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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1086-1089

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Beuttler, Ulrich

Titel/Untertitel:

Gott und Raum – Theologie der Weltgegenwart Gottes.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 624 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 127. Geb. EUR 80,95. ISBN 978-3-525-56400-4.

Rezensent:

Joachim Weinhardt

Diese Arbeit wurde 2008 als Habilitationsschrift an der Universität Erlangen angenommen (W. Sparn/W. Schoberth). Sie besteht aus einem historischen und einem systematischen Teil.
In Teil I (35–223), auf den hier aus Raumgründen nicht näher eingegangen werden kann, behandelt Ulrich Beuttler in sehr aufmerksamer und detaillierter Weise die antiken Raumtheorien der Ato­-mis­ten, der Platoniker und der Schulen bis Plotin, sodann die Positionen Augustins, Gregors d. Gr. und des Aquinaten. Der Bogen spannt sich weiter über den Areopagiten, Robert Grosseteste, Eckart und Seuse, den Cusaner, Bruno, Luther, Brenz, Descartes, More und Leibniz. Die akribischen Analysen bilden eine gute Einführung in die antike und mittelalterlich/frühneuzeitliche Raumtheorie. Allerdings steht der reichhaltige historische Ertrag relativ isoliert gegen die systematischen Erörterungen des Buches.
Im »systematischen Teil« (234–571) werden die philosophisch-theologischen Bezugsgrößen – vor allem Kant, Schleiermacher, Dalferth, Moltmann und Evers – zunächst einem kritischen, aber recht kleinräumigen Vergleich unterzogen. Das Ergebnis fällt negativ aus: Die Räumlichkeit Gottes könne weder in Bezug auf den physikalischen noch auf den mathematischen Raum angemessen bedacht werden. Vielmehr will B. »vom gelebten Raum und dem vorwissenschaftlichen Raumbegriff« ausgehen, um »Gott« und »Raum« in eine Relation zu bringen (255 f.).
Hier stellt sich dem Rezensenten die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status dieses Unternehmens. Denn sowohl vom physikalischen Raum als auch vom mathematischen Raum gibt es wissenschaftliche Ansätze. Was aber wird aus einer Raumtheo­logie, die auf vorwissenschaftliche Raumvorstellungen zurück­greift? Wird es gelingen, diese Vorstellungen mithilfe einer an­-deren Bezugsdisziplin auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen, so dass am Ende tatsächlich systematische Theologie he­rauskommt?
B. nimmt mit der phänomenologischen Methode à la Heidegger, Durckheim und Geistesverwandten den »gelebte[n] Raum als Worin des Daseins, sein widerfahrendes Erleben und Gott als Worin und Fundament des Seins« in den Blick (264–273). Der »getönte Raum« hat ›mythisch-polare Qualitäten‹ (273–284), er »ereignet sich in vielfältiger Weise: als machtvoll dröhnender oder sanft schweigender Raum, als leerer oder voller, weiter oder enger Raum, hell oder dunkel, freundlich oder abweisend, einladend oder ausgrenzend, bergend oder feindlich, schützend oder bedrohend, widerständig oder einfühlend« (275).
Der »leiborientierte Raum« – bestimmt durch die menschliche Anatomie und die Schwerkraft – präformiert schließlich die »religiöse Raumorientierung« (284–296). Gott kommt als »Tiefe des Seins« zur Sprache (296–301), wodurch ein Bogen geschlagen ist zu den »religiösen Dimensionen« des »gelebten Raums« (301–307). Was aber leistet diese Phänomenologie?
»Der Bezug der Raumtranszendenzen auf die Glaubensgehalte ist nicht eindeutig, weil die Raumerfahrungen, gerade auch die unbewusst-ungegenständlichen vieldeutig sind. Zwar kann man am gelebten Raum ansetzend Gott im beschriebenen Sinn als Grund (Woher: Schöpfer), Horizont (Worin: Erhalter) und als Sinn (Wohin: Erlöser) des endlichen menschlichen Lebens ansprechen, doch ergibt sich dies nicht schon aus den Phänomenen selbst.« Es kann »die Transzendenz des Raumes vieles bedeuten … ›Spricht die Seele? Spricht die Welt? Spricht Gott?‹« (306)
