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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1179-1181

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Flüchter, Sascha

Titel/Untertitel:

Die Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit. Auf dem Weg zu einer sozialhistorisch orientierten Rezeptionsgeschichte von Gen 15,6 in der neutestamentlichen Literatur. Unter Mitarbeit v. L. Schnoor.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2010. XIII, 385 S. m. Tab. 8° = Texte und Arbeiten zum neutes­tamentlichen Zeitalter, 51. Kart. EUR 78,00. ISBN 978-3-7720-8373-0.

Rezensent:

Jens-Christian Maschmeier

In der von Bernd Wander betreuten Dissertation beschäftigt sich Sascha Flüchter mit einem für die protestantische Theologie be­deutenden Schriftvers: Die Aussage von Gen 15,6, dass Gott Abraham seinen Glauben zur Gerechtigkeit anrechnet, gilt als locus classicus für das paulinische Verständnis von Rechtfertigung. F. zeigt, dass in der Regel die Rezeptionen (F. spricht genauer von Konkretisationen einer Rezeption) dieses Verses daran gemessen werden, ob sie das sola fide als Norm reformatorischen Glaubens betonen oder durch einen Bezug zum menschlichen Gehorsam unterwandern. Dies hat zur Folge, dass die Rezeptionen von Gen 15,6 in eine jüdische und eine »paulinisch-christliche« Linie aufgeteilt werden. F. wendet sich nun gegen ein solches evolutives rezeptionsgeschichtliches Modell, das ein vermeintlich objektives Verständnis eines Textes unab­- hängig vom jeweiligen historischen Kontext zum Maßstab der Rezeption mache. Stattdessen greift er das von Gunter Grimm entwickelte literaturwissenschaftliche Mo­dell einer sozialgeschichtlich orientierten Rezeptionsgeschichte auf und macht es für die Theologie fruchtbar. Dieses Modell setzt beim Subjekt der Rezeption an, das allerdings nur hinsichtlich der Rezeption des spezifischen Textes in den Blick kommt. F. nennt diesen Ansatz subjektperspek­tivisch-objektorientiert. Ziel einer solchen rezeptionsästhetisch orientierten Rezeptionsgeschichte ist nicht die Überprüfung, ob die Rezeption der Autorintention ge­recht wird, sondern das Offenlegen ihrer Funktion in der jeweiligen historischen Situation und unter den jeweiligen sozialen Bedingungen.
Die Arbeit ist zweigeteilt. In Teil A, den F. innerhalb eines Ge­meinschaftsprojektes mit Lars Schnoor verantwortet, legen die beiden Autoren die theoretischen und methodischen Aspekte einer sozialhistorisch orientierten Rezeptionsgeschichte von Gen 15,6 dar. Die ersten beiden Kapitel beschäftigen sich mit der Forschungsgeschichte von Gen 15,6 und bisher vorgelegten Rezeptionsgeschichten dieses Verses. Der aufgezeigte fehlende Konsens hinsichtlich des Verständnisses von Gen 15,6 – hier verweisen die Autoren u. a. auf die umstrittene Frage, wer Subjekt der Anrechnung des Glaubens in V. 6b ist – zeige den Vorteil einer Orientierung am Rezipienten: Der semantische Gehalt des Verses werde offen gehalten. Der subjektperspektivische Ansatz impliziert zu­gleich eine Kritik an bisherigen Rezeptionsgeschichten von Gen 15,6, die die Rechtfertigungslehre mit ihrer Opposition von Glaube und Werken zum normativen Maßstab der Rezeption machen. Das sei auch insofern problematisch, als die Möglichkeit, Abraham als Subjekt der Anrechnung des Glaubens zu verstehen, von vornherein ausgeschlossen werde. In Kapitel 3 fundieren die Autoren ihr Vorgehen unter Rückgriff auf das rezeptionsästhetische Modell von Gunter Grimm (s. o.) und das von Klaus Berger auf neutestamentliche Texte zugeschnittene sprachwissenschaftliche Modell semantischer Felder theoretisch. Letzteres dient dazu, durch die Ermittlung des Grundwortfeldes und charakteristischer Verbindungen von Elementen desselben objektive Kriterien für das Auffinden sprachlicher Konkretisationen zur Verfügung zu stellen. Im Anschluss daran (Kapitel 4) wird ein an den synchronen Methoden orientiertes rezeptionsästhetisches Analyseverfahren vorgestellt, das in einem abschließenden Vergleich mit anderen Konkretisationen mündet und so das Maß an Tradition und Innovation der untersuchten Konkretisation offenlegt.
