Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2011

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Delgado, Mariano, Krüger, Oliver, u. Guido Vergauwen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Prinzip Evolution. Darwin und die Folgen für Religionstheo­rie und Philosophie.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 244 S. gr.8° = Religionsforum, 7. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-17-021501-6.

Rezensent:

Stefan Schneckenburger

Der bekannte amerikanische Evolutionsbiologe D. J. Futuyma formulierte 2009: »This is an exciting time to learn about evolution – or to be an evolutionary biologist.« Dies gilt auch für die Theologie und ihre nun auch schon 150-jährige Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex. Der zu besprechende Band fasst 14 Beiträge des 5. Religionsforums der Universität Freiburg (Schweiz) zusammen, das dort im November des »Darwin-Jahrs« 2009 stattgefunden hat. Sicherlich ohne dies zu wollen, reflektiert die Tagung das Motto, unter das säkulare Gruppen (u. a. die Giordano-Bruno-Stif­tung), das Jahr des 200. Geburtstags des Begründers der Evolutionstheorie und das 150-jährige Jubiläum der Publikation der »Origin of Species« gestellt hatten: »Evolution ist überall!« – auch in der Theologie!?
Durch Darwin und seine Nachfolger wurde klar, dass die seit Aristoteles und den sich auf ihn berufenden christlichen Theologen bestehende Auffassung von einer vollkommenen Schöpfung mit einer ihr innewohnenden statischen Hierarchie obsolet geworden war. An ihre Stelle trat die Erkenntnis eines dynamischen Prinzips der Evolution mit Arten, die neu entstehen können und einem Wettstreit untereinander ausgeliefert sind, die sich weiter entwickeln, aber auch aussterben können. In einem einführenden Beitrag ( O. Krüger/S. Thürig, 9–25) werden die Grundgedanken und ihre Weiterungen im Sinne einer »Darwinisierung der Kultur und Religion« kurz vorgestellt und vor allem das von Richard Dawkins eingeführte Konzept der Meme diskutiert und kompetent auf einige seiner Schwachstellen hingewiesen. Allerdings fehlen Hinweise auf neueste und wirklich spannende Entwicklungen im Sinne der »Extended Synthesis« der Theorie.
Insofern fordern die Ideen des studierten Theologen Darwin und ihre Ausarbeitung und Übertragungen auf andere Gebiete in den vergangenen 150 Jahren erst einmal die christliche und muslimische Theologie heraus, wie die lange und immer wieder heftig aufflammende Diskussion um den Kreationismus aller Schattierungen – von einem Kurzzeitkreationismus, der von einem Erdalter von ca. 8000 Jahren ausgeht, bis hin zu den Ideen des Intelligent Designs – belegt. In diesem Band wird dieses Thema vor allem in einem Beitrag, dessen Übersetzung ins Deutsche manchmal etwas unglücklich daherkommt, in Bezug auf den türkisch-islamischen Kreationismus von Harun Yahya behandelt ( J.-M. Balhan, 63–78). Harun Yahya hat in den vergangenen Jahren an verschiedenen deutschen und schweizerischen Universitäten durch provokante Veranstaltungen auf sich aufmerksam gemacht. Er ist vielleicht nur eine schillernde Randfigur, dennoch sollten er und seine mit viel Geld unklarer Herkunft ausgestattete Bewegung keinesfalls unterschätzt werden, wie es in dem Beitrag etwas den Anschein hat.
Auf einer wissenschaftstheoretischen Ebene setzt sich ein brillanter Beitrag (D. Hattrup, 47–62) mit der Frage auseinander, ob nach Darwin ehrlicherweise noch von einem persönlichen Gott gesprochen werden kann. Er sieht Darwin als einen Vertreter eines deterministisch-mechanistischen Zeitalters, das aber angesichts der Quantenphysik keine vollständige Welterklärung liefern kann: Der Zufall ist nicht mehr nur Lückenbüßer oder Hinweis auf Erkenntnislücken, sondern »echt«. Dieser Zufall, den auch Darwin erörtert, aber doch eher gefürchtet hat, ermöglicht nun Freiheit im vollen Wortsinn und auch einen begründbaren Glauben an einen persönlichen Schöpfergott. Insofern weist er sowohl die Denkmuster eines naturalistischen Atheismus als auch jeder Form des Kreationismus, der im Letzten auch eine vollständige Kausalität voraussetzt, zurück.
Der Mittelteil des Bandes ist dem Denken von Persönlichkeiten gewidmet, die den Evolutionsgedanken im 20. Jh. im Sinne von »Zukunftsanthropologien« weiterentwickelt haben. Neben der Pro­zessphilosophie Whiteheads (Ch. Aus der Au, 99–118), dem weit ausgreifenden Denken Teilhard de Chardins (F. Euvé, 119–132) und dem nicht-dualistischen Spiritualismus Sri Aurobindos (W. Gantke, 133–148) werden der Monist Auguste Forel (S. Heinen, 81–98), José Vasconcelos (M. Delgado, 149–162) und der Kulturphilosoph Jean Gebsers (P. Gottwald, 163–174) behandelt.
Ein weiterer sehr interessanter Aspekt ist die Anwendung des Evolutionsgedankens auf die Religion(en) selbst. In einem sehr interessanten Beitrag (M. Blume, 193–204) werden die bisher kaum beachteten Einschätzungen und Hypothesen des Theologen Charles Darwin vorgestellt, die auch aus heutiger Sicht – mit einigen dem viktorianischen Zeitgeist geschuldeten Fehleinschätzungen – durchaus frisch und anwendbar erscheinen. Ursprung und ge­schichtliche Entwicklung von Religionen selbst können in evolutionistischer Terminologie beschrieben werden (I. Wunn, 205–220). Sie entstehen nicht aus dem Nichts, sondern entwickeln sich in Anpassung an die jeweilige naturräumliche, soziale, ökonomische und politische Umwelt. Auch »innertheologisch« diskutiert R. Voderholzer in seinem Beitrag zur Dogmenentwicklung (29–46), ob hier eine »Evolution der Wahrheit« beobachtet werden kann. Eingeführt hatte diesen Gedanken der zum Katholizismus konvertierte anglikanische Theologe John Henry Newman in der vierziger Jahren des 19. Jh.s – just in den Jahren, als Charles Darwin ein paar Meilen entfernt seine Evolutionstheorie entwickelte. Nach katholischer Lehre gibt es einen solchen Fortschritt in der Entwicklung der Dogmen, die somit das Verständnis der überlieferten Offenbarung wei­terentwickelt und verbessert – ein Gedanke, der in ähnlicher Weise in der erst jüngst vollständig veröffentlichten Habilitationsschrift Joseph Ratzingers diskutiert wird.
Ein Mangel des interessanten und lesenswerten Bandes liegt sicherlich darin, dass eine strikt naturalistische Position leider nicht deutlich erkennbar und offensiv vertreten wird. Das hätte ihn abgerundet und ihm in der doch heftigen Diskussion zum Thema »Evolution ist überall« das durchaus verdiente größere Gewicht verliehen.