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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1201-1203

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Ferrario, Fulvio

Titel/Untertitel:

La teologia del Novecento.

Verlag:

Rom: Carocci 2011. 303 S. 8°. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-88-430-5708-5.

Rezensent:

Hans-Martin Barth

Nachdem er in rascher Folge wichtige Arbeiten zur Dogmatik publiziert hat (Tra crisi e speranza 2008; Dio nella parola 2008), legt Fulvio Ferrario, Professor für Systematische Theologie an der Facoltà Valdese di Teologia in Rom, nun eine Theologiegeschichte des 20. Jh.s vor. Er vermisst in Italien die öffentliche Auseinandersetzung über theologische Probleme und Neuansätze; er möchte ihr in einem weiteren kulturellen Raum Gehör verschaffen. Er schildert die theologische Entwicklung des 20. Jh.s als intellektuelles Abenteuer. Dabei ergibt sich als große Linie zunächst die in sich schlüssige Entwicklung von Harnack über Karl Barth, Bultmann und Bultmann-Schule bis hin zu den Positionen der zweiten Jahrhunderthälfte: Pannenberg, Moltmann und Jüngel. Es folgen neue Einzelstränge, wie die Befreiungstheologie oder feministische An­sätze, während sich schließlich nur noch eine Art Mosaik einzelner Versuche zeigt, verteilt auf Kontinente und neue religiöse Bewegungen. Dem ordnen sich ökumenische Aufbrüche und Prozesse zu: Die katholische Theologie – hatte sie im Modernismus ihre liberale Phase? – wird im Grunde erst mit den Vorarbeiten zum II. Vatikanum und dem Konzil selbst relevant, während die Orthodoxie theologisch eher ein Eigenleben führt. Die Pfingstbewegung kommt als mögliche vierte große Kirchenfamilie in den Blick.
Als durchgängiges Thema der theologischen Diskussionen des 20. Jh.s identifiziert F. die Geschichte (15.25). Er weiß die theore­tischen Erörterungen auch jeweils gut im Zusammenhang der konkreten geschichtlichen Ereignisse darzustellen. So gelingt es ihm zunächst, mit Kompetenz und Einfühlungsvermögen Theologiegeschichte zu erzählen. Er scheut sich nicht, von Karl Barths esistenza triangolare (nämlich mit Ehefrau und Lollo von Kirschbaum) zu berichten (45); liebevoll schildert er Barths Empfang durch das »Orchester der Engel«, die natürlich gerade dabei sind, Mozart zu spielen (64). Am Ende des Jahrhunderts gibt es dann allerdings nur noch einzelne Phänomene aufzuzählen, die eher zusammenhanglos nebeneinander stehen: Social gospel und Harvey Cox, Whitehead, David Tracy, George Lindbeck. F. beobachtet und urteilt scharf: Harnacks Christentum sei »naturaliter deutsch und wilhelminisch« (27); das Wort Gottes kritisiere den Sozialismus sozusagen »von links« (44); der »Christomonismus-Vorwurf gegen Karl Barth habe einen »nazistoiden Ursprung« (53). Bonhoeffer, einerseits ein entschiedener Erneuerer, sei andererseits doch auch »Exponent einer Welt und einer Kultur, die im Untergang begriffen war«, die trotz ihrer Größe nicht alle ihre Potenzen auszuschöpfen vermocht hatte (78 f.). Die Befreiungstheologie sei nicht gänzlich erstorben – »trotz Ronald Reagan, der Dynastie Bush, Jo­hannes Paul II. und Benedikt XVI.« (180). Nicht wahr sei die Behauptung, dass »der ›Klassenkampf‹ verschwunden ist« (179).
Manche theologische Positionen werden ausführlicher dargestellt, als es wohl in einer deutschsprachigen Theologiegeschichte der Fall wäre; das gilt für Hans Küng und Oscar Cullmann (198–206), der jahrzehntelang an der Waldenserfakultät Gastvorlesungen gehalten hatte, aber auch für Bonhoeffer, dem F. wohl persönlich besonderes Gewicht zumisst.
Aufmerksam werden die Entwicklungen innerhalb des Katholizismus registriert: vor allem die Aufbrüche, die aus dem »Eis antimodernistischer Repression« herausgeführt haben. Dabei kommt es auch zu einer Würdigung und Kritik der Theologie des II. Vatikanums und der es begleitenden und ihm folgenden Ansätze von Schillebeeckx, Congar und Karl Rahner. Besondere Verdienste spricht F. seinem katholischen Kollegen Rosino Gibellini zu, dessen (auch ins Deutsche übersetzte) Theologie des 20. Jh.s erst vor Kurzem in 6. Auflage erschienen ist (165).
