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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1109-1112

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Klän, Werner, u. Christoph Barnbrock[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Heilvolle Wende. Buße und Beichte in der evangelisch-lutherischen Kirche.

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht 2009. 256 S. m. Abb. gr.8° = Oberurseler Hefte, Ergänzungsbd. 5. Geb. EUR 32,90. ISBN 978-3-7675-7133-4.

Rezensent:

Peter Zimmerling

Das Buch ist als Festschrift für Wilhelm Rotfuchs zum 75. Geburtstag erschienen, der bis zu seiner Emeritierung Professor für Prak­-tische Theologie an der Lutherischen-Theologischen Hochschule Oberursel war. Auch beide Herausgeber gehören zur Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), wobei der eine, Werner Klän, Professor für Systematische Theologie in Oberursel und der andere Herausgeber, Christoph Barnbrock, Pfarrer in Verden an der Aller und Lehrbeauftragter für Praktische Theologie in Oberursel ist.
Die Festschrift widmet sich einem Thema, das in den vergangenen Jahren zunehmend an Aktualität gewonnen hat: Welche Möglichkeiten gibt es, um die Beichte als zentrale Lebensäußerung lutherischer Kirchen wieder zu gewinnen? In der jüngsten Vergangenheit ist die Frage nach dem Umgang mit Schuld und Versagen zunehmend in das öffentliche Bewusstsein zurückgekehrt. Das zeigt sich nicht nur an Debatten im politischen Raum, sondern genauso am Stellenwert, den das Thema in der modernen Literatur, im Film und in den Medien gewonnen hat. Im Rahmen der Praktischen Theologie ist die Beichte zudem mehr und mehr zu einem heimlichen Modethema avanciert.
Angesicht der Tatsache, dass sich die Selbstständige Evangelisch-Lutherische Kirche in besonderer Weise dem Erbe Martin Luthers verpflichtet fühlt, verwundert es nicht, dass Theologen aus ihren Reihen eine besondere Sensibilität für das Thema Beichte entwickeln. Die Reformation nahm von einem Beichtstuhlstreit ihren Ausgang. Martin Luther reformierte die mittelalterliche Beichtpraxis zwar grundlegend, wollte die Beichte als solche jedoch keineswegs abschaffen. Entsprechend möchten die Herausgeber mit dem Buch einen Beitrag zur Selbstbesinnung lutherischer Theologie und Kirche leisten.
Der Sammelband enthält zwei Teile: Im ersten Teil finden sich vorwiegend wissenschaftliche Beiträge zum Thema Beichte und Buße aus exegetischer, systematisch-theologischer und praktisch-theologischer Perspektive. Dazu gehören auch Artikel, die zeigen, wie sich Prediger heute mit dem Thema Beichte auseinandersetzen. Im zweiten Teil der Festschrift sind eine Reihe von Beichtansprachen und Bußpredigten abgedruckt. Sie stammen im Wesentlichen von Mitarbeitern der Predigtwerkstatt in der SELK. Mit ihrer Auswahl an Pre­digten und Ansprachen zum Thema Beichte verfolgen die Herausgeber die Absicht, einen Einblick in die gegenwärtige Predigtarbeit im Zusammenhang mit Beichte und Buße in der SELK zu geben.
Natürlich kann an dieser Stelle keine Besprechung aller 29 Beiträge des Buches erfolgen. Ich beschränke mich auf einige exemplarische Artikel und versuche, eine Gesamtbewertung der Veröffentlichung zu geben.
In seinem Beitrag »Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz. Beobachtungen zu Psalm 51« gibt Achim Behrens eine Auslegung des genannten Psalms. Er zeigt, dass schon auf der sprachlichen Ebene der Gnade ein Primat zukommt. Ziel der Rede von Schuld und Buße sei keineswegs die Verneinung der eigenen Person, sondern die Erwartung, dass Gott sich dem Glaubenden gnädig zuwenden will. Dabei werden Schuld und Vergebung von vornherein in einer sozialen Dimension verankert.