Im Teil B, den F. allein verantwortet, nimmt er eine rezeptionsästhetische Analyse von Jak 2,14–26, Hebr 6,9–15; 11,11 f.; 11,17–19 und 1Clem 10,1–7; 17,2; 30,6–32,4 vor. Im Hinblick auf den Jakobusbrief (Kapitel 6) zeigt er, dass sowohl die Annahme einer Opposition zur paulinischen Rezeption dieser Stelle als auch die traditionsgeschichtliche Einordnung in eine jüdische Interpretationslinie, die sich durch die Verbindung von Gen 15,6 mit der Bindung Isaaks als Gehorsamsakt Abrahams (Gen 22) auszeichne, dem Anliegen des Verfassers nicht gerecht wird. Nach F. geht es in Jak nicht um die Frage, ob Glaube oder Werke rechtfertigen, sondern um die soteriologische Relevanz eines tatkräftigen Glaubens. Diese führe der Verfasser seinen Adressaten in Jak 2,14–26 u. a. am Beispiel Abrahams mahnend vor Augen, um die Absurdität eines Glaubens aufzuzeigen, der den Willen Gottes zwar kennt, aber nicht danach handelt. Missstände in der Gemeinde, nicht die Diskussion soteriologischer Konzepte, bildeten den sozialhistorischen Kontext des Briefes: Abraham fungiere als Paradigma der Einheit von Glauben und Glaubenspraxis, wobei Gen 22 als ein – allerdings prominentes– Beispiel seines tatkräftigen Glaubens angeführt werde.
Die Tragfähigkeit von F.s Vorgehen zeigt sich in besonderem Maße in der rezeptionsästhetischen Analyse des Hebräerbriefs (Kapitel 7). Hier weist F. – in der Forschungsgeschichte nahezu singulär – nicht nur Hebr 6,9–15; 11,17–19 und Hebr 11,11 f. als Konkretisationen der Rezeption von Gen 15,6 nach, sondern er zeigt auch, dass Abraham Subjekt der Anrechnung des Glaubens ist: Abraham rechne in der Anfechtung (Ausbleiben der Nachkommenschaft, hohes Alter) mit Gottes Treue zu seinen Verheißungen und bewähre sich so selbst als treu/glaubend. Die Motivation für diese Bewährung liege nicht in der Erwartung von Lohn begründet, sondern im Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit (Hebr 6,9) und Treue (Hebr 11,11), die sogar den Tod überwinden und so die Nachkommensverheißung realisieren könne (Hebr 11,19). Der Rückgriff auf Gen 22 unterstreiche dabei durch die Form der Verheißung als Schwur (Gen 22,16 LXX) die Unverbrüchlichkeit der Verheißung (Hebr 11,11–12) bzw. die Größe der Anfechtung (Hebr 11,17). Hier zeige sich die paränetische Absicht des Hebr: Die Gemeinde solle in widrigen geschichtlichen Umständen das Vertrauen Abrahams nachahmen und dürfe sich dabei der Erfüllung der Verheißungen Gottes sicher sein. Die Möglichkeit, dass Abraham als Subjekt des Anrechnens der Treue/Gerechtigkeit verstanden werden könne, zeigt sich für F. in der Rezeption von Gen 15,6 in Abr 273, insbesondere aber in Neh 9,7–8 und bei Nachmanides.
In Kapitel 8 analysiert F. 1Clem. Er weist – ähnlich wie beim Jak– nach, dass der Zusammenhang von Glauben und dessen lebenspraktischer Realisierung nicht als verdienstliche Werkgerechtigkeit verstanden werden kann. In 1Clem 10,1–7 zeige sich zum einen, dass Glaube Reaktion auf und nicht Bedingung der Verheißung Gottes sei, und zum anderen, dass Abrahams Gehorsam durch sein Vertrauen in Gottes Segensverheißung, nicht aber durch die Erwartung von Lohn motiviert sei. Die Bindung Isaaks sei neben dem Auszug aus Haran ein weiteres Beispiel der lebenspraktischen Realisierung des Glaubens. F. weist anhand des Einbezugs des semantischen Feldes von Gen 15,5 in 1Clem 10,5 4Q225 als traditionsgeschichtliche Parallele aus. Singulär in Verbindung mit der Rezeption von Gen 15,6 sei hingegen die Darstellung Abrahams als Vorbild für Gehorsam (1Clem 10,7), Demut (1Clem 17,2) und Gastfreundschaft (1Clem 10,7). Diese Innovation im 1Clem sei dem paränetischen Interesse des Verfassers geschuldet, dem es um die Wiederherstellung der »kirchlichen Ordnung« in Korinth gehe.
Mit seiner Dissertation legt F. nicht nur eine gut lesbare und stringent argumentierende Arbeit vor, sondern er präsentiert eine innovative objektive Methode zur Identifikation potentieller Konkretisationen von Schriftstellen, deren Leistungsfähigkeit er durch den Nachweis bisher nicht wahrgenommener Konkretisationen der Rezeption von Gen 15,6 in Hebr überzeugend demonstriert. Darüber hinaus leistet F. einen wichtigen Beitrag dazu, die »lutherische Brille« in der Exegese des Neuen Testaments abzulegen: Wo es keine Werkgerechtigkeit (Sanders) gibt, gegen die Paulus vorgehen könnte, erweist sich auch der Zusammenhang von Glauben und Glaubenspraxis in Jak, Hebr und 1Clem nicht als ein Rück­schritt hinter eine paulinische »Rechtfertigungslehre«, deren vermeintliches Proprium in einer strikten Trennung von passiv empfangenem Glauben einerseits und menschlichen Werken andererseits besteht. Es zeigt sich: Wenn das Handeln der Glaubenden nicht zwanghaft gegen den Versuch erneuter Werkgerechtigkeit geschützt werden muss, eröffnet das die Möglichkeit, neu über das Verhältnis von menschlicher Passivität und Aktivität bzw. göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit in der neutestamentlichen Ethik nachzudenken.