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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1186-1188

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Thiessen, Jacob

Titel/Untertitel:

Gott hat Israel nicht verstoßen. Biblisch-exegetische und theologische Perspektiven in der Verhältnisbestimmung von Israel, Judentum und Gemeinde Jesu.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2009. 239 S. 8° = Edition Israelogie, 3. Geb. EUR 32,80. ISBN 978-3-631-59863-4.

Rezensent:

Wolfgang Kraus

Auf der Rückseite des Buches heißt es: »Diese Arbeit sucht nach biblisch-exegetischen Antworten auf die Frage, was es in Bezug auf die Erwählung Israels und auf das Verhältnis der Gemeinde Jesu zu Israel als Volk Gottes bedeutet, dass Gott Israel ›nicht verstoßen hat‹ (Röm 11,1 f.). Nach einer Übersicht über die Substitutionstheorie in Geschichte und Gegenwart wird die bleibende Erwählung Israels nach Röm 9–11 exegetisch begründet. Alsdann geht es um das Verhältnis der Gemeinde Jesu zu Israel als Volk Gottes und um die Bedeutung des Neuen Bundes für diese Verhältnisbestimmung. Schwerpunkt der letzten Kapitel ist die Frage nach der verheißenen Wiederherstellung der Herrschaft Gottes für Israel aus der Sicht des Neuen Testaments und nach ihrer Beziehung zu der ›tausendjährigen Königsherrschaft‹ Jesu Christi (Offb 20,1–6).«
Das Buch besteht aus zehn unterschiedlich langen Kapiteln, denen eine umfangreiche Bibliographie und ein Auswahlregister der Bibelstellen folgen. Ein Teil der Arbeit, so geht aus dem Vorwort hervor, wurde bereits in einem anderen Buch publiziert, ist hier jedoch neu überarbeitet. Der Vf., Jacob Thiessen, ist Rektor und Professor für Neues Testament an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel (STH Basel).
Auf eine Einführung (Kapitel 1, 13–16) folgen Überlegungen »Zur Substitutionstheorie« (Kapitel 2, 17–30). Hierbei werden Beispiele aus der Kirchengeschichte sowie aus neueren Veröffentlichungen präsentiert, die in Richtung Substitution Israels durch die Kirche votieren. Eine Begründung der Auswahl der Standpunkte wird allerdings nicht gegeben, und sie erscheint daher eher zufällig.
In dem umfangreichen Kapitel 3 (31–108) geht es um »Israels bleibende Erwählung nach Römer 9–11«. Dabei handelt es sich um eine Art Durchgang durch die Argumentation des Abschnittes im Römerbrief. Der Vf. folgt jedoch nicht der Struktur der pauli­nischen Argumentation, sondern setzt bestimmte Schwerpunkte (z. B. zu Röm 9,22 f.: 42–72), was dazu führen kann, dass der Lesende den Faden verliert. So kommt denn auch die Behandlung von Röm 11,26 etwas überraschend (92–102). Hier blitzt bereits auf, worauf die Argumentation des Vf.s dann zusteuert: Es geht ihm nicht nur um bleibende Erwählung oder die Errettung ganz Israels als Thema der paulinischen Theologie, sondern genauer um die irdische Aufrichtung der Königsherrschaft Gottes und »Israels Wiederherstellung im Land Kanaan durch den wiederkommenden Erlöser und Herrscher« (88 f.; vgl. 99–102, wobei der Vf. diese Sicht nach Lk 19,42 auch dem irdischen Jesus selbst zuschreibt: 102). Dies kann freilich nur begründet werden durch einen literarische und zeit­-geschichtliche Differenzen einebnenden Umgang mit biblischen Texten (so wird etwa auf S. 102 von Offb 12,9 her der Satan in Gen 3,15 hineingelesen, und das Stichwort »Same« bietet dem Vf. die Möglichkeit, die Genealogie in Gen 5 in die Jungfrauengeburt münden zu sehen). In den hermeneutischen und theologischen Folgerungen, die Kapitel 3 abschließen (106–108), hebt der Vf. darauf ab, dass die alttestamentlichen Verheißungen Israel und die Heiden gemeinsam betreffen und sich deren Erfüllung nach der Wiederkunft Jesu irdisch vollziehen wird. Von einer Auslegung, die unterschiedliche Aspekte der alttestamentlichen Verheißungen wahrnimmt, kann hier keine Rede sein. Vielmehr werden Differenzen unter dem Stichwort »der« alttestamentlichen Verheißungen eingeebnet.
In Kapitel 4 geht es um das »Verhältnis der gläubigen ›Heiden‹ im Neuen Bund zu Israel als Volk Gottes« (109–138). Hierbei werden alttestamentliche Belege aus ganz unterschiedlichen Zeiten und Kontexten und Stellen aus dem Neuen Testament in einer Weise miteinander kombiniert, die alle Differenzierungen und unterschiedlichen Akzentsetzungen (auch Widersprüche – aber die gibt es ja nicht) einebnet: Jesaja, Hesekiel, Sacharja, Micha, Jeremia, Paulus, Hebräer, Epheser (gilt als paulinisch), Offenbarung – bei diesem Vorgehen passt dann auch die Erwartung des Hebr der zu­künftigen Stadt mit Ps 48,9; 101,8; Jes 60,14; Jer 49,25 usw. zusammen: Alles zielt auf ein und dasselbe.