Der Artikel »Rettender Beistand und Vergebung. Absolution nach dem Matthäusevangelium« von Volker Stolle zeigt, dass die Sündenvergebung, die Jesus gewährt, mit der Autorität Gottes erfolgt, wobei Mt insofern noch einen Schritt weiter geht, dass erfahrene Sündenvergebung auf Seiten des Menschen automatisch dazu führen soll, dass diese ihrerseits ihren Schuldigern vergeben.
Im Beitrag »Und vergib uns unsere Schuld. Überlegungen zur Sündenvergebung nach dem Neuen Testament und zum Beichtgottesdienst« von York Christian Saltzmann wird herausgearbeitet, dass die traditionellen Stellen vom Binden und Lösen sich exegetisch zunächst nicht auf die tägliche Reue und Buße eines Christen beziehen. Vielmehr geht es bei ihnen grundsätzlich um den Einlass in das Gottesreich. Sie eignen sich deswegen auch nicht ohne weiteres als Schriftbeleg für den Beichtgottesdienst. Andererseits zeigt die Vergebungsbitte im Vaterunser, dass vom Neuen Testament her durchaus Anknüpfungspunkte für ein Verständnis der Beichte im Sinne Martin Luthers existieren. Systematisch-theologisch wird dieser Gedanke bei Paulus aufgegriffen, indem er das Heil für den Menschen vor Gott nicht nur anfangsweise, sondern grundsätzlich und immer neu in Jesus Christus begründet sieht.
Werner Klän weist in seinem Beitrag »Das dritte Sakrament. Beichte und Buße im Bekenntnis der lutherischen Kirche« darauf hin, dass für Luther Buße nicht »anders denn ein Widergang und Zutreten zur Taufe« sei. Von daher erhalte die Beichte über die Taufe vermittelt eine sakramentale Bedeutung. Vor allem jedoch wohne der Aufforderung zur täglich geübten Buße eine Dynamik in Richtung der Heiligung inne.
Hervorheben möchte ich besonders den Artikel von Peter Matthias Kiehl »Gemeinsam auf dem Weg zum Sakrament. Buße und Beichte im liturgischen Vollzug der Gemeinde«. Kiehl entfaltet, wie die Liturgie eines außerordentlichen Bußgottesdienstes aussehen könnte. Er ist der Überzeugung, dass die liturgische Gestaltung Menschen von heute einen Weg zur Erfahrbarkeit von Buße und Vergebung erst bahnen muss. Nur die Berücksichtigung von Erkenntnissen des performativen Ansatzes wird erlebnisorientierten Menschen heute einen neuen Zugang zur gottesdienstlichen Beichte erschließen.
Zu Recht weist Hans Peter Mahlke in seinem Artikel »Schuld und Vergebung bei Kindern« darauf hin, dass bereits im Kindesalter Angebote einer kindgemäßen Hinführung zu Bekenntnis und Vergebung gemacht werden können. Sie sind die beste Voraussetzung dafür, Menschen auch im Erwachsenenalter einen Zugang zur Beichte zu ermöglichen. Dabei ist entscheidend, dass die Hinführung im Kindesalter primär durch die nächststehenden Menschen, also die Eltern erfolgt.
Eine interessante neue Perspektive zum Thema Schuld und Vergebung eröffnet Hartwig F. Harms in seinem Beitrag »Sündenbekenntnis und Vergebung in einer schamorientierten Kultur«. Aufgrund langjähriger Missionsarbeit in der Mekane-Jesus-Kirche von Äthiopien ist ihm deutlich geworden, dass man zwischen der schuldorientierten Kultur des Westens und den schamorientierten Kulturen der Zweidrittelwelt unterscheiden muss. Auch wenn beide Kulturen Berührungsflächen haben, wird für ihn die kirchliche Rede von Schuld und Vergebung nur auf dem Hintergrund einer traditionell schuldorientierten Kultur bei den Hörern und Hörerinnen ankommen. Harms konstatiert für die deutsche Kultur den Übergang von einer schuldorientierten zu einer schamorientierten Ausrichtung. Das werde bereits bei Jugendlichen daran erkennbar, dass Scham ein wesentliches Verhaltensregulativ vor allem in der Referenzgruppe der Gleichaltrigen darstellt. Der Autor folgert daraus, dass es in Deutschland nicht mehr ohne Weiteres möglich ist, in der Predigt von Schuld und Vergebung an Muster vergangener Zeiten