerkungen Lavater in seinem Reisetagebuch notiert, zeugen von einer breiten Rezeption und Auseinandersetzung, die Spaldings Neologie provozierte.
Schon allein darum wäre die Veröffentlichung der Predigten als exemplarisches Dokument aufgeklärter Theologie in Deutschland geboten. Den Leser erwartet allerdings darüber hinaus und jenseits aller forschungsspezifischen Analysen schlicht ein außergewöhnliches Lektürevergnügen, das zuweilen den historischen Abstand von über 200 Jahren vergessen lässt. Insofern sei der bibliophile Band nicht nur dem immer noch recht kleinen Kreis von Aufklärungsforschern, sondern allen an Theologiegeschichte, Predigt und deutscher Literatur Interessierten dringlich empfohlen.
Neben der sicherlich mit Geld nicht aufzuwiegenden Forschungsarbeit, für die den Herausgebern und Editoren Dank gebührt, ist auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Zeiten knapper werdender Ressourcen dafür zu danken, dass sie die notwendigen Gelder zur Verwirklichung dieses ambitionierten und forschungsgeschichtlich hochwillkommenen Editionsprojektes großzügig zur Verfügung gestellt hat.