Kapitel 5 fragt danach, wie »die Erfüllung der [!] alttestamentlichen Verheißung in Bezug auf eine künftige Zeit« (139), wie sie z.B. in Mi 4,6–8 und Sach 9,9 ff. (übereinstimmend) zum Ausdruck komme, vonstatten gehen werde. Nach einer Einführung (139 f.), Ausführungen zur Königsherrschaft Gottes im Alten Testament (140–142), der erwarteten Königsherrschaft Gottes im Judentum (142–143) und im Neuen Testament (144–148) fragt der Vf. im längsten Abschnitt dieses Kapitels nach dem Verhältnis von Königsherrschaft Gottes und Millennium (148–162). Mt 19,28; Lk 19,11 ff.; 24,21–28; Apg 1,6–8; 3,19–21 werden dabei im Sinn einer auch gegenwärtig politisch relevanten Wiederherstellung Israels interpretiert. Das Kapitel endet mit einem Blick auf »Das Land, der moderne Staat und die Königsherrschaft Gottes« (160–162). Der Vf. erweist sich dabei als eine Art christlicher Zionist.
Kapitel 6 geht auf die Vorstellung vom Millennium in Offb 20,1–6 ein und versucht zu zeigen, dass es sich bei der »tausendjährige[n] Königsherrschaft Jesu Christi« nicht um ein »Stück jüdischer Zu­kunftsspekulation« handle, das im »Widerspruch zum Rest des Neuen Testaments« stehe und daher zu »verwerfen« sei (163). Vielmehr stehe die Vorstellung eines Zwischenreiches in Übereinstimmung mit »vielen anderen biblischen Prophezeiungen im Alten und Neuen Testament« (163). Nach Darstellung verschiedener Interpretationsansätze in der zeitgenössischen Exegese (164–168) geht der Vf. auf »Prämilleniarismus« und »Amilleniarismus« in der Kirchengeschichte ein (168–173), um danach sein eigenes Verständnis der Joh-Offb insgesamt und von Offb 20,1–6 im Besonderen darzustellen (174–182). Ziel ist es, zu zeigen, dass die »in Offb 20,1–6 angekündigte Friedensherrschaft Jesu Christi im engen Zusam­menhang mit der ›Wiederherstellung Israels‹ zu sehen« sei (182).
Kapitel 7 fragt nach Belegen für das Tausendjährige Reich außerhalb der Joh-Offb. Dabei setzt der Vf. zunächst 1Kor 15,22–28; Röm 11,25–27 und Aussagen aus dem Hebr zur Sabbatruhe zueinander in Beziehung, um dann die »Verkündigung Jesu von der Aufrichtung seiner zukünftigen Herrschaft« (188–190) und das »Tausendjährige Reich und alttestamentliche Verheißungen« zu erörtern (190–192). Das überraschende Ergebnis lautet: Alles passt zusammen. Kapitel 8 bietet »Folgerungen für die Frage nach dem Tausendjährigen Reich« (193 f.), Kapitel 9 ein »Ergebnis« (195 f.) und Kapitel 10 einen »Epilog« (197 f.). – Die umfangreiche Bibliographie (199–234) enthält wesentliche fachexegetische Arbeiten zum Thema, aber auch Titel, deren wissenschaftliche Zuverlässigkeit man bezweifeln darf.
Ich lege das Buch mit einem ausgesprochen zwiespältigen Eindruck aus der Hand. Von der Sache und Zielsetzung her bietet der Vf. Überlegungen, die sich auch in (wissenschaftlich eher zweifelhaften) Büchern von W. Malgo, O. S. von Bibra, J. F. Walvoord u. a. finden. Der Vf. hat sich jedoch im Gegensatz zu diesen Autoren, wie die Fußnoten – zumindest äußerlich – belegen, breit auf die Kenntnisnahme der fachwissenschaftlichen Diskussion eingelassen. Der dadurch erweckte Eindruck wissenschaftlich verantworteter Exe gese steht allerdings in einem krassen Missverhältnis zu einem biblizistischen, ja teilweise fundamentalistischen Umgang mit der Schrift. Bei einem solchen Schriftgebrauch, der Unterschiede einebnet, geschichtliche Aspekte ausblendet, die Zeitbedingtheit biblischer Aussagen nicht berücksichtigt und keinerlei hermeneutische Überlegungen anstellt, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die genannte Literatur – im Grunde – zu Unrecht herangezogen wird. Eine Menge von Belegen aus der Fachliteratur in Fußnoten aufzulisten, muss noch nicht Teilnahme an der fachwissenschaftlichen Diskussion bedeuten. Und Konkordanzarbeit muss noch nicht Theologie sein. Was ich an diesem Umgang mit der Schrift kritisiere, ist, dass er vorgibt, sie als Gottes Wort ernst zu nehmen – aber dieser Umgang nimmt die Texte nicht wirklich beim Wort, lässt sie nicht wirklich ausreden, sondern fällt ihnen aufgrund anderer (angeblich theologischer) Vorentscheidungen immer wieder ins Wort. Damit tut man weder dem Wort Gottes noch der Gemeinde Jesu einen Gefallen. Ich bedaure, dass ich mir kein positiveres Urteil abringen kann.