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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1112-1113

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lindner, Herbert, u. Roland Herpich

Titel/Untertitel:

Kirche am Ort und in der Region. Grundlagen, Instrumente und Beispiele einer Kirchenkreisentwicklung. Stuttgart: Kohlhammer 2010. 286 S. m. Abb. gr.8°. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-17-021507-8.

Rezensent:

Dieter Beese

Die Arbeit berichtet von dem Versuch, den Kirchenkreis Wilmersdorf in Berlin veränderten Umweltbedingungen theoriegeleitet so anzupassen, dass er seine Aufgaben auftragsgemäß erfüllt. Herbert Lindner und Roland Herpich haben über einen Zeitraum von fünf Jahren (2005–2010) gemeinsam diesen Reformprozess durchgeführt. Lindner, apl. Professor in Neuendettelsau, begleitete dieses Praxisprojekt (vgl. ders: »Kirche am Ort« 1994/2000). Herpich schließt mit dem Bericht seine Amtszeit als Superintendent ab. Er ist jetzt Direktor des Berliner Missionswerks.
Die Arbeit gliedert sich in vier Abschnitte: »I. Die Grundlagen« (13–54), »II. Die Orientierung an einem großen Ziel« (55–63), »III. Sieben Faktoren einer gelingenden Arbeit« (65–269) und »IV. Bilanz und Ausblick« (271–279). Ein gemeinsames Vorwort ist dem Band vorangestellt, beigegeben sind Verzeichnisse zu Literatur (281–283), Mitarbeitenden aus dem Kirchenkreis (284–295) und zehn Abbildungen (286).
Die »Grundlagen« ergeben sich aus drei Perspektiven: Einem bekenntnisartigen Text werden Erkenntnisse und Konsequenzen zugeordnet (A. »Die theologische Ortsbestimmung«, 13–20). Dem schließt sich eine kybernetische Reflexion an (B. »Der Theoriehintergrund«, 20–43). Den Abschluss bildet eine Sozialraumanalyse (»Die Situation in Wilmersdorf«, 44–54). – Der kybernetische Teil (B., 20–43) plädiert für die Verwendung eines kritisch adaptierten Organisationsbegriffs. Als anschlussfähig im Sinne einer »spirituellen Organisation« (20 ff.) erscheint das St. Gallener Managementmodell, das die Funktionalität einer Organisation mit normativen Orientierungen vermittelt (25; vgl. 55, Anm. 95). Von Isolde Karle (»[R]omantisierende Vorstellungen von Gemeinde als Gemeinschaft im Gewand systemtheoretischer Überlegungen«, 35) grenzen sich die Autoren mit milieutheoretischen Argumenten ab (33). Am Reformpapier »Kirche der Freiheit« (EKD 2006) kritisieren sie die nicht hinreichende und ausgeführte Zielbegründung sowie die Abwertung der Ortsgemeinde (27 f.). In einer »evangelisch ge­prägten Organisation der Freiheit« (37) seien Institution, personal-soziale Kommunikation und Interaktion im Horizont theologisch verantworteter Ziele prozesshaft und konfliktfähig zu vermitteln. Die evangelische Kirche dürfe sich »nicht einer einzigen Gestaltungslogik verschreiben« (36). Angestrebt wird eine »Integrierte Kirchenkreisplanung als Rahmenplanung«, die »eine begleitete Selbstorganisation« (43) der Teilsysteme als »Vermittlung von Selbstregulierung und Solidarität« anregen will (ebd.).
In Abschnitt II. folgt die »Orientierung an einem großen Ziel«. Deren Bestandteile sind »A. Die Vision des Pilgerwegs« (55 f.), »B. Die Mission einer evangelischen Kirche der Freiheit und der Verantwortung« (56 f.), »C. Das Leitbild einer missionarischen Kirche in der Stadt« (57–60) als Verdichtung der Grundorientierung (vgl. 57) und »D. Das Konzept der Anknüpfung« als Bündelung von Handlungsleitsätzen für eine erneuerte, zielorientierte Praxis der Volkskirche (102, verstanden als »Kirche für das Volk«, 61). Es geht den Autoren um die tatsächliche Realisierung einer zielorientierten integrierten Entwicklungsplanung für einen Kirchenkreis. Die dazu relevanten Faktoren werden im III. Abschnitt »Die sieben Faktoren einer gelingenden Arbeit« ausführlich beschrieben. Der »Arbeit mit überprüfbaren Zielen« (A., 65–67) werden alle anderen Aspekte untergeordnet: »B. Die Ressourcen« (67–86), »C. Die Strukturen« (87–133), »D. Die Begleitung der Mitarbeitenden« (134–145), »E. Die Kultur des Miteinanders« (145–147), »F. Die Prozesse der Aufgabenerfüllung« (147–173) und »G. Die Angebote für die Menschen in der Stadt« (173–269).
Die Bilanz hat den Charakter einer Selbsteinschätzung der Autoren (IV., 271–279). Sie orientiert sich »an den Prinzipien der Integrierten Kirchenkreisplanung« (271). Der Anspruch, entsprechend der sog. SMART-Regel mit überprüfbaren Zielen zu arbeiten (65 f.), wird dabei nicht eingelöst. Eine effektive, zielorientierte Veränderung des status quo aufgrund des Reformprozesses ist nur bedingt nachweisbar: Für die Gemeinden bleibt die Ausfüllung der Rahmenplanung weitgehend unverbindlich (272), ebenso die Standards zur Prozess-, Verfahrens- und Ergebnisqualität (ebd.). Die Prozessdynamik ist vom Engagement einzelner Positionen und Personen, insbesondere des Superintendenten, abhängig (277). Aber: Ein ideeller Orientierungsrahmen, umfassendes Material, Qualitätsstandards, neue Strukturen für KiTas und Diakonie, eine evangelische Grundschule, die Stabilisierung kreiskirchlicher Vollzüge und vielfache Anregungen und Ermutigungen zur Kooperation zwischen Gemeinden und zur zielorientierten Entwicklung kirchlicher Arbeit liegen als Ergebnis vor (271–273).
Auffallend kurz fällt der Abschnitt zur Organisationskultur aus. Das Eingeständnis, die Integrierte Kirchenkreisplanung habe hier wenig beitragen können (146), lässt aufhorchen: Das Leiden am Paradox des Planungsdilemmas, wie es im protestantischen Kontext ausgeprägt begegnet, ist spürbar. Die strapaziöse (36) und vielgestaltige Sozialform Kirche (ebd.), die Kultur der Individualität und Innenleitung (146) und die zugleich erforderliche aber sachgemäße dezentral-kooperative und konziliare Vorgehensweise (271) fordern ein hohes Maß an Didaktik, Symbolik, Motivationspflege und Kommunikationsdichte (275). Was hier vornehmlich als Forderung und Zugeständnis erscheint, ließe sich, durchaus der Intention der Verfasser folgend, deutlicher als Selbststeuerungsressource an­sprechen. Kennzahlenbasiertes Controlling als Angebot an die Gemeinden und Amtsträger könnte dabei ebenso wie eine externe Evaluation gute Dienste leisten.
Kirchengemeinden und Amtsträger erhalten anregende Angebote durch eine abgestimmte Rahmenplanung. Dies schafft Raum zur freien und verantwortlichen Orientierung an gemeinsamen, theologisch verantworteten Zielen. Lindner und Herpich stellen Verantwortlichen der Kirche am Ort und in der Region mit ihrer Arbeit ein wichtiges Hilfsmittel zur Urteils- und Entscheidungsfindung mit konkreten praktischen Anregungen zur Verfügung.