Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1156-1158

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Eisele, Wilfried

Titel/Untertitel:

Welcher Thomas? Studien zur Text- und Überlieferungsgeschichte des Thomasevangeliums.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XII, 308 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 259. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-150543-0.

Rezensent:

Reinhard Nordsieck

Bei dieser Arbeit handelt es sich um die geringfügig veränderte Fassung einer von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen angenommenen Habilitationsschrift, die von M. Theobald und H.-R. Seeliger begleitet wurde. Wilfried Eisele ist der Ansicht, dass die Frage nach der Form des Thomasevangeliums lange Zeit in erster Linie als Frage nach seinen Quellen und Traditionen behandelt worden sei. Eigenständige Beiträge zu seiner Kompositions- und Redaktionsgeschichte seien erst spät und noch unbefriedigend unternommen worden. Damit sei jedoch der zweite Schritt vor dem ersten getan. Deshalb sei es notwendig, zunächst den kompositionellen und redaktionellen Kontext der Logien des ThEv zu erhellen.
Nach Erstellung einer Übersicht über die Aporien im Text des ThEv befasst sich E. mit den bisherigen Versuchen, die Entstehungsgeschichte des ThEv zu klären (10–36). So nehme H.-M. Schenke an, dass das ThEv keine ursprüngliche Sammlung von Jesusworten darstelle, sondern ein Exzerpt aus einem Kommentar zu einer Logiensammlung im Stil der Papias-Fragmente; eine solche Zusammenstellung schließe auch einen sukzessiven Wachstumsprozess nicht aus. T. Akagi versuche, das literarische Wachs­tum des ThEv mit drei Phasen eines Entstehungsprozesses zu erklären: Die erste sei in einem judenchristlichen Milieu in Edessa erwachsen und möglicherweise in Griechisch niedergeschrieben worden, die zweite sei in zwei geringfügig unterschiedlichen Zweigen in Alexandrien entstanden; schließlich sei ein Exemplar dieser Fassung ins Koptische übersetzt worden. D. H. Tripp habe sich dagegen an Fragen am Beginn von Logien orientiert, die »Fragen seiner (Jesu) Jünger« dienten als Kapitelüberschriften und markierten als solche in Log 6, 12, 18, 20, 24, 37, 43, 51 (52/53), 99 und 113 jeweils den Anfang größerer Abschnitte, wobei eine thematische Geschlossenheit von Tripp nicht nachgewiesen werde. Die Strukturanalyse von S. L. Davies beruhe nur auf inhaltlichen Kriterien; demgemäß teile er die Schrift in vier Kapitel Log 2–37, 38–58, 59–91 und 92–113 ein, jeweils beginnend mit einem Spruch über das Suchen und Finden; dabei unterschieden sich die Kapitel indessen in Stil und Inhalt nicht besonders. W. E. Arnal mache analog zur Analyse von Schichten in Q auch im ThEv 2 in sich kohärente Hauptschichten aus, eine ursprüngliche Sammlung von Weisheitssprüchen, die später um Sprüche mit gnostischer Orientierung angereichert worden sei; Trägerkreise seien einerseits die zunehmend verarmte ländliche Bevölkerung und andererseits die kleinen Eliten der größeren Städte gewesen. Die Kompositionsanalyse von A. Callahan beruhe dagegen auf literarischen Kriterien, nämlich den Stichwortverbindungen und der Einteilung von Sprucheinheiten durch das stereotype »Jesus sagte«; die Analyse aufgrund der Stichwörter sei freilich nicht konsequent durchführbar, den Sprucheinheiten fehle es an einem Minimum an the­- ma­tischer Geschlossenheit. Die kompositionskritisch auffälligen Du­bletten versuche J. M. Asgeirsson auszuwerten, und zwar mit Hilfe der rhetorischen Übung von sog. Progymnasmata. Auf deren Grundlage identifiziere er fünf Paare von Dubletten (Log 21,5–11 u. 103; 22,4–7 u. 106; 55 u. 101; 56 u. 80; 87 u. 112), wobei sich jeweils die Logien der Paare wie eine Chrie und ihre progymnastische Ausarbeitung verhielten. Für N. Perrin stelle sich das Thev als spät zu datierender einheitlicher Text dar, der von einem edessenischen Autor in syrischer Sprache zusammengestellt worden sei, wobei ihm in erster Linie Tatians Diatessaron als Quelle gedient habe; dies leite er aus einem von ihm selbst hergestellten