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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1170-1173

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Luchsinger, Jürg Thomas

Titel/Untertitel:

Poetik der alttestamentlichen Spruchweisheit.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 352 S. m. Abb. gr.8° = Poetologische Studien zum Alten Testament, 3. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-021233-6.

Rezensent:

Rolf Schäfer

Jürg Thomas Luchsinger ist Pfarrer in Birr (Kanton Aargau), Do­zent für Theologie des Alten Testaments am Theologisch-Diako­nischen Seminar in Aargau und Vizepräsident der Arbeitsgemeinschaft für biblisch erneuerte Theologie (AfbeT). Bei dem anzuzeigenden Werk handelt es sich um die für den Druck leicht überarbeitete Fassung seiner 2009 an der Universität Basel eingereichten Dissertation. Sein Doktorvater Klaus Seybold hat L.s Arbeit in die vierbändige Reihe »Poetologische Studien zum Alten Testament« aufgenommen, wo sie nun zwischen den drei von Seybold selbst verfassten Monographien zur »Poetik der Psalmen« (2003, rez. in ThLZ 131 [2006]), zur »Poetik der erzählenden Literatur im Alten Testament« (2007, rez. in ThLZ 133 [2008]) und zur »Poetik der prophetischen Literatur im Alten Testament« (2010) steht. Es liegt nicht am Um­fang, dass L.s Arbeit neben diesen drei Werken etwas »schmal« daherkommt, sondern an der (im Rahmen der Dissertation gewiss notwendigen) Beschränkung der Untersuchung auf die Sammlungen II und V des Sprüchebuchs (Spr 10,1–22,16 und Spr 25–29). Von der Konzeption der Reihe her hätte man an dieser Stelle eine weiter gespannte Darstellung weisheitlicher Ausdrucksformen im Alten Testament erwartet.
Einleitend erläutert L. seine Voraussetzungen (11–30): Gegenstand der Untersuchung sind die in den genannten Sammlungen überlieferten Einzelsprüche, und zwar in ihrer kanonischen Ge­stalt und dem damit gegebenen Kontext. In diesem Horizont versteht L. die von ihm untersuchten Sprüche als »Bildungsliteratur«, die »der Charakterbildung des Menschen« diene und deren utilitaristischen Charakter er bestreitet. »Die Werte der Weisen sollen schlicht darum angeeignet werden, weil sie gut sind und letztlich dem Willen Jhwhs entspringen.« (25 f.) Die Sprache der Spruchweisheit sei dementsprechend persuasiv, vergleichbar mit heutiger Werbesprache (27), und die Poetik stehe im Dienst der Rhetorik und diene der persuasiven Funktion (30). Die Untersuchungsmethode entspricht der des New Literary Criticism, so dass »die Fragen nach dem Wie? … und vor allem nach dem Wozu?, dem Zweck der Spruchliteratur« (17) im Mittelpunkt stehen und mit linguistischen und literaturwissenschaftlichen Mitteln bearbeitet werden. Historische Fragestellungen, beispielsweise form-, traditions- oder textgeschichtlicher Art, bleiben dagegen unberücksichtigt. Am Anfang der Untersuchung stehen allgemeine Überlegungen zur hebräischen Poesie (31–50). Deren wesentliches Merkmal ist unstrittig der Parallelismus membrorum, der nach A. Berlin auf allen Textebenen wirksam sein kann und daher nicht länger als ein rein semantisches Phänomen betrachtet werden darf (40). Daraus entwickelt L. seine These, das »Zusammenspiel des semantischen und syntaktischen wie des lautlichen Parallelismus« sei auch maßgeblich »für die quantitative Beschaffenheit und Ausgewogenheit« (41) der hebräischen Poesie. Dieser These folgend wird zunächst die quantitative Struktur der Sprüche in den Blick genommen (51–95). L. referiert die gängigen metrischen Modelle, konstatiert »Konsenslosigkeit« (59) und entscheidet sich für die syntaktische Analyse als gangbarsten Weg. Als Arbeitshypothese setzt er ein »binäres Strukturprinzip« (71) voraus: Ein Spruch besteht aus zwei Zeilen, eine Zeile besteht aus zwei Phrasen, eine Phrase besteht aus zwei units (mit unit bez. L. die quantitativ/rhythmisch signifikante Einheit, in der Regel ein Wort oder eine eng zusammengehörige Wortgruppe). Ein solches syntaktisches Gebilde folgt dem rhythmischen Schema (2 + 2) // (2 + 2). Der Zusammenhang zwischen Syntax und Rhythmus ist für L. »offensichtlich«, und in der Tat leuchtet ein, dass »[d]ie Anzahl und Gruppierung von Wörtern … für den Rhythmus massgebend« (75) ist. Das an Begrich, Kugel und O’Connor anknüpfend entwickelte »Strukturprinzip« kann L. vielfach belegen, indem er mithilfe eines stattlichen Haines von »Baumdiagrammen« zeigt, dass es auch in Zeilen mit weniger oder scheinbar (!) mehr als vier units wirksam ist (75–95). In der »masoretischen Kolometrie« der Sprüche findet L. ebenfalls Übereinstimmungen mit seinem »Strukturprinzip« (96–120). Das kann nicht überraschen, da die Akzentuierung ja unmittelbar mit dem Vortrag – also mit der klanglichen und damit auch der syntaktischen Struktur – des Textes in Zusammenhang steht.
