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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1104-1106

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Lier, Gerda

Titel/Untertitel:

Das Unsterblichkeitsproblem. Grundannahmen und Voraussetzungen. 2 Teilbde.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2010. Teil 1: XIII, 786 S. Teil 2: X, S. 787–1433. gr.8°. Geb. EUR 158,00. ISBN 978-3-89971-764-8.

Rezensent:

Christof Gestrich

Diese 2009 in Frankfurt (Main) für das Fach Religionsphilosophie angenommene Dissertation von Gerda Lier ist zugleich ein Lebenswerk. Es ist mit vielen sorgfältigen und immer wieder lehrreichen Referaten eine Fundgrube für praktisch sämtliche in der Diskussion befindlichen Positionen. Nach seiner Selbstbeschreibung setzt es sich umfassend »mit der Idee der Unsterblichkeit« und ihren »zentralen Annahmen« in der mathematisch-physikalischen Theoriebildung, in der Biologie und den Neurowissenschaften (Gehirn- und Bewusstseinsforschung) sowie auf dem weiten Feld der alten und neuen Philosophie auseinander. Gestreift werden auch einige theologische Urteile aus dem 20. Jh. (58–60). Freilich zielt diese im Kern apologetische Abhandlung besonders auf die Bestreitungen der Unsterblichkeit. Diese werden wiederum antikritisch infrage gestellt durch entgegengesetzte Gesichtspunkte. Das Gesamtkonzept hilft, die Einseitigkeit nur fächerspezifischer Herangehensweisen an die Probleme von ›unsterblicher Seele‹ und ›Jenseits‹ zu überwinden. Fortwährender Untersuchungsgegenstand der Arbeit ist die Menschheitsfrage und die große philosophische Alternative, ob der Mensch – wie der Materialismus und der Naturalismus meinen– »ein rein biologisches Lebewesen« darstellt, »das letztlich mit seinem physischen Körper identisch ist«; oder ob der Mensch – wie aller »Idealismus« lehrt – in seinem »eigentlichen Wesen« letztlich nicht seiner »physischen Natur« und deren Verfall unterliegt.
Als Ergebnis wird stets aufs Neue formuliert: Trotz vieler gegenteiliger Erkenntnisse und Behauptungen gibt es »gute Belege – wenn auch keine zwingenden Beweise – für die Unabhängigkeit und die Trennbarkeit des Bewusstseins vom physischen Körper«. ›Argumentationstechnik‹ ist stets, dass angesehenen Lehrmeinungen andere angesehene Lehrmeinungen entgegengestellt werden. Auf diese Weise wird die Voreiligkeit und zum Teil auch Gewaltsamkeit der für die Gegenwart so charakteristischen einseitig-naturalistischen Sichtweisen der Wirklichkeit dargelegt. Die Arbeit stützt somit auf eine multiperspektivische Weise das noch immer für besonders wichtig erachtete »platonische Konzept einer nicht-physischen Seele« bzw. die Annahme der »Kontinuität des Bewusstseins« über den Tod hinaus.
Das Werk ist so gegliedert, dass nacheinander die fünf für die neuzeitliche Zivilisation charakteristischen Bestreitungen der Transzendenz überprüft werden, nämlich 1. die Behauptung, es existiere nur »die uns bekannte raumzeitliche Welt«, »und … Belege für andere Dimensionen und Realitätsebenen seien nicht vorhanden«; 2. aus »der Faktizität des Evolutionsprozesses könne geschlossen werden, dass die Lebewesen ohne Absicht und Plan ausschließlich durch mechanistisch-materialistische Prozesse entstanden seien«; 3. es »gebe keine rationalen Argumente für die Existenz eines transzendenten Urgrundes der Welt, einer transzendenten wahren Wirklichkeit und transzendenter Entitäten«; 4. das Bewusstsein werde allein vom Gehirn hervorgebracht, Belege »für eine postmortale Kontinuität des Bewusstseins« gebe es nicht; 5. in »der Aufklärung sei gezeigt worden, dass die Annahme einer unsterblichen Seele irrational sei«. – In allen diesen Fragenkreisen lautet dann das Untersuchungsergebnis: Die Begründungen für diese strikten Thesen reichen nicht aus.
