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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1177-1178

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Delorme, Jean, et Isabelle Donegani

Titel/Untertitel:

L’Apocalypse de Jean. Révélation pour le temps de la violence et du désir. Tomes I et II. Préface et postface de J. Calloud. Avant-propos d’I. Donegani.

Verlag:

Paris: Cerf 2010. Tome I: Chapitres 1–11. 255 S. 8° = Lectio Divina, 235. Tome II: Chapitres 12–22. 265 S. 8° = Lectio Divina, 236. Kart. EUR 43,00. ISBN 978-2-204-09231-9.

Rezensent:

Martin Karrer

Im Frankreich der 1960er und 70er Jahre erfuhren Linguistik und Semiotik, Strukturalismus und Psychoanalyse wesentliche Impulse. Der Linguist Algirdas Julien Greimas, der Zeichenketten untersuchte, und Jean Delorme (1920–2005, Professor an der Katholischen Universität Lyon) begegneten sich. Jacques Lacan, der aus katholischem Hause stammte, regte eine strukturalistisch psychologische Lektüre von Schriften an, die den Zugang zu symbolischen und imaginativen Texten belebte, weil sie das Unbewusste wie eine Sprache erschloss. Delorme entwickelte aus dem interdisziplinären Austausch einen eigenen semiotischen, psychoanalytisch offenen Ansatz der Interpretation oder besser Vermittlung neutestament licher Schriften; denn bei dieser Art der Lektüre wird die Distanz des Wissenschaftlers stets zugleich durch eine Beteiligung des Lesers gebrochen, der aus den Zeichenketten einen eigenen Faden webt, der das Bezeichnete lebenswirksam werden lässt.
Ab 1998 arbeitete Isabelle Donegani, die 1997 in der frankophonen Schweiz über die Apk promoviert hatte (vgl. ThLZ 123 [1998], 852–854), mit Delorme zusammen (I, 14). Sie erlebte und gestaltete einen großen Teil seiner für Konferenzen in Frankreich und der Schweiz (1994–2003; vgl. I, 23) entstandenen Kommentierung der Apk mit. Nun, einige Jahre nach Delormes Tod, rundete sie das Werk ab, vervollständigte und edierte es, unterstützt durch Jean Calloud, der den semiotischen Ansatz in Vor- und Nachwort (I, 23–26; II, 225–234) seinerseits weiterzudenken versucht.
Der Reiz der vorliegenden Auslegung liegt damit im Versuch, die Semiotik, den Strukturalismus und die semiotisch-struktural angeregte Psychoanalyse des französischen 20. Jh.s für eine allgemeinverständliche religiöse, genauerhin im Katholizismus verwurzelte Vermittlung der Apk fruchtbar zu machen. Möglich ist das durch eine anwendungsorientierte Semiotik, die nicht (wie in sprachwissenschaftlicher Theorie seit Saussure bevorzugt) sprachliche Strukturen abstrahiert, sondern in der »figuralen« Dimension des Textes – seiner literalen Oberfläche – einen bedeutungstra­genden (»signifiant«) Horizont verfolgt, der über Bekanntes und Geglaubtes hinaus zu Neuem führt. Von Saussure her gesehen, findet im Spiel zwischen »langue« (Zeichensystem) und »parole« (dem konkreten Sprechen) die Dynamik zur »parole« und von der »parole« zum Hörer das entscheidende Interesse (I, 36–40 u. ö.; zu Saussure I, 40, Anm. 1). Theologisch-semiotisch weitergeführt, zielt der Text und seine Auslegung beim Leser auf eine Bedeutungstransformation, die ihrerseits als verlebendigte Gestalt des Glaubens gefasst werden kann (vgl. bes. I, 18 mit Anm. 2). Möglich ist eine solche Lektüre bei allen neutestamentlichen Texten. Die imaginativ-symbolische Sprache der Apk, die die Tiefenpsychologie schon seit Langem beschäftigt, wirkt aber besonders anregend.
Wie entschieden lässt sich ein solcher Ansatz durchführen? Übersehen wir nicht die Eigendynamik der langen Auslegungstradition der Apk, der sich ein Kommentar schwer widersetzen kann. Die antike Rekapitulationstheorie (Motive und Bilder wiederholen sich in einer inneren Bewegung) vermag semiotisch und psycho­-logisch fruchtbar aufgegriffen zu werden (ab I, 11 assoziativ mit dem Siebentage-Schema von Gen 1 verbunden), und viele Beobachtungen der herkömmlichen Auslegung sind zu integrieren. Bekanntlich würdigt die Forschung seit einigen Jahren, angeregt z. B. durch E. Schüssler Fiorenza, weltweit die evokative Symbolsprache der Apk.
