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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1193-1195

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Barnes, Timothy D.

Titel/Untertitel:

Early Christian Hagiography and Roman History.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XX, 437 S. kl.8° = Tria Corda, 5. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-16-150226-2.

Rezensent:

Ekkehard Mühlenberg

Das Buch ist wie alle Arbeiten von Timothy D. Barnes interessant zu lesen mit seinen Berichten, historischen Erzählungen, Analysen und Attacken auf leichtfertige Historiker. Zu Martyriumsberichten und Heiligenlegenden fasst er seine vielen schon veröffentlichten Beobachtungen zusammen und fügt Neues hinzu. Wer sich mit der frühen Geschichte der Christen im Römischen Reich be­schäftigt, kennt seine beiden Aufsätze aus dem Jahr 1968 (»Pre-Decian Acta Martyrum« in JThS und »Legislation against the Chris­tians« in JRS). Seine Stärke sind die prosopographischen Analysen, um die Zeitgenossenschaft von Märtyrerberichten und Heiligenviten zu verifizieren oder die Zeit ihrer Abfassung zu bestimmen. Gelegentlich ist die römische Geschichte nicht nur Prüffolie, sondern Mitteilungen aus den hagiographischen Dokumenten werden für sie ausgewertet. Umgekehrt hält B. zu Recht die Kenntnis der zeitgenössisch nutzbaren Daten für unerlässlich, um die Geschichte der Kirche bis auf die Zeit von Kaiser Konstantins Alleinherrschaft nachzuzeichnen. Auf die indirekten Mitteilungen in hagiographischen Dokumenten, also die als episch oder legendär erkannten Schöpfungen späterer Zeit, lässt er sich kaum ein, ob­wohl die heute aufblühenden Forschungen zur Heiligenverehrung gerade aus den literarischen Erfindungen ihr geschichtliches Ma­terial gewinnen.
Das Buch ist in sieben Kapitel und neun Appendizes gegliedert. In allen Kapiteln ist es das Auge des Historikers der römischen Geschichte, der einerseits die Authentizität der Zeitgenossenschaft der Dokumente überprüft und andererseits die Zuordnung in die hagiographischen Formen vornimmt. So ist das erste Kapitel (1–41) dem Aufweis gewidmet, dass Christen in der Mitte des 2. Jh.s die Idee des Martyriums entwickelten und daraufhin sowohl die christliche Hagiographie als auch der Heiligenkult einsetzten (vgl. 19). Im zweiten und dritten Kapitel (43–95.97–150) werden alle zeitgenössischen Dokumente der Verfolgungszeiten ausgewertet mit dem geschichtlichen Ergebnis, dass Kaiser Gallienus um 260 n. Chr. die soziale Respektabilität von Christen durch ihre Legalisierung anerkannte und dass in der Zeit der Verfolgung durch die Kaiser Diokletian, Maximinian, Galerian und Maximinus (303–313 n .Chr.) die christliche Kirche zu einem Status von sozialer und politischer Macht angewachsen war. In Kapitel IV (151–198) werden die Anfänge der schriftstellerischen Schöpfungen von Hagiographie im 4. Jh. an Hand ausgewählter Dokumente untersucht (Theodotus von Ankyra, Vita Antonii, Hieronymus und Vita Ambrosii). Im fünften Kapitel wird die »Vita Martini« des Sulpicius Severus kritisch auseinandergenommen (199–234). Im sechsten Kapitel (235–283) werden sieben hagiographische Dokumente aus dem 5. und 6. Jh. auf Faktizität und Erfindung überprüft; die »Vita Porphyrii« von Marcus Diconus wird als reine Erfindung entlarvt (260–283). Und im letzten Kapitel gibt B. einen Überblick zur hagiographischen Forschung in der Neuzeit (285–300), gefolgt von Beispielen verifizierbarer und erfundener prosopographischer Daten in hagiographischen Dokumenten (300–328). B. dokumentiert seine Argumente sorgfältig. Anstelle eines Literaturverzeichnisses und eines Stellenregisters gibt es Register aller antiken Namen (415–427), von Or­ten und Völkern (429–432) und der besprochenen modernen Autoren (433–437).