Seine Überlegungen zum Parallelismus membrorum (121–201) beginnt L. mit einem breiten Referat der Forschungsgeschichte (121–157). Bei den »neueren Ansätzen« stellt er den linguistischen (u. a. Begrich, Jakobson, Berlin) die literaturwissenschaftlichen (Kugel, Gillingham, Alter) gegenüber. Während die linguistischen Ansätze in erster Linie die beiden parallelen Glieder in ihrem Nebeneinander auf Korrespondenz, Rekurrenz, Äquivalenz hin untersuchen, betonen die literaturwissenschaftlichen Ansätze deren Nacheinander als eine zielgerichtete Bewegung, eine dynamische Abfolge von A nach B. Zugespitzt formuliert können aus linguistischer Perspektive die nach Lowth als »synthetisch« klassifizierten Parallelismen eigentlich nicht mehr als Parallelismen beschrieben werden, während aus literaturwissenschaftlicher Perspektive im Grunde alle Parallelismen als synthetisch aufzufassen sind. Jede dieser beiden Betrachtungsweisen erfasst zweifellos einen wichtigen Teilaspekt. L.s »eigenes Modell« (156) besteht nun darin, im Anschluss an seinen Lehrer Seybold die beiden Betrachtungsweisen miteinander zu verbinden, um sowohl die statische als auch die dynamische Komponente des Parallelismus in ihrem »Zusammenspiel« zu erfassen. Anhand zahlreicher Beispiele untersucht L. einerseits die semantischen Relationen der beiden Zeilen (159–180) und andererseits die bei Musterwiederholungen auftretenden größeren und kleineren Varianzen.
Ein eigener Abschnitt ist den »kontrastiven Sprüchen« gewidmet (202–226), also jener großen Gruppe, die nach herkömmlicher Terminologie einen »antithetischen« Parallelismus aufweist. Letztere Bezeichnung hält L. für ungeeignet, weil der Begriff »Antithese« in diesem Zusammenhang bisher nicht völlig geklärt sei (203); die stattdessen eingeführte Bezeichnung »kontrastiv« sorgt freilich auch nicht für mehr Klarheit, sondern ersetzt nur das griechische durch ein lateinisches Etikett.
In den beiden Schlusskapiteln zu »Metapher und Metonymie« (227–297) und zu »Pragmatik und Rhetorik« (298–333) kommen der welterschließende und der wirkungsorientierte Aspekt der Sprüche in den Blick. Auch diese beiden Teile sind im Prinzip wie die vorherigen aufgebaut: Nach einer einführenden theoretischen Orientierung, die in diesen beiden Fällen recht knapp gehalten ist, werden anhand zahlreicher Beispiele einzelne realisierte Metaphern und Metonymien auf die damit verbundenen konzeptionellen Vorstellungen bzw. einzelne Sprüche auf ihre kommunikative Funktion und die beabsichtigte Wirkung hin untersucht. Literaturverzeichnis (335–348) und Register (349–352) beschließen den Band.
Einige kritisch anzumerkende Details (z. B. ein misslungener Exkurs zum »Tun-Ergehen-Zusammenhang« [212] oder die fragwürdige stereotype Deutung der Konjunktion we- als logisches UND bzw. »&« [217]) werden hier übergangen. Doch ein symptomatischer Lapsus sei notiert: Wiederholt zieht L. Parallelen zwischen den Sprüchen und »unser[em] Kulturraum«, etwa anhand von Beispielen aus der Werbesprache. »Auch Metonymien-Parallelismen kennt unser Volksmund«, stellt er in solchem Zusammenhang fest (258) und zitiert (nicht ganz korrekt) als Beispiel: »Wessen (sic!) das Herz voll ist, dessen (sic!) geht der Mund über.« Nun ist es zweifellos richtig, dass dieser Vers in »unseren Volksmund« übergegangen ist, aber ursprünglich handelt es sich doch um Martin Luthers Übersetzung von Mt 12,34, also wiederum einen biblischen Text. – Diachrone Überlegungen zur Textgeschichte können also zuweilen nützlich sein, um einem Kurzschluss in der rein synchronen Betrachtungsweise vorzubeugen.
Insgesamt hat L. die strukturellen und stilistischen Aspekte der alttestamentlichen Spruchweisheit mit dem linguistischen und literaturwissenschaftlichen Instrumentarium umfassend untersucht. Die Lektüre erfordert Langmut und Disziplin. Wer sie aufbringt wird belohnt mit einem Einblick in die gegenwärtige Dis­kussion zur hebräischen Poesie und das dazugehörige Arsenal differenzierter analytischer und deskriptiver Instrumente. Der Rezensent teilt L.s Auffassung, dass die poetische Struktur auf allen Ebenen des Textes wirksam ist und daher alle vorgeführten Zugangsweisen einander sinnvoll ergänzend für die Interpretation nutzbar ge­macht werden müssen. Das mag mühsam sein. Die interpretatorischen Einsichten, die L. bei der Untersuchung einzelner Sprüche gewinnt, lassen den beträchtlichen theoretischen und begrifflichen Aufwand aber gerechtfertigt erscheinen.
Für seine Arbeit wurde ihm 2010 der Preis der Theologischen Fakultät der Universität Basel verliehen.