Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1122-1123

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Gerosa, Libero, u. Ludger Müller [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Katholische Kirche und Staat in der Schweiz.

Verlag:

Wien-Berlin-Münster: LIT 2010. 374 S. m. Tab. gr.8° = Kirchenrechtliche Bibliothek, 14. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-643-80056-5.

Rezensent:

Cla Reto Famos

Der Band umfasst Beiträge einer gleichnamigen Tagung, die auf An­regung des Apostolischen Stuhles und der Schweizerischen Bi­schofskonferenz (unter dem damaligen Präsidenten und heutigen Kardinal Kurt Koch) 2008 in Lugano stattfand. An ihr nahmen alle Schweizer Bischöfe sowie eine große Zahl von Experten des rö­misch-katholischen Kirchenrechts und des Schweizer Staatskirchenrechts teil. Die Referate und weitere Tagungsakten wurden schon 2009 in ihrer jeweiligen Originalsprache veröffentlicht. Im vorliegenden Band liegen nun alle Vorträge in deutscher Fassung vor, was die Rezeption sicher erleichtert. Ergänzt wird der Band mit weiteren Beiträgen, mit zusätzlichen Voten einzelner Teilnehmer und mit nachträglich verfassten Stellungnahmen. Insgesamt enthält die Schrift somit über dreißig Beiträge unterschiedlicher Länge, aber auch unterschiedlicher Qualität. Die Namen der Autoren ergeben zusammen mit der Liste der Tagungsteilnehmer eine Art Who is Who der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz. Wer sich ein aktuelles Bild der Lage der Beziehung von römisch-katholischer Kirche und Staat in der Schweiz machen will, dem sei dieses Buch empfohlen. Man findet hier nicht nur wesentliche Streitpunkte und Positionen, sondern wird auch kompetent über das Religionsverfassungsrecht der Schweiz orientiert, an dem sich die römisch-katholische Kirche in den letzten Jahren zunehmend auch öffentlich reibt. Der zentrale Kritikpunkt dreht sich dabei um die sogenannte duale Struktur von staatskirchenrechtlich organisierter Kirchgemeinde und Landeskirche auf der einen Seite und den ka­-nonischen Institutionen von Pfarrei und Bistum auf der anderen Seite. Der Schweizerische Ordre public fordert für öffentlich-rechtlich anerkannte Religionsgemeinschaften eine demokratische Mitwirkung der Mitglieder, weshalb in allen Kantonen mit öffentlich-rechtlicher Anerkennung für die römisch-katholische Kirche eine zweifache Struktur existiert – die eine nach demokra­tischen, die andere nach hierarchischen Grundsätzen organisiert.
Prominenter Auslöser der Diskussion um das Schweizerische Staatskirchenrecht war der sogenannte »Fall Röschenz«, welcher auch in diesem Band prominent behandelt wird. Zugrunde liegt dem Fall ein Konflikt zwischen dem damaligen Bischof des Bistums Basel und dem Pfarradministrator von Röschenz, der zum Entzug der Missio canonica führte (wobei der Begriff in den Bistümern der Deutschschweiz im Unterschied zu Deutschland als bischöfliche Beauftragung nur für eine konkrete Aufgabe an einem bestimmten Ort gilt). Die Solidarisierung der Kirchgemeinde mit ihrem Seelsorger führte zur öffentlichen Eskalation des Konflikts. Der Landeskirchenrat der Katholischen Landeskirche des Kantons Basel-Land verfügte in der Folge, dass die Kirchgemeinde ihren Pfarrer entlassen solle. Dagegen erhob die Kirchgemeinde Beschwerde beim Kantonsgericht. Dieses hob 2007 die Verfügung der Landeskirche auf – hauptsächlich mit der Begründung, dass der Bischof es versäumt habe, das rechtliche Gehör zu gewähren und seinen Entscheid ausreichend zu begründen. In der Folge gingen die Meinungen über die Bedeutung dieses Richterspruchs weit auseinander. Für die einen ist der Fall Röschenz nur die Spitze des Eisbergs und eine beispielhafte Art des staatlichen Eingriffs in das Selbstbestimmungsrecht der Kirche. Es wurden denn auch Stimmen laut, die das ganze System der öffentlich-rechtlichen Anerkennung in Frage stellen, von einer strukturellen Verdrängung der Diözese sprechen oder sogar einen ungebührlichen Einfluss der protestantischen Ekklesiologie zu erkennen glauben. Für die anderen hingegen handelt es sich gerade nicht um ein Beispiel für die Krisenanfälligkeit des dualen Systems, sondern einfach um einen Verfahrensfehler, der auch nach kanonischem Recht gerügt werden könnte (so Urs Brosi in seiner erhellenden Fallstudie).
Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Schweizerische Religionsrecht (oder Staatskirchenrecht) mit seinen demokratischen und grundrechtlichen Anforderungen an die öffentlich-rechtlich organisierten Religionsgemeinschaften relativ hohe Vorgaben aufstellt – was in etwas schwächerer Form aber auch für privatrechtlich (nämlich meist vereinsrechtlich) organisierte Religionsgemeinschaften gilt. Allerdings hat sich wohl weniger das staatliche Recht, sondern die Wahrnehmung in der römisch-katholischen Kirche in den letzten Jahren gewandelt, was sich beispielsweise im differenzierten Beitrag von Kurt Koch zeigt. Denn Prinzipien wie die Volkswahl der Geistlichen und die relativ starke Gemeindeautonomie prägen das Schweizerische Religionsrecht schon seit vielen Jahrzehnten.
Neben dem Röschenzer Fall, der gerade konservative kirchliche Exponenten offenbar stark erzürnte, widmen sich andere Autoren in interessanten Studien u. a. der Situation der römisch-katho­lischen Kirche in den Kantonen Neuenburg, Waadt, Zürich und Nidwalden. Insgesamt bietet der Band damit eine reiche Palette von anregenden Beiträgen aus katholischer Sicht zum Schweizer Religionsrecht, das von Libero Gerosa und Ludger Müller treffend als »Kosmos staatskirchenrechtlicher Modelle« (9) bezeichnet wird.