Die prosopographischen Argumente von B. und seine historischen Analysen hagiographischer Dokumente sollten immer zur Kenntnis genommen werden. Meist ist er nicht widerlegbar; manchmal verleitet ihn sein Widerspruchsgeist gegen eingefahrene Deutungen zu Thesen, die mich überhaupt nicht überzeugen.
Für die römische und insbesondere für die kirchliche Geschichte ist die These wichtig, dass Kaiser Gallienus die allgemeine Toleranz der Christen durch ein reichsweites Edikt 260 n. Chr. verfügt habe (97–105). B. gründet seine These auf ein Reskript des Gallienus an ägyptische Bischöfe und dessen Interpretation durch Eusebius von Caesarea. Die Briefe des Dionysius, des Bischofs von Alexandrien, und des Eusebius Arrangement derselben hat B. nicht gründlich durchgearbeitet. Allerdings stützt er seine These durch den Nachweis, dass kein Martyrium vor dem ersten Diokletian­edikt vom 24. Februar 303 bezeugt ist. Von den drei entgegenstehenden Dokumenten klassifiziert er zwei zu Recht als Kriegsdienstverweigerung und nicht wegen des Namens »Christ«; das dritte Dokument datiert er mit schwachem Argument um (106–110). – Zur »Großen Verfolgung« (111–150) notiere ich drei Punkte: Erstens präzisiert B. die These von G. E. M. de Ste. Croix, dass es keinen Beweis für die Übernahme des vierten Edikts von Diokletian (»Jeder muß opfern«) durch Kaiser Maximian für den Westen des Römischen Reiches gebe (126 u. 138). Zweitens weist B. nachdrücklich darauf hin, dass Eusebius in »Die palästinensischen Märtyrer« (Langfassung) nur die ihm befreundeten Personen für die Zeit 303–311 n.Chr. verzeichnet (120–124 u. Appendix 6 = 387–392). Drittens schließt B. nicht mehr kategorisch aus, dass die Fassung der »Kirchengeschichte« mit den Büchern I–VII, VIII (Kurzfassung der pa­-läs­tinensischen Märtyrer und VIII Appendix) und IX vom Jahre 313/314 die Erstausgabe sein könnte (391).
Die Ausführungen zum Tod der Apostel Petrus und Paulus werden einiges Staunen und Nachfragen und Kopfschütteln verursachen. Für Petrus akzeptiert B. die Meinung und Tradition, dass der Apostel ein Opfer der Christenhinrichtung als angeblicher Brandstifter durch Kaiser Nero im Jahre 64 n. Chr. war. Hinweisend auf neuere Interpretationen von Tacitus, Ann. XV 44, erklärt er, dass die Bestrafung nicht in Kreuzigung bestand, sondern als Fackeln wurden sie verbrannt und zur Verhöhnung des Christlichen nicht an Pfählen, sondern an Kreuzen festgebunden. Dazu seien die Christen wahrscheinlich mit leicht brennbarem Stoff bekleidet worden, wie von Seneca eine derartige Prozedur erwähnt wird (ep. 14,5), und ingeniöserweise kenne dieses »Bekleiden durch einen anderen« das Johannesevangelium V. 21,18b (3–9.331–337). Also habe es keinen Überrest, der hätte begraben werden können, gegeben (31). – Der Apostel Paulus hingegen sei von seiner Spanienreise nicht zurück­gekehrt (»Canon Muratoris«) und sei in Spanien von einem römischen »Provinzstatthalter« hingerichtet worden (1Clem 5,6–7); denn der stadtrömische Verfasser soll die exakte Amtsbezeichnung benutzt haben (32–35).
In Appendix 2 (343–349) gibt B. einen Überblick über die echten und zeitgenössischen Märtyrerdokumente in den Editionen seit T. Ruinart (1713) mit deren Textbasis. Am Schluss verzeichnet er seinen eigenen Kanon für die Zeit von 150–313 n. Chr. mit 19 Dokumenten (355–359); ausgenommen sind die Textstücke, die Eusebius aufbewahrt hat. Wo diese Texte besprochen und verwendet sind, zeigt das Namenregister an.