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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1195-1198

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Brakke, David

Titel/Untertitel:

The Gnostics. Myth, Ritual, and Diversity in Early Christianity.

Verlag:

Cambridge (MA)/London: Harvard University Press 2010. XIII, 164 S. 24,3 x 16,2 cm. Geb. EUR 27,00. ISBN 978-0-674-04684-9.

Rezensent:

Katharina Greschat

Für den ersten Band der renommierten ›Cambridge History of Christianity‹ aus dem Jahre 2006 schrieb der an der Indiana University in Bloomington tätige Religionswissenschaftler David Brakke ein Kapitel mit der Überschrift: »Self-Differentiation among Chris­tian Groups: The Gnostics and Their Opponents«, das die Keimzelle der vorliegenden Untersuchung bildet. Nach eigenen Angaben (XI) ermutigte ihn insbesondere der Münsteraner Koptologe Stephen Emmel, aus besagtem Kapitel ein eigenständiges Buch zu machen. Insofern kann der Leser auch Stephen Emmel dankbar sein, dass der Vf. dessen Anregung aufgenommen und dieses wichtige Buch nunmehr publiziert hat.
Es handelt sich um kein sehr umfangreiches Werk, doch ist es für jeden, der sich auf der zugegebenermaßen komplexen Landkarte des vorkonstantinischen Christentums zurechtfinden möchte, umso anregender. Schließlich geht es dem Vf. um nicht mehr und nicht weniger als um das Bemühen, das vieldiskutierte Phänomen der gnostischen Schulen im 2. und 3. Jh. historisch zu verorten und zugleich ein ganzes Bündel an älteren Forschungsaporien zu überwinden, die zunächst im ersten Kapitel (»Imagining ›Gnosticism‹ and Early Christianities«, 1–28) angesprochen werden. Bis weit in die Moderne hinein sei die Sichtweise frühchristlicher Ketzerbestreiter, wie etwa die des Irenaeus von Lyon, der »a single, original orthodoxy and a single, multifaceted Gnosticism« (5) gegeneinander gestellt habe, prägend gewesen. Doch auch die von Walter Bauer (»Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum«, 1934) formulierte Gegenthese, wonach der Rechtgläubigkeit an vielen Orten die Ketzerei vorangegangen sei, mache es sich zu einfach und werde den sehr unterschiedlichen Gegebenheiten im Römischen Reich kaum gerecht. Zeitgenössische Forscher bemühen sich deshalb, das Tableau offener zu halten, und sprechen lieber vom Modell eines »Pferderennens« zwischen den unterschiedlichen Christentümern (Philipp Rousseau, 1985) oder – ungleich martialischer – von dem einer »Schlacht« (Bart Ehrman, 2003), die aber eben auch Sieger und Verlierer kennt. Dem Vf. sind selbst diese Modelle noch viel zu statisch und er möchte mit Karen King, auf die er sich hier beruft, »a fixed and essentialized categorization of early Christian multiformity« (18) unbedingt vermeiden. Das gilt in gleicher Weise natürlich auch für die Kategorie »gnosticism«, die gegenwärtig gegenüber dem, was als »proto-orthodoxy« bezeichnet wird, fast noch kontroverser diskutiert wird. Hier reicht das Spektrum von der Position Kurt Rudolphs (1977), der die Gnosis als eine eigenständige Religion verstanden wissen wollte, bis hin zu Michael Williams (1996), der diese Kategorie als gänzlich irreführend ablehnt, weil sie zu viele unvereinbare Ansichten und Gruppen unter einem Dach zusammenbinden möchte. Dazwischen steht eine Reihe von »defenders of Gnosticism« (23), die in unterschiedlicher Weise idealtypische Konstruktionen dessen anbieten, was sie für den Kern des Gnostizismus halten.
Demgegenüber wählt der Vf. in Anlehnung an Bentley Layton, dem er dieses Buch gewidmet hat, einen anderen Zugang, der im zweiten Kapitel (»Identifying the Gnostics and their Literature«, 29–51) vorgestellt wird. So kritisch der Vf. den Irenaeus im Hinblick auf eine adäquate Rekonstruktion der Vielfalt der frühchristlichen Gruppen auch sieht, so wertvoll erscheinen ihm dennoch dessen Aussagen über die Gnostiker – die an dieser Stelle überdies zum ersten Mal so bezeichnet werden –, weil sie in seinen Augen eine ganz bestimmte Gruppe meinen. »This group corresponds to those whom modern historians have often called ›Sethians‹ or ›Sethian Gnostics‹« (31). Das klingt zunächst einmal erstaunlich, zumal man sich gerade daran gewöhnt hatte, die im Jahre 1974 von Hans Martin Schenke aufgrund der in einer Reihe von Schriften aus dem Corpus von Nag-Hammadi sehr prominent vertretenen Figur des Seth angenommene gnostische Richtung der »Sethianer« wegen des reichlich disparaten Materials für eine Konstruktion der modernen Forschung zu halten. Doch bei näherem Hinsehen erweist sich die hier vorgetragene Minderheitsmeinung als zumindest nachdenkenswert, schließlich beschreibt auch Porphyrios die Gnostiker in ganz ähnlicher Weise: »Together, Porphyry and Irenaeus present a coherent description of a ›school of thought‹ ( hairesis) whose members were known as ›the Gnostics‹« (40). Porphyrios nennt als Schriften dieser Schule den auch aus Nag Hammadi bekannten Zostrianus (NHC VIII,1), Allogenes (NHC XI,3; interessanterweise enthält auch der Codex Tchacos neben dem Judasevangelium einen mit »Allogenes« überschriebenen Text) und Teile einer Schrift, die sich auch im Apokryphon Johannis finden, welches das Corpus von Nag Hammadi mehrfach bezeugt. Dieser Text dürfte wohl auch die wichtigsten Elemente des identitätsstiftenden Mythos abbilden, den Irenaeus als zentral für die Gnostiker beschreibt.
