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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1191-1193

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Oftestad, Bernt T., Rasmussen, Tarald, u. Jan Schumacher

Titel/Untertitel:

Norsk Kirkehistorie (dt.: Norwegische Kirchengeschichte). 3., überarb. u. erw. Aufl.

Verlag:

Oslo: Universitetsforlaget 2010. 325 S. m. zahlr. Abb. 8°. NOK 419,00. ISBN 978-82-15-00813-4

Rezensent:

Jobst Reller

Nach der von zwei Theologen der theologischen Gemeindefakultät Oslo, Carl Fredrik Wislöff und Andreas Aarflot, 1966–1971 in drei Bänden vorgelegten und lange Jahre klassischen norwegischen Kirchengeschichte liegt nun die Gemeinschaftsarbeit von zwei Theologen derselben Institution bzw. einem Vertreter der theologischen Fakultät der Universität Oslo (Rasmussen) in der 3. und durchweg überarbeiteten und erweiterten Auflage vor. Vor allem das Schlusskapitel »Kirchen in einer säkularen und pluralen Gesellschaft« (302–312) ist zu dem mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnenden Abschnitt »die Kirche in der neuen Einheitsgesellschaft« (281 ff.) hinzugekommen und versucht eine Darstellung der Entwicklung bis auf das Jahr 2005. Das Schlusswort lässt anklingen, dass die norwegische Kirche auf ihre Tausendjahrfeier im Jahr 2030 zugeht, wenn man den endgültigen Sieg der Christianisierung mit dem Tod Olav Haraldssons, gen. der Heilige, in der Schlacht bei Stiklestad nördlich von Trondheim 1030 ansetzt. Bereits im Vorwort zur 1. Aufl. 1992 hatten die Verfasser ihr Programm formuliert, anders als Wislöff und Aarflot nicht mehr die Reformation ins Zentrum zu stellen und so der historischen Wirklichkeit gerechter zu werden (5). Nichtsdestotrotz wollen sie nicht einfach Geschichte des Christentums, sondern Kirchengeschichte Norwegens schreiben, wobei sie sich über das Nebeneinander verschiedener möglicher ekklesiologischer Interpretationsrahmen einig sind. Oftestad, Kirchengeschichtler an der Gemeindefakultät, früher leitend in der norwegischen Vereinigung für Bibel und Bekenntnis, ist schließlich zur römisch-katholischen Kirche konvertiert.
Die Kirchengeschichte zerfällt in drei Phasen, I. das Mittelalter (Schumacher, 15–82), II. die Reformationszeit bis zur Unabhängigkeit von Dänemark 1814 (Rasmussen, 85–177) und III. die Kirche im neuen (schließlich unabhängigen) Norwegen (Oftestad, 180–314). Entgegen dem einen erklärten Ziel erhalten so doch die letzten zwei Jahrhunderte der Zeitgeschichte relativ betrachtet den meisten Raum. Ein Referat des gesamten Buches wäre vermessen, so seien einzelne Schwerpunkte skizziert. Deutlicher als bisher üblich wird die späte Durchführung der Reformation im abgesehen von der Hansestadt Bergen rein ländlichen Norwegen benannt. Ein die von Johannes Bugenhagen im Wesentlichen ausgearbeitete Kirchenordnung begleitender Brief von König Christian III. vom Juni 1537 weist an, abgesehen von den Bischöfen Pfarrer und andere kirchliche Angestellte nicht zu vertreiben, sondern »bei ihren alten Gebräuchen verbleiben zu lassen, … um kein Erschrecken oder ir­gendeine Uneinigkeit unter dem armen einfältigen und unverständigen Volk im Lande dort zu verursachen« (107). Die Verehrung des heiligen Olaf war im Volk bis 1568 ungebrochen. Nach Grabschändung durch schwedische Invasoren 1564 ließ der dänische königliche Kommissar Jörgen Lykke den erneuerten Sarg Olafs ausgraben und an unbekannter Stelle neu verscharren. Erst die reformhumanistisch geprägten Bischöfe der zweiten Hälfte des 16. Jh.s suchten, durch Visitationen und in Westnorwegen Synoden nach dänischem Vorbild die alten Gebräuche zu verändern und die Kirchenzucht zu stärken. Dabei zeigt sich eine für Dänemark-Norwegen an sich unerwartete Kontinuität: Der Reformhumanist Hans Rev, Superintendent in Oslo seit 1541, war noch unter dem letzten Erzbischof Olav Engelbrektsson (bis 1537) altgläubiger Bischof von Oslo gewesen (106). Die Ausbildung einer lutherischen Frömmigkeit blieb dem 17. und 18. Jh. vorbehalten. Die »Vier Bü­cher vom wahren Christentum« und das Gebetbuch »Paradiesgärtlein« des Generalsuperintendenten von Braunschweig-Lüneburg Johann Arndt in Celle (gest. 1621) gehörten neben der Postille Heinrich Müllers zu den meist gelesenen Andachtsbüchern im 17. Jh. (138).