Aber die seit der Aufklärung dominante kritische Betrachtung, religionsgeschichtliche Analyse (für die bis heute W. Bousset mit seinem Kommentar von 1906 steht, den Delorme/Donegani nicht zitieren) und zeitgeschichtliche Hinterfragung hoben stets auf eine größere Distanz zum Text ab. Die psychologische Interpretation führte zu konkurrierenden Modellen. C. G. Jung (Antwort auf Hiob, 1952) und D. H. Lawrence (seine durch A. Adler angeregt Studie Die Apokalypse, dt. Düsseldorf 2000, ist zu Unrecht weniger bekannt) zeigen widersprüchliche Wahrnehmungen der Signifikantenketten, und die Differenzen selbst innerhalb der für Frankreich anverwandelt wichtigsten Freudschen Tradition sind un­übersehbar (man denke an den Verriss der Apk durch H. Raguse, Psychoanalytische und biblische Interpretation, Stuttgart u. a. 1993), weshalb auffällt, dass Delorme/Donegani nur Lacan zitieren (die anderen genannten Werke indes bis in die Bibliographie [II, 235–242] übergehen). Die linguistischen Einflüsse auf die französische Diskussion veranlassen eine eigentümliche Zuwendung vor allem zum Wort; der Satz, die Apk gebe »moins à voir et imaginer qu’à entendre« (I, 75) ist charakteristisch für dieses Gefälle.
Donegani sucht, das wird spätestens hier sichtbar, einen Mittelweg, der die Beobachtungen der herkömmlichen historischen Kritik einbezieht und gemäßigt im französisch-semiotischen Diskussionsfeld aktualisiert. Der Kommentar integriert insofern auch die Auslegungstraditionen, die ihm weniger wichtig sind, nennt z. B. bei 13,18 die geläufige auf Nero zielende Interpretation, obwohl die semiotisch-sozialpsychologische Dynamik die Aufmerksamkeit nicht in die Ferne des späten 1. oder frühen 2. Jh.s, sondern auf die »forces de perversion qui s’exercent dans la société, à toute époque« lenke (II, 36).
Die eigentümlichen Stärken des Kommentars kommen am bes­ten zum Zuge, wo er »Achsen« (»repères«; semiotisch-interaktive Vertiefungen) formuliert, die das Spiel zwischen signifiant-signifié und Leser erleichtern sollen (I, 15 f.). Nennen wir paradigmatisch die Szenenfolge um Frau/Drachen und Geburt in Kapitel 12, die die Auslegung seit jeher fesselt (II, 21–27): Der Drache gewinnt (aus der Psychoanalyse gut verständlich) unmittelbare Aktuali- tät. Denn er spiegelt die Bedrohungen, die die wahre Geburt des Menschen (wir könnten in anderen semiotisch-psychologisch-theologischen Mo­dellen von seiner Selbstwerdung sprechen) hintertreiben (II, 37). Die Frau wird nicht minder plastisch; ihre mythologische Tiefe verweist auf eine Grunderfahrung der Schöpfung von Mutterschaft und Widerstand (so dass der Kommentar die Tradition von Gen 3,15 einbeziehen kann). Die Rettung und Kraft des Geborenen vertieft sich messianisch (eine Brücke zur Christologie). Individuelles und Kollektives (Eva als Mutter der Menschheit und die Stammmutter für Israel) kommen zum Zug, interessanterweise, ohne dass die Auslegung den Schritt zu einer Integration der Motive in mariologischer Deutung vollzöge. Der Kommentar bleibt im semiotischen Ansatz und im katholischen Milieu durchaus selbstständig.
Weitere solche »repères« gelten (neben dem besprochenen se­miotischen Ansatz) namentlich den Sendschreiben (I, 132–137), den Christusbezeichnungen bis zum Reiter von Apk 19 (II, 124 f.) und den 1000 Jahren von Apk 20 (II, 139–142).
Der Kommentar liest sich gut, führt aber auf seinem mittleren Weg insgesamt zu weniger und vorsichtigeren Pointen als die französisch-semiotische und tiefenpsychologische Arbeit des 20. Jh.s erlauben würde. Was die herkömmlich-kritische Auslegung an­geht, ist deutsche Literatur nur in sehr geringem Umfang berück­sichtigt. So eignet sich der Kommentar vor allem als reizvoller Einblick in die französischsprachige Diskussion.