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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1108-1109

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Engemann, Wilfried

Titel/Untertitel:

Einführung in die Homiletik. 2., vollst. überarb. u. erw. Aufl.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2011. XXVI, 548 S. m. Abb. 8° = UTB 2128. Kart. EUR 26,90. ISBN 978-3-7720-8343-3 (Francke); 978-3-8252-2128-7 (UTB).

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Gegenüber der 1. Auflage dieses umfassenden Lehrbuches aus dem Jahre 2002 (s. meine Anzeige in ThLZ 128 [2003], 951–954) ist der Text zwar nur um etwa 50 Seiten vermehrt, doch das größere Druckformat bedingt, dass ein Buch von erheblich erweitertem Umfang vorliegt. Die wesentliche Veränderung in der Anordnung des Stoffes besteht darin, dass das seinerzeit einleitende Kapitel über die homiletischen Missverständnisse und Problemanzeigen jetzt aufgeteilt ist und so die sechs Abschnitte des Hauptteils zur Predigt als »Verstehens- und Kommunikationsgeschehen« (3–359) einleitet. Die neue Anordnung ist dem erweiterten Buch gut bekommen, denn die Unterabschnitte – zu den Themen Prediger, Text, Struktur, Sprache, Hörer, Liturgie – lesen sich jetzt als problemorientierte Antwortversuche auf die in der homiletischen Praxis aufgeworfenen Fragen. Besonders fällt auf, dass der letzte Abschnitt zum liturgischen Bezug der Predigt (326–359) viel ausführlicher ist als in der 1. Auflage; man merkt, dass die Diskussion an dieser Stelle im letzten Jahrzehnt weitergegangen ist. Auf den wichtigsten ersten Teil folgen noch zwei kürzere Teile zur Predigtanalyse (363–402) und zur Theologie der Predigt (405–486) sowie ein Anhang mit Arbeitshilfen (489–506; Literatur und Register: 509–548).
Bei der Gliederung wundert es ein wenig, dass der Teil zur Theo­logie der Predigt nachgestellt ist. So entsteht die Theologie zwar induktiv aus dem geschilderten Kommunikationsgeschehen Predigt, doch vieles, was im zweiten Teil zur Theologie der Kommunikation gesagt wird, passte auch organisch gut in den ersten Teil über das »Verstehens- und Kommunikationsgeschehen« Predigt. Es wäre dort mindestens so gut platziert gewesen, ohne als historischer oder systematischer Fremdkörper zu wirken.
Die Besonderheit von E.s homiletischem Ansatz tritt in der zweiten Auflage noch deutlicher hervor als in der ersten. E.s Kommunikationsbegriff hat zwei Wurzeln, die in der praktisch-theologischen Diskussion sonst kaum zusammenkommen: Die Kommunikation im Predigtgeschehen ist zum einen pastoralpsychologisch (tiefenpsychologisch) und zum anderen ästhetisch und sprachtheoretisch (semiotisch) zu bestimmen. Und an diesem letzten Punkt hat das Buch auch eine besondere Stärke, etwa in dem sehr differenzierten Abschnitt zu den Sprechakttheorien (223–235). Nach E. kann die Predigt durchaus als Kunstwerk betrachtet werden, das seinen eigenen Idiolekt spricht und damit als Zeichen wirkt (wobei »Offenheit« gerade nicht »Beliebigkeit« meint, sondern die entschlossene Signifikanz: 195). Doch dabei müssen die Zeichen eben auch von Personen gesetzt und gelesen werden, so dass die psychologische Dimension von Verständigung und Kommunikation unhintergehbar bleibt: »Die Basis – nicht mehr, aber auch nicht weniger – eines homiletischen Idiolekts ist die ›persönliche Predigt‹« (201). An diesem Punkt besteht das Verdienst E.s gegenüber aktuellen ästhetischen Modeerscheinungen in der Homiletik, und die künftige Diskussion wird vor der Aufgabe stehen, die beiden Grundorientierungen des Kommunikativen noch stärker miteinander zu vermitteln.
Das primäre Engagement E.s besteht weiter darin, die Predigt als einen Prozess von Verständigung zu beschreiben und die Predigtpraxis vor der bloßen Fortsetzung exegetischer und systematischer Formeln zu schützen. Der Prediger stehe »nicht vor der Aufgabe der Aktualisierung eines historischen Textes. Er steht vor der Aufgabe, den je und je gegenwärtigen Bibeltext erst historisch werden zu lassen« (8). Die »Predigt soll die Hörer in erster Linie nicht an Texte heranführen, sondern sie (unter Bezugnahme auf die alten Glaubenszeugnisse) in ihr Leben hinein begleiten« (88). Nicht der Text, sondern der Prediger ist und bleibt der »ultimative Zeuge« im Predigtprozess (107). Dabei setzt E. gegen den unausrottbaren Mythos, dass »die Bibel selbst« reden müsse, die nüchterne Einsicht: »Keiner der biblischen Texte wurde dazu verfasst, dass ein Pfarrer oder Priester an einem bestimmten Sonntag im Kirchenjahr damit zu seinen Zeitgenossen spricht.« (324) Dekonstruiert wird auch die irrige Meinung, in der Predigt dürfe es keine Appelle (254) oder keine Antworten auf nicht gestellte Fragen geben (282).
Eingehender bedacht zu werden verdient die wahrscheinlich auf Manfred Mezger zurückgehende Redeweise von der »einen« bzw. der »zweifachen« Wirklichkeit« (284–287). Versteht man sie metaphorisch (und nicht räumlich oder gar im Sinne existenzieller Gespaltenheit), dann muss gerade semiotisch gesagt werden, dass das Evangelium mit einer fremden, quer stehenden Perspektive und damit auch mit einer anderen, zweiten Sinn-Welt konfrontiert. Anderenfalls würde die Rede von der »einen Wirklichkeit« im Glauben redundant und banal. – Insgesamt kann das Urteil zur ersten Auflage auf einer nunmehr verbreiterten und noch klarer hervortretenden Basis wiederholt werden: E.s Buch ist eine zuverlässige Einführung und bietet dabei auch reichlich Stoff zur Fortsetzung der homiletischen Diskussion.