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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1203-1205

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Heyder, Regina

Titel/Untertitel:

Auctoritas scripturae. Schriftauslegung und Theologieverständnis Peter Abaelards unter besonderer Berück­sichtigung der »Expositio in Hexaemeron«.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2010. 712 S. gr.8° = Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Neue Folge, 74. Kart. EUR 78,00. ISBN 978-3-402-10283-1.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Regina Heyder, die Autorin dieser voluminösen Dissertation, eingereicht 2008/09 an der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen (bei Peter Hünermann), untersucht im Zusam­menhang mit Abaelards ganzem Werk vor allem seine Kommentierung der Schöpfungsberichte. Er selbst war der Auffassung, sich damit ein »besonders diffiziles Werk aufgebürdet« zu haben. Sie konstatiert, bei Abaelard lasse sich »ein zunehmendes Interesse am Schriftstudium feststellen«. Bisher habe unter seinen Schriftkommentaren vor allem seine Auslegung des Römerbriefs die Forschung interessiert, darum wendet sie sich diesem anderen Kommentarwerk zu (19–24).
H. unterteilt ihr Buch in vier große Teile: Den ersten Teil widmet sie dem Thema Liturgie, »lectio divina« und »studium scripturarum« auf dem Hintergrund der Parakletschriften; den zweiten widmet sie Abaelards Schriftenhermeneutik in seinen drei »Theologien«; im dritten Teil untersucht sie die Expositio im Kontext neuer Herausforderungen (Literalexegese und Naturphilosophie) und der vierte Teil ist der Auslegung der Schöpfungsberichte in der Expositio gewidmet.
Um seinen Hexaemeron-Kommentar war Abaelard von Heloise gebeten worden. Im Hintergrund steht die Rede vom »schwächeren Geschlecht«, das leichter fleischlichen Versuchen ausgesetzt sei. Wegen dieser Differenz der Geschlechter, die auch Heloise bejaht, erbittet sie eine besondere Ordensregel für Frauen. Abaelard hält die Nonnen statt zu körperlicher Arbeit zum »verstehenden« Schriftstudium (114) an, um sich vor Versuchungen zu schützen. Vorbilder sollen ihnen dabei Jesu Mutter, Maria Magdalena und Paula (gest. 404) sein. In der Kirche seien nur biblische Texte zu lesen, Väterlesungen gehörten ins Refektorium. Die Einsicht in die Offenbarung leitet zum Hymnus an (»liturgischer Biblizismus«). Immer geht es um die »unhintergehbare Autorität der Schrift« (77). Liturgie und Schriftverständnis sind zusammen Norm des Ordenslebens. Die »problemata Heloissae« lassen erkennen, dass Heloise in ihrem Kloster »wissenschaftliche Exegese« betrieb (124). Die ihr empfohlenen Vorbilder (Paula, Marcella) wären darin von Hieronymus unterwiesen worden.
Für Abaelard ist der Ausgangspunkt jeder Theologie die in Christus endgültig ausgesprochene Offenbarung. Ziel ist dabei, der Einsicht in die Heilige Schrift zu dienen, dazu seien die artes und die Dialektik nötig (212 f.). Seine Theologia scholarium verstand Abaelard als »gleichsam zur Einführung in die Heilige Schrift verfasste Summe der heiligen Unterweisung«. Er ist davon überzeugt, dass »die Autorität der Schrift als locus theologicus erst aus einem bewussten Akt der Anerkennung resultiert«; die theologische Wahrheit dürfe anders gesagt werden als im Evangelium enthalten, aber nie im Widerspruch zu ihm. In Sic et non beschreibt er eine Hierarchie der Autoritäten: Die Väter dürfen theologisch kritisiert werden, die Heilige Schrift aber ist unhintergehbare Autorität (246f.).
Im dritten Teil wendet sich H. nun konkret der Expositio in Hexaemeron zu. Orientierungspunkt für seine Auslegung ist Abaelard Augustins De Genesi ad litteram. Dieses Werk kennen zwar Heloises Nonnen, aber das Werk ist ihnen zu »dunkel«. Abaelard trägt nur eine »opinio in exponendo« vor, doch sei das die »adaequate Form theologischen Wissens überhaupt« (252). Denn problematisch ist die Genesisauslegung vor allem durch die Entdeckung der Natur im 12. Jh. geworden; die »Wasser über dem Firmament« und die Erschaffung Evas aus Adams Rippe widersprechen zu deutlich den in dieser Zeit geltenden platonisch-naturphilosophischen Theorien. Abaelards Zeitgenosse Wilhelm von Conches fand eine Lösung in allegorischen Interpretationen. H. ist davon überzeugt, dass Abaelards Auslegung nur auf dem Hintergrund dieser Lösung zu sehen ist (322–338).
