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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1114-1115

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Thurnwald, Andrea K.

Titel/Untertitel:

»Fromme Männer« – eine empirische Studie zum Kontext von Biographie und Religion.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 352 S. gr.8°. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-021308-1.

Rezensent:

Tina Binder, Jonas Leipziger

»Feminisierung der Kirche« und »fromme Männer« sind zwei der Paradigmen zeitgenössischer Frömmigkeitsdiskurse. Was mit dem Terminus »fromme Männer« konkretisiert wird, zeigt Andrea K. Thurnwald in ihrer Dissertation bei Köhle-Hezinger. Erscheinen in der populären Diskussion die Termini Männlichkeit und Frömmigkeit als – scheinbar – gegensätzlich, setzt sich T.s empirische Studie die Überprüfung zum Ziel, »ob diese unterstellte Unvereinbarkeit ein gesellschaftliches Faktum widerspiegelt, d.h. ob es überhaupt fromme Männer gibt« (101).
Die Kulturwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin bekennt sich methodologisch explizit zu ihrer Herkunft, erscheint doch die Offenlegung des Kontextes der Interviewerin als elementare Voraussetzung der Empirie, nicht nur, um Befragten ein konkretes Gegenüber darzustellen, sondern auch, um den Ausgangsort der Interpretationen kenntlich zu machen. Nach eigenen Aussagen wurde sie in einem »dörflichen, aber nicht städtischen Milieu«, »in einer bürgerlichen Familie« sozialisiert, versteht sich als »praktizierende Christin« mit »positiv[em] Verhältnis zur Kirche« (119). Derzeit ist sie Leiterin des Museums Kirche in Franken.
Obwohl T. schon zahlreiche Veröffentlichungen zum Zusam­menhang von Frömmigkeit und Biographie vorzuweisen hat, will sie mit diesem Werk ein Forschungsdesiderat füllen. Wurde bisher nicht explizit der Genderaspekt berücksichtigt, soll nun die Trias Religiosität, Geschlecht und Biographie als Objekt ihrer Untersuchungen dienen und »Aufschluss über genderbedingte Unterschiede in Glaubensleben und Kirchenbildung« (320) geben. Dabei konzentriert sie sich explizit auf den fränkischen evangelisch geprägten Raum. Als qualitatives Instrument, die Frömmigkeit dort sozialisierter Männer des kirchlichen Umfeldes zu untersuchen, nutzt sie die Methodik der Befragung anhand individueller Lebensläufe, um dadurch »Muster des Handelns, Redens und Denkens zu identifizieren« (125).
Dabei steigt T. anhand des ersten Kapitels »Der populäre Diskurs« (9–27) in die Thematik ein, indem sie sich stichwortartig den biblischen Männern Josef und Jesus annähert, die Frage der Entfremdung von Frömmigkeit und Männlichkeit thematisiert, um dann anhand verbreiteter Klischees und Männerbilder in den Medien ein erstes Fazit zu ziehen. Das bereits benannte widerspruchsreiche Gespann Männlichkeit und Frömmigkeit veranlasst T. zur Formulierung des Impulses der Neubegründung männlicher Spiritualität von der »›archetypischen‹ oder ›mythopoetischen‹ Männerbewegung aus«. Dem entspringt die Relevanz der Studie: anzufragen, ob jene Neubegründung mit den Trägern »herkömmlicher kirchlicher Frömmigkeit« (27) kompatibel ist. Daran schließt sich eine inhalts­zentrierte Zusammenfassung des aktuellen wissenschaftlichen Dis­kurses zu Gender und Religiosität an (28–62).
Im dritten Kapitel fasst T. verschiedene Studien zusammen (63–100), die der Frage nachgehen, »was Menschen jenseits der theologisch-systematisch formulierten Lehren der Kirche wirklich glauben« (63). Die Auswahl der Studien ist vor dem Hintergrund des Forschungsdesiderates zu sehen, gibt sie doch einen inhaltlichen Überblick über ausgewählte Erhebungen, darunter die EKD-Erhebung »Fremde Heimat Kirche« (1997), »Männer im Aufbruch« (1998) und »Männerleben im Wandel« (2000). Außerdem nennt T. Arbeitsstrukturen und Gremien kirchlicher Männerarbeit und umreißt knapp (96–100) den eingangs formulierten Impuls einer männlichen Spiritualität in der »archetypischen« bzw. »mythopoetischen« Männerbewegung.
