Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1183-1186

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ratzinger, Joseph (Benedikt XVI.)

Titel/Untertitel:

Jesus von Nazareth. Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2011. 366 S. 8°. Geb. EUR 22,00. ISBN 978-3-451-32999-9.

Rezensent:

Jens Schröter

Wie schon der erste Teil von 2007 ist auch dieser, die Jesusdarstellung Joseph Ratzingers zum Abschluss bringende Band (ein Faszikel zu den Kindheitsgeschichten soll allerdings noch folgen) ein eindrückliches Zeugnis geistlicher Schriftlektüre aus der Perspektive des römisch-katholischen Dogmatikers. Er entfaltet dort seine Stärken, wo er die Geschichte Jesu vor einem solchen Horizont zur Sprache bringt und für Glauben und Liturgie der Kirche fruchtbar macht. Dazu werden die Evangelien (Synoptiker und Johannes) ohne Differenzierung ihrer literarischen und überlieferungsgeschichtlichen Verhältnisse zugrunde gelegt und – oftmals im Licht der Väterexegese – im Stil einer Evangelienharmonie zu einer Be­trachtung der Passions- und Osterereignisse verknüpft. Konkret nimmt sich das etwa so aus, dass die Erzählung von der Fußwaschung und »Das Hohepriesterliche Gebet Jesu« bei Johannes, der synoptische Bericht von der Einsetzung des Abendmahls (in Ratzingers Worten: der »Stiftung der Eucharistie«) sowie die verschiedenen Erscheinungsberichte, einschließlich der »Erscheinungen an Paulus« aus der Apostelgeschichte, für eine theologische Lektüre der Stationen vom Einzug in Jerusalem bis zu einem als »Ausblick« charakterisierten Teil über die Himmelfahrt, das Sitzen zur Rechten und die Erwartung der Wiederkunft Christi fruchtbar gemacht werden.
Der Einzug in Jerusalem sei Ziel des »Aufstiegs« Jesu ans Kreuz und bringe zugleich seinen königlichen Anspruch zur Geltung. Dies komme auch in der Tempelreinigung zum Ausdruck, die die Ersetzung des Tempelkultes durch das Sakrament seines Leibes und Blutes impliziere (36). R. legt für diese Deutung das am deutlichsten von einer nachösterlichen Perspektive geprägte Tempelwort aus Joh 2,19 zugrunde und blendet damit – ganz im johanneischen Sinn – die nachösterliche Sicht und den historischen Befund ineinander.
Ein eigener Teil ist der eschatologischen Rede Jesu gewidmet. In ihr komme die Überzeugung zum Ausdruck, »dass die Zeit dieses Tempels vorbei war und dass Neues kommen würde, das mit seinem Tod und seiner Auferstehung zusammenhing« (51). Stephanus und Paulus hätten dies aufgenommen: in seiner tempelkritischen Rede der eine, in der Bezeichnung Jesu als ἱλαστήριον (Röm 3,25), mit der »die ganze alttestamentliche Kulttheologie (und mit ihr die Kulttheologien der Religionsgeschichte überhaupt) ›aufgehoben‹ und auf eine ganz neue Höhe gebracht« werde (55), der andere.
Das Thema der Fußwaschung wird am Begriff der »Reinheit« entfaltet. Anders als in philosophischen Reflexionen über Abstieg und Aufstieg ziele die johanneische Darstellung auf die Verbindung des göttlichen und des menschlichen Bereichs. Die »Reinigung« sei deshalb nicht als Abstreifen des Irdischen verstanden, sondern als Heiligung, die die Trennung zwischen Gott und den Menschen aufhebt. Das Hohepriesterliche Gebet (Joh 17) sei auf dem Hintergrund des jüdischen Versöhnungsfestes als »das gleichsam für immer zugängliche Versöhnungsfest Gottes mit den Menschen« zu verstehen (97), das das alttestamentliche Ritual in ein Gebet umwandle und darin dem Hebräerbrief genau entspreche.