anzuknüpfen. Nicht so sehr die Botschaft vom gekreuzigten Heiland, sondern die Verkündigung von der Auferstehung und der lebendigen Gegenwart und Macht Christi, die in der Kraft des Heiligen Geistes erfahrbar ist, sollte die Predigt in Zukunft prägen. Demgegenüber vertritt Manfred Holzt in seinem Artikel »Wer sich lässt dünken, er stehe, mag wohl zusehen, dass er nicht falle. Anmerkungen zu einem Vortrag von Prof. Dr. Rothfuchs zum 125-jährigen Jubiläum der Hessischen Renitenz« eine traditionelle Auffassung. Mit Rothfuchs hebt er hervor, dass die Kirche nur in der Buße unsterblich sei. »Die Exis­tenz der Kirche wird nicht durch eigene Schuld bedroht, sondern durch unvergebene Schuld und eine Selbstgerechtigkeit, die meint, das eigene Handeln wäre fehlerfrei.« (156) Er folgert, dass allein in Buße und Vergebung die Kirche Zukunft habe.
Praktisch-theologisch am ergiebigsten ist Christoph Barnbrocks Beitrag »Die Beichtansprache. Homiletische Überlegungen zu einer selten gewordenen Predigtgattung«. Beichtansprachen, so stellt Barnbrock fest, sind allein schon aus dem Grund selten geworden, weil es kaum noch vom Hauptgottesdienst unterschiedene Beichtgottesdienste mit einer eigenen Beichtansprache gibt. Er untersucht dann in einem gesonderten Abschnitt die besonderen Herausforderungen einer Beichtansprache. Spannend ist seine empirische Durchforstung der im vorliegenden Buch abgedruckten Beichtansprachen. Dabei macht er verschiedene Tendenzen aus: deren Tendenz zur Anschaulichkeit, den Versuch, sie in den liturgischen Zusammenhang einzubinden, das Bemühen um Plausibilität der Beichte und schließlich ihre Verbindung mit gesellschaftlichen und ethischen Fragestellungen. Ansatzweise markiert er Fragestellungen für eine zukünftige Homiletik der Beichtansprache. Er hebt dazu die Notwendigkeit der Veranschaulichung, der Pluriformität der Zusage der Vergebung, die Überwindung eines falschen Sündenbewusstseins, ihre seelsorgerlich-liturgische Brückenfunktion und ihre Ausrichtung auf ein Leben aus der Heiligung hervor. Am zukunftsfähigsten erscheint mir seine Überlegung, dass von Zeit zu Zeit ein Beichtgottesdienst mit Beichtansprache als Hauptgottesdienst gefeiert werden sollte, um auf diese Weise die Gemeinde auf die Bedeutung von Buße und Beichte hinzuweisen.
Insgesamt spürt man dem vorliegenden Buch das existenzielle Be­mühen seiner Verfasser ab, für eine Wiederentdeckung von Buße und Beichte im liturgischen Leben der christlichen Gemeinde einzutreten. Allerdings gewinnt man sowohl bei der Lektüre der theoretischen Überlegungen als auch der der abgedruckten Buß- und Beichtansprachen den Eindruck, dass vor allem an traditionelle Theo­logoumena angeknüpft wird. Ungewollt dokumentieren die einzelnen Beiträge je auf ihre Weise eine gewisse Hilflosigkeit angesichts des Zurücktretens der Beichte auch in den Gemeinden der Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Nur ansatzweise wird in den Beiträgen von Harms, Kiehl, Mahlke und Barnbrock auf neuere Problemstellungen eingegangen – so zum Beispiel, wenn nach einer der Erlebnisorientierung unserer Gesellschaft angemessenen neuen Liturgie des Beichtgottesdienstes gefragt wird, wenn der Umgang mit Schuld und Vergebung bei Kindern verhandelt wird oder wenn zwischen einer scham- und schuldorientierten Kultur unterschieden und auf die Auswirkung dieser Unterscheidung für die Beichte hingewiesen wird.
Ich habe den Eindruck, dass es zu einer Renaissance der Beichte in der lutherischen Tradition nur dann kommen wird, wenn die Chancen und Gefahren, die der Beichte durch die momentane gesellschaftliche Gemütslage erwachsen, angemessen berücksichtigt werden. Immerhin Ansätze dazu bietet der von Klän und Barnbrock herausgegebene Sammelband.