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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1173-1175

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Carleton Paget, James

Titel/Untertitel:

Jews, Christians and Jewish Christians in Antiquity.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XV, 538 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 251. Lw. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-150312-2.

Rezensent:

Markus Lang

Das Verhältnis von Frühjudentum und Frühchristentum wird in der jüngeren Forschungsgeschichte ausgiebig diskutiert (Parting-of-the-Ways-Problematik etc.). Dieser aus gesondert veröffentlichten Einzelbeträgen von James Carleton Paget bestehende Band beschäftigt sich in unterschiedlicher Weise mit Einzelproblemen dieser Verhältnisbestimmung und ist in drei Einzelabschnitte unterteilt. Die erste und umfangreichste Sektion widmet sich jü­disch-christlichen Beziehungen in der Frühzeit des Christentums, die zweite der teilweise sehr schwierig zu definierenden Kategorie »Judenchristentum«. Abschließend wird die historische Lücke in Blick auf das Judentum im 2. Jh. n. Chr. behandelt.
Das sehr ausführliche Einleitungskapitel (1–39) umreißt den aktuellen Forschungsstand zu den drei Teilabschnitten und bietet aber auch bereits die Konklusionen des Bandes. C. P. gibt einen teilweise sehr detaillierten Einblick in die aktuelle Forschungsdiskussion mit Schwerpunkt auf der rezenten englischsprachigen Literatur. In Hinblick auf seinen ersten Hauptteil notiert er relevante Punkte der Parting-of-the-Ways-Diskussion unter Betonung der in manchen Regionen noch lange unklaren und verschwimmenden Grenzen. Bezüglich der Kategorie »Judenchristentum« zeigt er – wie auch an anderen Stellen des Sammelbandes – die Unschärfe, mangelnde Konkretion und sprachliche Vielfalt der Definitionen von Judenchristentum auf. Das Judentum des 2. Jh.s ist in den Quellen kaum greifbar, daher werden in der Einleitung diverse Erklärungsmodelle hierfür diskutiert.
Der erste Artikel (Anti-Judaism and early Christian identity; 43–76) der Sektion Jewish-Christian Relations widmet sich der Frage nach der jüdischen Realität hinter der frühchristlichen Adversus-Judaeos-Literatur als Kritik der Dissertation Anti-Judaism and Early­ Christian Identity von M. Taylor, für die die Fiktionalität des jüdischen Gegner konstitutives Element der Selbstkonstitution der frühchristlichen Identität ist. C. P. wiederum versucht einen Einblick in die teilweise greifbare Realität des Judentums im 2. Jh. bzw. die fehlende Notwendigkeit zur Auseinandersetzung damit zu bieten.
Als Illustration dieser Überlegungen folgen zwei kürzere Beiträge: der zweite Beitrag (Barnabas 9.4 a peculiar verse on circumcision; 77–89), in dem C. P. einerseits Barn frühjüdischen Traditionen verpflichtet sieht (Allegorisierung der Beschneidung, Angelologie), andererseits aber die theologische Eigenständigkeit dieses Werkes in seiner Behandlung der Problematik betont, wodurch sich für ihn eine eindeutige Konfliktsituation im Umfeld des Autors zeigt. Im dritten Kapitel (Clement of Alexandria and the Jews; 91–102) wendet er sich dem Desinteresse bzw. dem vollständigen Fehlen des Judentums in den Werken von ClemAl zu. Dies dürfte durch die weitgehende Vernichtung des ägyptischen Judentums im Diasporaaufstand (116–117 n. Chr.) zu begründen sein und zeigen, dass antijüdische Polemik sehr wohl von der Präsenz einer starken jüdischen Gemeinschaft abhing.
In Messianism and resistance amongst Jews and Christians in Egypt (103–122) wendet sich C. P. der spärlichen Quellenlage zu Apokalyptik und Messiaserwartungen im Land am Nil zu. Er zeichnet den Weg der jüdischen Messiaserwartungen von interpretationsoffenen Ideen (OrSib 3) über einen Mix aus Allegorese und Tradition (Philo) bis hin zu radikal-militaristischen Vorstellungen (OrSib 5) nach, die er in direkten Konnex zu von ihm vermuteten messianischen Hintergründen der Diasporarevolte stellt. Auf christlicher Seite verbucht er bloß Barn und die isagogisch schwer zu bestimmende ApkEl, wodurch er eine Kontinuität in diesen Vorstellungen von Frühjudentum zu Frühchristentum zu konstruieren versucht.