Chronologische und historische Differenzen können nicht völlig ausgeblendet werden. R. geht deshalb auf die unterschiedliche Datierung des letzten Mahles Jesu bei den Synoptikern einerseits (Vorabend des Pascha), Johannes andererseits (einen Tag früher) ein. Er entscheidet sich für die johanneische Datierung und verweist auf John P. Meier, der die synoptische Charakterisierung des letzten Mahles als Paschamahl als nachträgliche Einfügung in einen ursprünglichen Passionsbericht beurteilt hatte. So weit will R. zwar nicht gehen, übernimmt aber das Urteil, dass die »gesamte johanneische« mit der »ursprünglichen synoptischen Tradition« darin übereinstimme, dass das letzte Mahl kein Paschamahl gewesen sei. Die Frage, warum die Synoptiker es dann als ein solches darstellen, kann R. nicht beantworten. Man könnte dazu auf den Cha­rakter des Pascha als eines Festes rekurrieren, mit dem sich eine für Israel konstitutive Tradition (Auszug aus Ägypten als Begründung der Geschichte des eigenen Volkes) verbindet, die beim Pascha vergegenwärtigt wird. In analoger Weise könnte das letzte Mahl eine eigene Geschichte der Gemeinschaft Jesu begründet haben.
Mit der Einsetzung der Eucharistie werde »der alte Tempelkult aufgehoben« und »das Wesen des neuen Kultes sichtbar« (150). R. steht hier in der Tradition älterer Exegese, die die Einsetzungsworte mitunter mit den Motiven der Sendung des Gottesknechtes und des Menschensohnes verbunden hatte. Die neuere Diskussion hat dagegen andere Aspekte in den Vordergrund gerückt und die Vergegenwärtigung Jesu als Zentrum des sakramentalen Mahles der christlichen Gemeinde betont. R.s Ausführungen bleiben hier deshalb etwas einseitig und nehmen auch die Diskussion um religiöse bzw. kultische Mähler in der Antike nicht auf.
Die folgenden Kapitel schreiten über Gethsemani-Gebet, Prozess und Kreuzigung weiter zu Auferstehung und Erscheinungen Jesu. R. betont zu Recht, dass die Erfahrungen, die die Menschen um Jesus mit ihm gemacht haben, nicht mit der Kreuzigung enden, sondern in den Osterereignissen eine neue, überraschende Fortsetzung finden, die für die Entstehung des christlichen Glaubens von grundlegender Bedeutung ist. Deshalb seien sie auch in eine Jesusdarstellung einzubeziehen. Die Tradition vom leeren Grab sei zwar glaubwürdig, aber kein Beweis für die Auferstehung. Die Erscheinungstraditionen, unterteilt in Bekenntnis- und Er­zähltradition, seien deutliche Belege dafür, dass die Begegnungen mit dem Auferstandenen nicht als »innere Ereignisse« oder »mystische Erfahrungen« aufgefasst werden dürften, allerdings auch nicht als Rückkehr Jesu in die »empirische Existenz« (293). Vielmehr sei der Auferstandene in neuer Weise leibhaftig anwesend und habe den Tod endgültig hinter sich gelassen. Diese Interpretation der Ostererzählungen ist plausibel und textgemäß.
Wie bereits im ersten Band so betont R. auch hier, dass die historisch-kritische Methode allein nicht ausreiche, um die Auslegung biblischer Texte theologisch belangvoll werden zu lassen. Man wird dem Buch deshalb nicht gerecht, wenn man es an einem Textverständnis misst, das es gerade als defizitär aufweisen will. Der Auffassung, dass historisch-kritische Analysen biblischer Texte im Verbund vielfältiger Dimensionen der Textauslegung – wirkungsgeschichtlicher, hermeneutischer, systematisch-theologischer, um nur einiges zu nennen – stehen, wird man vorbehaltlos zustimmen. Fraglich bleibt indes, ob die Einsichten und Ergebnisse der historischen Kritik deshalb durch eine dogmatische Deutung der Person Jesu ersetzt werden sollten. Dies scheint trotz gegenteiliger Beteuerungen in der Konsequenz von R.s Vorgehen zu liegen. Die eigentlich virulente Frage lautet deshalb, ob die Aufhebung der Unterscheidung einer historisch-analysierenden und einer theologisch-interpretierenden Perspektive – mithin: von Exegese und Dog­matik – ein erkenntnistheoretisch, methodisch