Natürlich hat F. besonders den italienischen Kontext im Blick. Er versäumt nicht, darauf hinzuweisen, dass Karl Barth einige Passagen seines »Nein!« in Rom – und zwar mit Blick auf die Pe-terskuppel – verfasst hat. Auch Bonhoeffer sei durch seine Begegnung mit dem stadtrömischen Katholizismus beeindruckt gewesen (68f.). Das trotz seines religiösen Pathos auf dem Index gelandete Buch »Il santo« des bedeutenden Literaten Antonio Fogazzaro wird gewürdigt. Erinnert wird an das tragische Schicksal des Kirchengeschichtlers Ernesto Buonaiuti, der, erst exkommuniziert und der kirchlichen Lehrerlaubnis verlustig, schließlich aufgrund des Konkordats von 1929 auch seinen staatlichen Lehrstuhl aufgeben musste (36). Ein eigenes Thema stellt die Barth-Rezeption im italie­nischen Protestantismus dar. Giovanni Miegge, der tief in das Verständnis Barths eingedrungen sei, habe sich als »liberaler Post­barthianer« verstanden; Vittorio Subilia vermittelte und verteidigte Karl Barth mit Vehemenz. Auch Valdo Vinay war vor allem in seinen frühen Jahren stark von der Dialektischen Theologie beeindruckt. (Ich selbst habe im Studienjahr 1960/61 alle drei gehört; in Dankbarkeit habe ich ihnen mein Buch »Einander Priester sein« gewidmet. Auch hätten in diesem Zusammenhang m. E. Daniele Garrone und Sergio Rostagno durchaus genannt werden können.)
F. schreibt in einem klaren und anspruchsvollen Italienisch. Er kommt nahezu völlig ohne Anmerkungen aus, gibt jedoch eine ausführliche Literaturliste bei. Aus ihr geht hervor, wie viel Basis- und Sekundärliteratur aus anderen Sprachen ins Italienische übersetzt wurde. Zugleich ist an ihr abzulesen, wo sich italienische katholische Theologie engagiert hat. Die Auseinandersetzung italienischer Autoren mit der weltweiten theologischen Entwicklung des 20. Jh.s dürfte noch manches Dissertationsthema abgeben.
Wie ordnet sich F. selbst dieser Entwicklung zu? Er nimmt selten Stellung, will nur klären und Missverständnisse ausschließen. Das ist etwa deutlich bei seiner Verteidigung Bultmanns (80.87). Im Übrigen belässt er es dabei, für eine öffentlich, auch politisch wirksame und im Sinne Karl Barths »fröhliche« Wissenschaft zu kämpfen. Um seinen eigenen theologischen Standort kennen zu lernen, der wohl stark von Eberhard Jüngel geprägt ist, muss man seine dogmatischen Arbeiten lesen.
Das Buch endet nachdenklich. Der Theologie werde heute einer­seits vorgeworfen, den Glauben zu zerstören, andererseits stehe sie unter dem Verdacht, »pseudointellektuelle Schminke von Aberglauben« zu sein (11). So drohe ihr, nach acht Jahrhunderten, die Gefahr, aus der Universität, der sie einst zur Entstehung verholfen hat, als »Pseudo-Wissen« vertrieben zu werden. Die Theologiegeschichte des 20. Jh.s könne sich somit als späte Phase der Dämmerung eines langen Abenteuers menschlichen Geistes erweisen (280). Die Theologie müsse sich bescheiden, sich angesichts der Globalisierung des Verlustes ihrer zentralen Stellung bewusst sein und gerade so ihrer Berufung entsprechen. Die Theologie des 20. Jh.s habe gezeigt, dass sie öffentlich dann wirksam wird, wenn sie bei ihrer Sache ist und in und mit der Kirche denkt. F. sieht die Zukunft theologischer Fakultäten in einem düsteren Licht. Sie hänge eindeutig von der gesellschaftlichen Zukunft der Kirchen ab. Aber solange es das Christentum gebe, werde es auch zur Ausbildung von Theologien kommen. So lautet denn die Überschrift des letzten Kapitels: »Die Debatte geht weiter.« Eine Richtung ist kaum erkennbar. Dem Buch fehlt die heitere Vision der Zukunft, wie sie etwa Harvey Cox in »The Future of Belief« beschreibt. F.s Darstellung ist getragen von dem »Dennoch«, das derjenige kennt, der um die Angefochtenheit des Glaubens und um seine Verheißung weiß.