Die Texte, mit denen die Arbeit sich auseinandersetzt, sind je­weils direkt in Fußnoten ausgewiesen. Beide Bände bieten am Schluss auch ein Abkürzungsverzeichnis häufig verwendeter Werke. Ein Gesamtliteraturverzeichnis fehlt allerdings. Der zweite Band endet mit einem Personenregister, das aber nur die im Haupttext diskutierten Namen (und z. B. nicht die Autoren von Literatur über sie) umfasst, und mit einem Sachregister. Die Großüberblicke über die Forschungslagen erforderten in den jeweiligen Buchteilen das Herbeiziehen recht großer Quellen- und Literaturmengen. Allein schon der mathematisch-physikalische und zu­gleich naturphilosophische Teil über den »Kampf« um die Anzahl und die Bedeutung der Dimensionen (höherdimensionale Raum­-theo­rien) umfasst rund 200 Seiten und rund 260 Titel, darunter auch Aufsätze, Lexikon- und Zeitschriftenartikel (I, 61–264). Es geht hier vor allem um die von der physikalischen Quantentheorie ermöglichte Annahme, dass hinter der uns vertrauten Ebene von Raum und Zeit, von Körpern (Materie) und Energien, noch tiefere Ebenen in unbegrenzter Zahl existieren, aus der die uns vertrauten ›emergieren‹, und dass darum heute von manchen Physikern wieder an Fragen der Metaphysik angeknüpft wird. Wo möglich, wurde aus den Quellen selbst gearbeitet und aus guten neuen Ausgaben zitiert. Regelmäßig wurden aber auch Kommentare anderer beigezogen. In einigen Fächern, wie Biologie und Physik, haben Hochschullehrer der entsprechenden Fakultäten die Ausarbeitungen der Vfn., die ihrerseits Religionsphilosophie, Psychoanalyse und evangelische Theologie studiert hat, gegengelesen.
Bei der Lektüre fallen Wiederholungen auf. Diese Redundanzen ergeben sich teilweise aus sachlichen Überschneidungen bei den Fachreferaten. Angesichts der Breite des Werkes ist auch der Einführung (I, 1–60) die Funktion einer knappen Zusammenfassung des Ganzen zugewachsen. So können Interessenten für bestimmte Fragestellungen schon hier lesen, was sie im Gedankengang des Haupttextes erwarten wird – und sich dann vielleicht noch in die Einzelheiten vertiefen. Etwas absonderlich ist, dass die Vfn. ihre Kronzeugen regelmäßig mit Attributen belegt, wie: ›er ist ein be­sonders Großer seiner Wissenschaft‹, er ist ›hochberühmt‹ usw. Sie will damit nicht nur die Auswahl ihrer Quellen rechtfertigen, sondern manchmal auch der Kritik vorbauen, sie selbst folge nur unmaßgeblichen (Minderheits-)Meinungen. Das zeigt nun auch die Grenzen dieses gelehrten und instruktiven Werkes an: Es ist abhängig von der fachlichen Autorität der ›Stimmführer‹, die hier zu Worte kommen. Zwar werden diese nicht nur addiert (›gezählt‹), sondern durchaus auch ›gewogen‹ (ein Beispiel ist das abschließend analysierte vielschich­tige Verhältnis von Immanuel Kant und Emanuel von Swedenborg [II, 1346–1396]). Aber das Ganze lebt letztlich weder von einer eigenen systematischen Durchdringung des Seelen- und des Unsterblichkeitsproblems noch von entsprechenden Definitionen. Dennoch hält das umfängliche Werk dankenswerterweise eine Tür offen, die fast schon zugeschlagen war. Es fasst sehr komplexe Diskussionslagen zusammen, wie z. B. die über die zahlreichen unterschiedlichen Implikationen der Darwinschen Evolutionstheorie (I, 265–489). Aber es überzeugt mindestens diejenigen nicht, deren Hypothesen es zu relativieren versucht. Denn diesen begegnen hier keine neuen Überlegungen zur Unsterblichkeitsfrage, sondern nur solche, die sie ohnehin schon kennen oder jedenfalls kennen müssten.