syrischen Text mit syrischen Stichwörtern ab. Die letzten von E. behandelten Beispiele von R. Nordsieck und A. D. DeConick sind wiederum Wachstumsmodelle. Nordsieck grenze sieben Redekompositionen mit verschiedenen thematischen Inhalten, bestehend aus Spruchpaaren, Spruchgruppen und Unterkompositionen (nämlich Log 2–17; 19,2–35; 38–48; 51–61,1; 62–76; 77–82; 85–113) voneinander ab; dabei seien die dazugehörigen Logien durch Stichwort- und Motivanschlüsse verbunden, bei fehlendem Anschluss würden die Lücken durch redaktionelle »Brücken« und »Scharniere« ausgefüllt. DeConick komme aus traditionsgeschichtlichen Gründen zu ähnlichen fünf Kernreden apokalyptischen Inhalts mit folgenden Anfangs- und Endlogien: Log 2–16,1–3; 17–36; 38,1–61,1; 62,1–91,2; 92–111,1. Die Endgestalt des ThEv sei das Ergebnis eines Entstehungsprozesses, in dessen Verlauf diverse Krisen den sich verändernden Trägerkreis veranlasst hätten, die Sammlung in mehreren Schritten durch weitere Sprüche in Reaktion auf diese anzureichern.
E. würdigt sämtliche Modelle zur Entstehung des ThEv kritisch, hält aber fest, dass es berechtigt sei, das ThEv in erster Linie als Ergebnis eines schriftlichen Werdeprozesses zu sehen. Dabei sei jedoch vernachlässigt worden, dass zwei verschiedene Fassungen des ThEv beständen, nämlich 15 von 114 Logien auch in der griechischen Überlieferung der Oxyrhynchos-Papyri 1, 654 und 655 vorhanden seien. E. will dann an zehn der 15 Logien, die beachtliche Unterschiede aufwiesen, Aufschlüsse über die Kompositions- und Redaktionsgeschichte des Thev gewinnen. E. untersucht im Einzelnen sorgfältig die jeweils differierenden Fassungen von Prolog/ Log 1, 2, 3, 5/6, 30/77 und 36/37 (47–234). Die durchaus spannenden Untersuchungen können hier mit ihren Begründungen und Ergebnissen nicht des Näheren referiert werden. Angemerkt sei allerdings, dass sie bei den Log 2, 5/6, 30/77 m. E. zu gut nachvollziehbaren Ergebnissen kommen, bei Log 1/Prolog, 3, 36/37 aber schwerlich überzeugen. So erscheint die Ergänzung der Lücke im griechischen Prolog mit »Didymos« statt wie bisher angenommen »Judas« nicht überzeugend, da die Doppelung von Didymos und Thomas, beides »Zwilling«, singulär wäre. Fraglich erscheint mir auch der Wegfall des »außerhalb« ( κάκτος) im griechischen Log 3,3 mit der Begründung, dass das Außerhalb des Reichs Gottes redaktionell der Erkenntnis der Jünger durch Gott entspreche. Schließlich führt auch die sehr umfang- und kenntnisreiche Untersuchung von Log 36/37 nicht zwingend dazu, dass die höchst strittige Ausfüllung der Lücke in der griechischen Fassung mit »krempeln« (καίνειν) statt »wachsen« (αὐξάνειν) entfiele, besonders weil fraglich bleibt, ob »wachsen« eine kontextuelle Beziehung zu ἡλικία (»Lebensalter« oder »Körpergröße«) hat.
Nach Abschluss dieser Einzeluntersuchungen fasst E. zusammen, was daraus an allgemeinen Erkenntnissen für die Form-, Kom­positions- und Redaktionsgeschichte des ThEv zu gewinnen sei (237–250). Er folgert daraus, dass die Überlieferung des ThEv Logien enthalte, die von synoptischem oder johanneischem Material abhängig seien, aber auch solche, bei denen ein Einfluss nicht nachweisbar sei, dass vielfach Spuren sekundärer Bearbeitung sichtbar seien, um gnostisch interpretierbare Aussagen zu relativieren oder zu tilgen, sowie dass an verschiedenen Stellen das Bestreben erkennbar sei, Logien an anderweitige frühchristliche Traditionen anzugleichen. Insgesamt kommt E. zu dem eher negativen Ergebnis, ein zusammenhängendes Bild im Sinne einer planvollen Komposition oder Redaktion des ThEv lasse sich nicht feststellen; dabei muss allerdings fraglich bleiben, ob aus dem relativ kargen Stoff von 10 aus 114 Logien solche weitgehenden Schlüsse gezogen werden können. Eine Weiterarbeit am gesamten Material unter Berücksichtigung der durchaus erhellenden Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit ist danach unumgänglich. Abschließend sei noch auf die hilfreiche griechisch-koptische Synopse und das umfassende Literaturverzeichnis sowie Stellen-, Autoren- und Sachregister hingewiesen.