Der vierte Teil, fast die Hälfte der Untersuchung umfassend, befasst sich mit Abaelards Auslegung von Gen 1 und 2 in seiner Expositio in Hexaemeron (352–653). H. sieht in ihr den singulären Fall einer »Exegese im Kontext von Kloster und Schule« (355). Für die moralisch-mystische Deutung bleibt aber die Grundlage die »Wahr­heit der Ereignisse« (369), dabei betont Abaelard die »trinitätstheologische Lektüre« des Schöpfungsberichtes (438) ebenso wie die voluntas dei als »alleiniges Wirkungsprinzip für die Schöpfungswerke« (481). Häufig sei seine Exegese »eher kursorisch und wechselt wiederholt zwischen dem wörtlichen und dem typologischen Sinn des Textes« (543). Bei der Erschaffung des Menschen ist ihm seine Bestimmung wichtig. Er unterscheidet – anders als manche seiner Zeitgenossen – imago und similitudo so, dass die imago (Gottebenbildlichkeit) sich »exklusiv auf den Mann beziehe«, während er der Frau nur eine similitudo (Gottähnlichkeit) zubillige; der Mann habe eine größere Ähnlichkeit zu den drei göttlichen Personen (556 f.). Die Macht des Mannes über die Frau liege aber nicht darin begründet, sondern sei Folge der Ursünde (564). Insgesamt sieht er die Schöpfung ausgelegt auf den Menschen, er sei ihr »Ziel und Ursache« (581). Nachdem er den ersten Schöpfungsbericht versweise exegesiert hat, folgt eine moralische und mystische Auslegung (586 ff.). Die allegorische Deutung des Schöpfungswerkes abstrahiere sich deutlich vom Text (610).
Viel kürzer als Gen 1,1–2,3 behandelt Abaelard den zweiten Schöpfungsbericht. Die Grundoptionen hat er in der Exegese des ersten Berichtes entfaltet, die Exegese von Gen 2 ist meist kur­-sorisch und paraphrasierend, ihr mangelt »die systematische Ko­härenz«, sie ist aber stärker heilsgeschichtlich ausgerichtet (613. 648).
H. will ihre Untersuchung nicht nur theologiegeschichtlich verstehen, sondern fragt auch nach Auswirkungen für das Verständnis der Liturgie überhaupt. Wichtig ist Abaelard immer die Einsicht in die Heilige Schrift, die zu einem »Erleuchten der Vernunft« führt. Bei seiner Exegese führt er stets einen Dialog mit der zeitgenössischen Naturphilosophie. Auffallend ist, dass Abaelard an problematischen Stellen auf den hebräischen Text zurückgreift, wohl dabei beeinflusst von der jüdischen Exegese. Autoritäten für seine Auslegung sind neben der Bibel die Kirchenväter, allen voran Augustin. Beeinflusst ist er aber zweifellos auch von den Theologen der Schule von Chartres (Wilhelm von Conches, Thierry und Bernhard von Chartres), doch betont Abaelard stärker die theologische Intention des Bibeltextes.
H.s Untersuchung ist ein schwergewichtiges Werk, nicht nur dem Umfang, sondern vor allem auch dem Inhalt nach. Es fällt auf, dass in letzter Zeit zu Abaelard eine Reihe wichtiger Arbeiten vorgelegt wurden (z. B. von Tobias Georges und Ingo Klitzsch), die insgesamt ihn von manchem ihm angehängten Klischee befreien. Vor allem wird in ihnen die Schriftgebundenheit seiner Theologie und ihre trinitätstheologische Entfaltung hervorgehoben. Ob man Abae­lard mit dem Begriff »moralischer Rationalismus« (Graf Re­ventlow) gerecht wird, ist doch wohl zu bezweifeln.
H. ist mit ihrer akribischen Untersuchung, die sowohl die Quellenfragen, die von Abaelard verwendeten Autoritäten als auch die gegenwärtige Forschungslage ausgiebig berücksichtigt, ein großes Werk gelungen. Es macht einen sehr seriösen Eindruck, was ja heute leider keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Ob es nicht hätte kürzer gefasst werden können, darf aber gefragt werden.