Das folgende Kapitel (Jews and Christians in ancient Alexandria – from the Ptolemies to Caracalla; 123–147) widmet sich den Fragen der Inkulturation der Juden und Christen in der Stadt im Nildelta. Während die Juden an ihrer Integrität als Bundesvolk in ihrer variierenden Torah-Observanz festhielten, ging die Inkulturation der Christen trotz Verfolgungen etc. weiter, insbesondere in ihrer Auseinandersetzung mit den alexandrinischen Bildungstraditionen.
Da eine missionarische Aktivität des Judentums in der Frühzeit des Christentums besonders in jüngerer Zeit stark infrage gestellt wird, versucht C. P. in Jewish proselytism at the time of Christian origins: chimera or reality (149–183) eine Mittelposition einzunehmen, indem er Indizien für die Gewinnung von Proselyten sammelt und für eine in ihrer Intensität variierende und lokal zu differenzierende frühjüdische Mission plädiert.
Im ausführlichsten Artikel des ersten Abschnittes (Some observations on Josephus and Christianity; 185–265) votiert C. P. für eine– wie von ihm selbst betont – in hohem Maße hypothetische Re­konstruktion eines reduzierten originalen Testamentum Flavianum, das eine Erklärung für unterschiedliche Szenarien jüdisch-christlicher Interaktion bietet. The Four among the Jews (267–286) schließt den ersten Hauptteil ab. Hier geht C. P. frühjüdischer Polemik nach, wie sie teilweise nur durch die Adversus-Judaeos-Li­teratur belegt ist. Aufgrund dieser wenigen Belege meint er, Indizien für eine polemische relecture der kanonisch gewordenen Evangelien aufspüren zu können.
›Jewish Christian‹/›Jewish Christianity‹ in the history research (289–324) eröffnet den Abschnitt über das »Judenchristentum« und bietet einen detaillierten Forschungsüberblick über die teilweise oft sehr unklare Verwendung dieses Begriffsfeldes, an dessen Ende C. P. für einen Abschied von diesem schwierigen Begriff votiert und ihn durch »Torah-observant« ersetzen möchte. Ein zweiter Forschungsüberblick über die jüngere Ebionäerforschung (325–379) beschließt auch wieder den Abschnitt über das Judenchris­tentum.
Der dritte und letzte Teil über das Judentum im 2. Jh. besteht ebenso nur aus zwei Beträgen: The enigma of the second century (383–425) und Pseudo-Clementine Homilies 4–6: rare evidence of a Jewish literary source from the second century C. E. (427–492). Im ersten Abschnitt bespricht C. P. die sehr dürftige Quellenlage zum Judentum des 2. Jh.s und setzt sich teilweise sehr ausführlich mit den Theorien zu dieser schwierigen Forschungssituation auseinander, um am Ende die Meriten solcher Überlegungen und ge­-lehrter Spekulationen festzuhalten. Eine mögliche Quelle zum Judentum dieses Zeitraumes versucht er im letzten Abschnitt des Sammelbandes zu isolieren, nämlich einen jüdischen »Bekehrungsroman« hinter PsClem Hom 4–6. Der Homilist soll hier einen kaum überarbeiteten Auszug aus einer jüdischen Quelle des zweiten Jahrhunderts konserviert haben, was für C. P. – abweichend von der von ihm kritisierten landläufigen Forschungsmeinung – einerseits ein missionarisch aktives Judentum für diesen Zeitraum be­legt und andererseits herkömmliche Ablösungstheorien des Früh­christentums vom Frühjudentum in Zweifel zieht. Dem Band beigegeben sind ein Register antiker und christlicher Quellen (493–521) und ein Autorenregister (523–538).
Den Ergebnissen und Hypothesen dieser Sammlung wird man zwar im Einzelnen nicht immer folgen können bzw. sogar widersprechen müssen. C. P. zeigt aber eine profunde Kenntnis der Materie und der aktuellen Forschungslage. Darüber hinaus bietet er vielfältige kreative Anstöße für die weitere Forschungsdiskussion und -arbeit. Wer sich für die Fragestellungen des Sammelbandes interessiert, wird ihn mit Gewinn lesen und darin manche Anregung finden.