Die Erweckungsbewegung von Hans Nilsen Hauge (1771–1824) nach 1796 gilt als erste Protestbewegung des mündigen Bauern- und Kleinbürgerstandes gegen die Beamtenherrschaft des absolutistischen Staates und somit Teil der Demokratisierung der Gesellschaft (173). »Die dänische absolutistische Regierung war in dieser Hinsicht ohne Zweifel eine der besten im damaligen Europa.« (144)
Mit dem Fach Kirchengeschichte ist Selbstreflexion der Kirche verbunden – kaum zufällig ergab sich aus der pietistischen Universitätsreform 1732 in Kopenhagen die Errichtung einer Professur für Kirchengeschichte (162). Daher verdienen die Überlegungen Oftestads zur allerneusten Entwicklung einer lutherischen Staatskirche – bis heute ist nach dem Grundgesetz die evangelisch-lutherische Konfession die öffentliche Religion (Grundgesetz § 2.2) – noch besondere Berücksichtigung: Neben einer liberalen Säkularisierung, die sich am Gesetz über »selbstbestimmte Abtreibung« (1978) bzw. »registrierte Partnerschaft« (1993) festmachen lässt, steht eine 2004 auf 85 % der Bevölkerung gesunkene Mitgliedschaft in der norwegischen lutherischen Kirche – eine im europäischen Vergleich immer noch sehr hohe Zahl (302 f.). Einer zunehmenden innerkirchlichen Demokratisierung, die sich 1998 seitens der norwegischen Kirche für die Aufhebung der Staatskirche aussprach, entsprach ein in Wohlstand und Individualisierung begründeter Rückgang ehrenamtlicher Aktivität in den alten landeskirchlichen Gemeinschaften der Erweckung, aber auch den neuen demokratischen Organen. Von der Haugeschen Erweckung hatte Professor Ole Hallesby 1923 noch die Erneuerung der norwegischen Gesellschaft als solcher erwartet.
Im Kirchenkampf hatte man die Erfahrung gemacht, den norwegischen Nazisten um Vidkun Quisling durch Niederlegung der staatlichen Teile des Pfarramtes (Vom Grund der Kirche 1942) widerstehen zu können. Diese Erfahrung ließ sich im Rahmen der Staatskirche im Gewissenskonflikt mit staatlichen Maßnahmen nicht weiterschreiben. Gewissenskonflikte einzelner mit staatlicher oder kirchlicher Gesetzgebung forderten das Selbstverständnis und institutionelle Organe der norwegischen Kirche zunehmend heraus. Zu nennen sind der Rücktritt Bischof Per Lönnings 1975 im Protest gegen die Liberalisierung der Abtreibung, die Ab­setzung Pfarrer Börre Knudsens 1983 (291 f.), die Einführung der Frauenordination 1961, die faktische Zulassung homosexuell le­bender Pfarrer durch die Autorität einzelner Bischöfe ohne kirchlichen Konsens ab 1999 (308). Dissense an der Spitze des kirchlichen Amtes begründeten unterschiedliche Praxis ohne Lehrkonsens. Freikirchliche Präsenz in Norwegen führt immer mehr zu ökumenischen Absprachen, bis dahin, dass die theologische Gemeindefakultät 2004 ihre konfessionelle Struktur bei gleicher konservativer Ausrichtung zugunsten der Zusammenarbeit mit Methodisten, Pfingstlern und der katholischen Kirche öffnete oder die norwe-gische Kirche 1999 der Leuenberger Konkordie beitrat. Der gesetzgeberische Versuch eines modifizierten, aber noch auf der Grundlage der evangelisch-lutherischen Konfession erteilten Religionsunterrichts scheiterte 2005. Das Christentum spiritualisiert sich zu einem Geflecht denominationeller »Glaubensgemeinschaften« im »Norwegischen Christenrat« (1992).
Oftestad schließt: »Am Anfang des neuen Jahrtausends steht die norwegische Gesellschaft vor der Herausforderung, Freiheit und Vielfalt mit der notwendigen Integration, Einheit und dem Konsens zu verbinden, den jede Gesellschaft braucht. […] Die modernen liberalen, in den allgemeinen Menschenrechten Gestalt gewordenen Werte werden allem Anschein nach der verbindende Überbau der norwegischen Gesellschaft in der Zukunft werden. […] Der moderne Liberalismus nimmt heute eine hegemonistische Stellung ein, hat wie jede andere politische Ideologie ein totalitäres Potential. […] Wir stehen hier vor einem europäischen Szenario. Als Kirchen (Hervorhebung vom Rezensenten) unter einem säkularisierten modernen Liberalismus zu leben, dürfte die Herausforderung der Zukunft sein.«
Im Literaturverzeichnis (315–319) wird die wesentliche neuere Literatur aufgeführt und ein Register der Personennamen (322–325) erleichtert die Benutzbarkeit dieser hervorragenden Überblicksdarstellung.