Um dieses Thema geht es dann im folgenden Kapitel (»The Myth and Rituals of the Gnostic School of Thought«, 52–89), dessen Stärke darin liegt, das Grundanliegen des Mythos als eines zentral durch Christus motivierten Aufstiegs- und Rückkehrgeschehens mit den bezeugten Ritualen der Taufe, den nach wie vor rätselhaften »fünf Siegeln« und verschiedenen theurgischen Praktiken zu verbinden. Gnostiker und Neuplatoniker übten sich gleichermaßen darin, »to facilitate the ascent of the human soul to contemplation of the divine or to provoke the descent of higher beings to be present to human beings« (82). Charakteristisch für den gnostischen Mythos sei darüber hinaus dessen intensive Auseinandersetzung mit der Genesis, die jedoch – so der Vf. mit allem Nachdruc k– nicht zu der Annahme berechtige, ihn für die Verchristlichung einer ursprünglich in jüdisch-heterodoxen Kreisen verwurzelten Erzählung zur Bewältigung der katastrophalen Ereignisse der Jahre 66–70 und 132–135 zu halten, wie er mit einem Vergleich mit 4. Esra deutlich macht. Vielmehr könne man vermuten, dass die Gruppe der Gnostiker insgesamt wenig Interesse daran gezeigt habe, sich von traditioneller Philosophie oder auch von zeitgenössischen jüdischen Richtungen abzugrenzen.
Mit der Bestimmung der einen Gruppe, die von ihren antiken Gegnern als Gnostiker bezeichnet wurde, ist jedoch die eingangs gestellte Frage nach Einheit und Diversität im frühen Christentum noch nicht hinreichend beantwortet. Das möchte der Vf. im Rahmen der beiden letzten Kapitel tun und widmet sich zunächst am Beispiel der Hauptstadt Rom (»Unity and Diversity in Second-Century Rome«, 90–111) dem Paradebeispiel einer stark fraktionierten Gemeinde. Doch kommt es dem Vf. darauf an, die zweifellos sehr unterschiedlichen Ansätze der nahezu zur gleichen Zeit in Rom tätigen christlichen Lehrer Marcion, Valentinus und Justin als Bestrebungen zu einer größeren Einheitlichkeit zu verstehen. Erst vor diesem Hintergrund ist es dann auch verständlich, dass sie miteinander und mit anderen christlichen Gruppierungen in Konkurrenz traten und gezwungen waren, sich gegeneinander abzugrenzen.
Mit welchen Mitteln diese Abgrenzung geschah, wird schließlich im letzten Kapitel (»Strategies of Self-Differentiation«, 112–137) beschrieben, das dem genannten Kapitel aus der ›Cambridge His­-tory of Christianity‹ entspricht: »We shall explore the strategies by which Christians presented themselves as having the true Chris­tian message and others as teaching what is incomplete or false« (114). Dabei bleiben Problemkreise wie die Autorität der Märtyrer oder Fragen der »Kirchenzucht« ausgeklammert, weil sie mit den Gnostikern wenig zu tun haben. Um ein umfassenderes Bild der mannigfaltigen Abgrenzungsprozesse im vorkonstantinischen Christentum zu zeichnen, müssten sie jedoch ebenfalls erörtert werden. Dem Vf. genügen einige knappe Striche, um deutlich zu machen, dass es die valentinianische Schule war, die das System der Gnostiker weiterführte und als Erste die apostolische Autorität für ihre Ansichten in Anspruch nahm. Demgegenüber habe Irenaeus eine kirchliche Glaubensnorm als verbindlich ins Feld geführt und die apostolische Autorität an die Bischöfe gebunden. Clemens von Alexandrien stehe hingegen gleichsam zwischen den Valentinianern und Irenaeus: »Clement offered that combination of adher­-ence to ›the ecclesiastical norm‹ and something more, something that reflected the ›magnitude‹ of what Jesus really taught – ›eccle­-­siastical gnosis‹« (127). Noch komplexer sei die Situation des vor­-konstantinischen Christentums einerseits durch Bedrohung und Verfolgung geworden, weil sie es notwendig machte, zwischen Christen, Juden und Anhängern der traditionellen Religiosität zu unterscheiden. Andererseits habe das bischöfliche Amt beständig an Bedeutung gewonnen, so dass es ihm im Verbund mit der weiterentwickelten Glaubensnorm in nachkonstantinischer Zeit gelingen konnte, die Vorstellung von der einen universalen katholischen Kirche durchzusetzen. Und dennoch mache es sich derjenige zu einfach, der immer noch meint, das Modell des Irenaeus habe am Ende den Sieg davongetragen. »No forms of Christianity that existed in the second and third centuries have survived intact today; rather they have all contributed, in greater and lesser ways, to the ongoing development of Christianities« (136).
Damit gebührt dem Vf. das Verdienst, anhand der Konzentration auf die von Irenaeus bekämpften Gnostiker die Entwicklung der unterschiedlichen Christentümer in vorkonstantinischer Zeit als dynamischen Prozess ohne Sieger und Verlierer anschaulich gemacht zu haben. Dem Buch seien daher eine möglichst breite Leserschaft und eine intensive Diskussion der überaus spannenden Thesen gewünscht.