Im vierten Kapitel geht T. auf die methodologischen Grundlegungen und Arbeitsweisen der Interviews ein. Als Untersuchungsfeld stellt sich das evangelisch geprägte Mittelfranken, überwiegend repräsentiert durch »Laien« dreier Generationen, dar. Leitfragen (vgl. 103) münden in der Ergebnisdarstellung der Realität, des Diskurses und der »Normalität« »frommer Männer«. Der Forschungsgegenstand der Frömmigkeit wird als »klassisches, wohlbestelltes Feld der Volkskunde« (111) traktiert.
Anhand von sieben Einzelbeispielen und deren pointierter Zu­sam­menfassung im fünften Kapitel (127–226) gibt T. einen an­schaulichen Einblick in Interviews und Lebens- und Glaubenswelt evangelischer Männer, die sie in die vier Typisierungen »entschiedene«, »traditionelle«, »suchende« und »genderbewusste Christen« (115 f.) gruppiert.
Im sechsten Kapitel folgt der Darstellung der Selbstzeugnisse deren systematisierte Auswertung (227–318), für die T. unter anderem resümiert, dass »›fromme Männer‹ … in allen Berufsgruppen« zu finden sind und fast alle »ein klassisches Familienleben mit eher konservativer Rollenverteilung« (239) führen. Bezüglich Rollen- und Männerbild bzw. deren Reflexion durch die Befragten kommt T. zu dem Fazit, dass diese ihre Männlichkeit weder von selbst thematisieren noch sich dazu sprachfähig darstellen. Dabei erscheint als wesentliches Moment die Klage der Männer, die teilweise in kirchlicher Männerarbeit engagiert sind, dass Nachwuchs fehle oder für ihre Emotionalität und deren Thematisierung nur schwer ein angemessener Ort geschaffen werden kann. Zusammenfassend kommt T. zu dem Ergebnis (319–328), dass die »Aussagen über das Leben, Reden und Denken frommer Männer« »einen blinden Fleck auf[hellen], insofern sie zeigen, dass ausgeprägte … Frömmigkeit bei Männern keine Absonderlichkeit weniger Individuen ist, aber auch keine Selbstverständlichkeit … der untersuchten Region« (326).
T. legt ein Werk vor, das in seinen theoretischen Ansprüchen der Verbindung von Biographie, Geschlecht und Frömmigkeit bei Männern von Relevanz ist und sich in Bezug auf die Frage, wie Gender und Religion korrelieren und in ihrer jeweiligen Kontextualität reflektiert werden, positionieren kann. Unklar bleibt, welche Relevanz die Arbeit mit ihrer deutlichen Konzentration auf den mittelfränkischen Raum beansprucht und inwieweit dazu eine Vergleichbarkeit mit Studien anderer Regionen besteht. Weiterhin erscheinen die Kriterien, nach denen T. benutzte Studien, Tagungen und Arbeitskreise heranzieht, als nicht transparent. Hilfreich wären möglicherweise nicht ausschließlich zusammenfassende, sondern wertende und einordnende Urteile gewesen – sowie zur Übersichtlichkeit der Darstellung thesenartige Zusammenfassungen und Grafiken. Des Weiteren bleibt anzumerken, dass T. stets bei einem – nicht explizit thematisierten – biologischen Geschlechterbild bleibt, das sie in dessen Zweigeschlechtlichkeit nicht, auch nicht von ihren theoretischen Ansprüchen her, zu überwinden vermag, was der Methode einer empirischen Studie geschuldet ist. Könnte es nicht Vision sein, die bipolaren Geschlechter- sowie jegliche Ordnungskategorien zugunsten einer Vielfalt der Lebensweisen zu überwinden? In jedem Fall ist T.s Arbeit ein elementarer und vorbildlicher Beginn der regionalen empirisch-qualitativen Be­leuchtung des Zusammenhangs von Biographie und Frömmigkeit, dem hoffentlich bald weitere Beiträge folgen.