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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1199-1201

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Lössl, Josef

Titel/Untertitel:

The Early Church. History and Memory.

Verlag:

London/ New York: T & T Clark International (Continuum) 2010. VIII, 247 S. gr.8°. Kart. £ 19,99. ISBN 978-0-567-16561-9.

Rezensent:

Johannes Zachhuber

Josef Lössl, der Patristik an der Cardiff School of History, Archeology, and Religion lehrt, hat eine einführende Darstellung der Alten Kirche vorgelegt, die einen umfassenden Blick auf die Lebenswirklichkeit der Christen der ersten Jahrhunderte bietet. Nach einem methodologisch orientierten ersten Kapitel und einem Überblick über die Historiographie der Alten Kirche behandelt er zunächst eingehender die Frage nach den Anfängen des Christentums und insbesondere seinem Verhältnis zum Judentum, um sich dann seiner Literatur, den religiösen Praktiken, der Theologie und zuletzt den institutionellen Strukturen, dem Problem von Autorität sowie dem Verhältnis der frühen Kirche zum römischen Staat zuzuwenden. Schon diese kurze Aufzählung indiziert, welch breites Spektrum der sich immer mehr ausdifferenzierenden Forschungen zum Christentum der ersten Jahrhunderte hier auf nur etwa 200 Seiten vorgestellt wird. Insbesondere in den Kapiteln, die dem komplexen Verhältnis von Christentum und Judentum sowie den religiösen Praktiken des frühen Christentums gewidmet sind, findet der Leser eine aus den Quellen gearbeitete und in souveräner Kenntnis der neuesten Literatur verfasste Darstellung, deren Lektüre auf eingängige Weise in besonders innovative Bereiche der gegenwärtigen interdisziplinär betriebenen Erforschung der frühen Christenheit einführt. Dagegen sind die Kapitel zur altchristlichen Literatur und zur Theologiegeschichte eher konventionell und stützen sich weitgehend auf existierende Überblicksdarstellungen.
Selektiv gelesen wird das Buch ohne Zweifel vielen und sehr verschiedenen Lesern großen Nutzen bringen. Hingegen ist es nicht ganz so leicht zu sehen, für welchen Leserkreis es als Gesamtlektüre konzipiert ist. Als Einführung für Leser, die sich noch gar nicht mit der Alten Kirche beschäftigt haben, setzt es gelegentlich sehr viel voraus. So operiert das zweite Kapitel, das einen Überblick über die Geschichte der Kirchengeschichtsschreibung gibt, mit einer Vielzahl von Namen, die bis dahin nicht eingeführt oder kontextualisiert wurden. Da das Buch generell auf tabellarische oder andere Überblicksdarstellungen verzichtet, die dem Anfänger die chronologische, geographische oder prosopographische Orientierung er­leichtert hätten, lassen sich diese Informationen auch nicht auf einfache Weise beschaffen. Auch sonst ist die Gesamtkonzeption des Buches nicht unbedingt leicht zu durchschauen.
So bestimmt der Vf. im ersten Kapitel die zeitliche Erstreckung der frühen Kirche bis zum Konzil von Chalcedon, aber der Durchgang durch die christliche Literatur endet ohne weitere Rechtfertigung bei Eusebius und die theologiegeschichtliche Darstellung in Kapitel 7 führt nur bis zum Konzil von Konstantinopel. Dafür wird allerdings der hier komplett ausgelassene christologische Streit im folgenden Kapitel, das eigentlich die Autoritätsstrukturen der Kirche darstellt, gleichsam nebenher mit abgehandelt. Andererseits enthält das der Literaturgeschichte gewidmete Kapitel 5 längere quasi-theologiegeschichtliche Abhandlungen, z. B. zur Gnosis. Der Vf. betont in seinem Vorwort ausdrücklich, dass die Form des Buches eine selektive Behandlung erforderlich gemacht habe. Das ist ohne Zweifel richtig, und die schon erwähnte größere Breite dessen, was behandelt wird, musste zusätzlich dazu führen, dass z. B. Details der Dogmengeschichte, die in einem eher traditionell ausgerichteten Werk zu erwarten gewesen wären, hier nicht be­handelt werden konnten.
Dennoch wäre es gut gewesen, wenn die Gründe für die Behandlung bzw. Nichtbehandlung bestimmter Themen deutlich be­nannt worden wären. Denn die dahinter stehende Frage, die gleichzeitig die zentrale theoretische Frage für eine solche Einführungsdarstellung ist, ist doch die nach der Einheit und der Abgrenzung des Faches als Ganzes. Die neueren wissenschaftlichen Entwick­lungen, die der Vf. in seiner Darstellung aufnimmt, werfen ebendiese Frage in aller Schärfe auf. Die traditionelle »Patristik« gewann ihren Fluchtpunkt durch den Bezug auf die gegenwärtige Kirchenlehre, die in jener Epoche von einer bestimmten Gruppe von Theologen vermeintlich grundgelegt wurde. Der Vf. verweist zu Recht darauf, wie stark diese Perspektive auch heutiges Arbeiten noch beeinflusst, und auch seine Diskussion der Alternative von Kirche oder Christentum als Thema seiner Disziplin ist instruktiv. Sein (schon durch den Buchtitel indiziertes) Votum für die erste dieser Optionen wirft jedoch die Frage auf, wie »Kirche« denn jenseits dogmatischer Setzungen bestimmbar ist. Woran entscheidet sich, wer oder was dazugehört, wo geographische und chronologische Grenzen gezogen werden und welche Methoden angemessen sind? Wenn die Differenz zwischen einer Geschichte der alten Kirche und einer Geschichte des Christentums einen Sinn haben soll, dann verweist diese Frage auf die bleibende Notwendigkeit gerade auch theologischer Reflexion über Vielfalt und Einheit jener Geschichte. Wie eine solche Reflexion heute verantwortlich aussehen kann, ist eine im Wesentlichen unbeantwortete Frage, deren Dringlichkeit durch die vorliegende Arbeit aufs Neue unterstrichen wird.