und theologisch sinnvolles Unterfangen darstellt. Der Preis dafür könnte sein, dass das Potential historisch-kritischer Bibellektüre, die ja gerade als Kontrolle und ggf. Korrektiv dogmatischer Aussagen durch den historischen Befund entstanden war, nicht mehr zur Geltung kommt. Von dieser Gefahr ist R.s Jesusdarstellung nicht frei, was sich vornehmlich in der nahezu durchgängig fehlenden Differenzierung zwischen dogmatischen Aussagen, literarischer Ebene der Evangelien und historischer Ebene des Wirkens und Geschicks Jesu zeigt. Das Ineinanderfließen dieser unterschiedlichen Perspektiven und das ständige Changieren der Darstellung zwischen ihnen ist das schwerwiegendste Defizit des Buches.
Ein Beispiel: In der Diskussion über die sog. »Einsetzungsworte« hat sich seit Langem ein weitreichender Konsens herausgebildet, dass diese Worte vermutlich nicht auf Jesus selbst zurückgehen. Ein Grund hierfür ist, dass die Thematik des Bundes, der durch das Blut Jesu geschlossen wird, in der Verkündigung Jesu ansonsten nirgendwo auftaucht, ein weiterer, dass es sich um offensichtlich durch die frühchristliche Überlieferung geformte Worte handelt, ein dritter, dass diese Worte eine Mahlätiologie darstellen, mit der die frühe Gemeinde ihre Mahlfeier auf das letzte Mahl Jesu zurück-führt. Die hohe Wahrscheinlichkeit einer historischen Verbindung von letztem Mahl Jesu und Mahlfeier der Gemeinde ist damit in keiner Weise infrage gestellt. Sie wäre jedoch im Blick auf die dabei zu beobachtenden historischen und überlieferungsgeschichtlichen Prozesse sorgfältig zu rekonstruieren und kann nicht durch die pauschale Behauptung der Herkunft der Einsetzungsworte vom historischen Jesus sichergestellt werden.
R. geht auf diesen Diskurs überhaupt nicht ein, sondern be­schränkt sich darauf, das angeblich als ausschlaggebend vorgebrachte Argument einer Diskrepanz zwischen der Reich-Gottes-Botschaft Jesu und seinem Kreuzestod zurückzuweisen. Dies ge­schieht so, dass er die Bergpredigt aufgrund der Makarismen der Verfolgten (Mt 5,10–12) insgesamt »von der Perspektive des Kreuzes« geprägt sieht, obwohl dort von einer Verfolgung Jesu überhaupt nicht die Rede ist, und zusätzlich auf den in der Antrittsrede Jesu in Lk 4,28 f. angekündigten Widerstand gegen Jesus hinweist. Diese einigermaßen abenteuerliche Exegese wird schon dadurch widerlegt, dass es sich in beiden Fällen um deutlich von der Theologie der Evangelisten geprägte Texte handelt, die nicht einfach auf die historische Ebene projiziert werden dürfen und auch keineswegs für eine »Perspektive des Kreuzes« herhalten können.
An diesem Beispiel, das für R.s Umgang mit den biblischen Texten durchaus repräsentativ ist, zeigt sich, dass seine Jesusdarstellung Gewinn und Risiko der »Einhegung« historisch-kritischer Exegese durch Dogmatik und geistliche Schriftlektüre gleichermaßen deutlich werden lässt. Der Gewinn ist der große Reichtum, den die biblischen Texte entfalten, wenn man sie in den weiten Raum ihrer Auslegungsgeschichte stellt und als Zeugnisse liest, die auch in der Gegenwart dem christlichen Glauben Orientierung und geistliche Tiefe zu geben vermögen. Das Risiko besteht darin, die in der Neuzeit gewonnene Freiheit historisch-kritischer Bibelinterpretation zu verspielen, die für einen vor seinen Ursprüngen verantworteten, intellektuell auf der Höhe der eigenen Zeit befindlichen christlichen Glauben unverzichtbar ist. Letztlich bleibt darum die Frage, ob der keineswegs auf den historischen Befund zu beschränkende Gehalt biblischer Texte nicht gerade auf der Grundlage intensiver historisch-kritischer Analysen zu erheben wäre. Der Rezensent würde dies jedenfalls entschieden bejahen.