In Kapitel III des systematischen Teils versucht B., in Auseinandersetzung mit Kants transzendentaler Methode eine transzendentale Gotteserfahrung denkbar zu machen. Er schließt sich Dalferth darin an, dass »Gott sich selbst in besonderer Weise in, mit und unter bestimmtem Erfahrenen in der Differenz zu diesem als Grund des Erfahrenen zur Erfahrung bringt, also sich selbst offenbart« (314). Diese Passage aus Der auferweckte Gekreuzigte be­schreibt die Offenbarung Gottes in der Geschichte Jesu von Nazareth, die von den Osterzeugen in ihrer raum-zeitlichen Geschichte als Offenbarung wahrgenommen und geglaubt wurde. Die Brechung, die darin besteht, dass das Ich glaube bei jeder Aussage des christlichen Subjektes mitgedacht werden muss, verschwindet aber im nächsten Abschnitt, in welchem sich B. der ästhetischen Theorie der räumlichen Atmosphären von Herrmann Schmitz anschließt: »Atmosphären sind nach H. Schmitz mit Gefühlen verwandte Phänomene, welche a) räumlich ausgedehnt, b) randlos in die Weite ergossen und c) leiblich spürbar sind. Atmosphären werden wahrgenommen durch eine bestimmte Art leiblichen Spürens … Das atmosphärische Spüren geschieht durch den ganzen Leib, wobei die Ergreifung von außen nach innen vordringt. … Die verschiedenen noch zu unterscheidenden Arten von Atmosphären erschließen sich jeweils durch eine entsprechende Form atmosphärischen Spürens: eine klimatische Atmosphäre etwa durch ein klimatisches Spüren, eine persönliche durch persönliches Betroffensein, eine numinose durch numinose Ergriffenheit usw.« (317)
Ontologisch betrachtet sind Atmosphären nur in der Erscheinung. »Sie sind echte Phänomene im Goetheschen Sinne, sind also nicht Phänomene von etwas, sondern sie selbst. … Sie sind, in Bezug auf ihre Dingfestigkeit, flüchtig. … Sobald man sie bestimmen, eingrenzen, abgrenzen will, werden sie erst recht unscharf und undeutlich. Wenn man sie aber randlos lässt und freischwebend, sind sie sehr genau identifizierbar.« (321) Atmosphären können sich verdichten, dann werden sie zu einer Aura: »Eine Aura kann man nicht nur allgemein weiteräumlich spüren, sondern auch, wie Benjamin sagt, atmen, oft sogar riechen und schmecken. Eine Aura ist eine besonders intensive, verdichtete und anspruchsvolle Atmosphäre eines Gegenstandes oder einer Person mit Verankerungspunkt und Verdichtungsbereich.« (325)
Man sollte erwarten, dass die theologische Spitze dieser Gedankenentwicklung schließlich in Mystik oder Theosophie einmündet. B. will jedoch Christus und den Heiligen Geist mithilfe der Atmosphärentheorie denkbar machen – und gerät dabei in eine atmosphärische Rekonstruktion der lukanischen Pfingstgeschichte. »Die Epiphanie des Geistes ereignet sich als plötzlich auftretende, extrem dichte und durch den ganzen Raum ausgebreitete Atmosphäre, die nicht nur mit Ohr und Auge, sondern am ganzen Leib, mit Haut und Haar, gespürt wird, jedoch nicht als Zustand des Leibes. Weder die Deutung als subjektive Vision noch als bloß innerliches Ergriffensein wird dem Phänomen gerecht. Alle oben herausgestellten Eigenheiten einer Atmosphäre sind zu konstatieren: Die Geistsphäre ist eine übermächtige Wirklichkeit, die leiblich ergreift. … Die Atmosphäre wird als Anwesenheit von Wirklichkeit, von Wirkmacht erlebt und am Leib als ein anderes gespürt. … Es stellt sich dann ein neuer, vorher nicht für möglich gehaltener Zustand ein, ein Koppelungszustand aus sprachlicher Vielheit und Geist zur differenzierten Gemeinschaft des neuen Gottesvolkes aus Juden und Heiden.« (329)
Die Atmosphärentheorie erlaubt es auch, den Wirklichkeitsgehalt der alttestamentlichen Theophanien zu begründen: »Die Naturerscheinungen der Theophanien stellen keine, gar nur rhetorische, Darstellungsmittel oder sekundäre Begleitumstände oder Reste eines archaischen Animismus dar, sondern bilden die atmosphärische Präsenz des transzendenten Gottes selbst.« (335) Wie bitte kann der transzendente Gott atmosphärisch gegenwärtig werden, wenn die Atmosphäre nur das Phänomen ist, das sie ist?
Auf der Grundlage der atmosphärischen Personalität Gottes begibt sich B. dann wieder in den Dialog mit Moltmann, Evers, Dalferth, Pannenberg u. a. (Kapitel IV: Der physische Raum und das Wirken Gottes, 354–385). Hier wird deutlich, dass B. tatsächlich auf eine theologische Ontologie zielt. Es tritt eine Triangulation ein zwischen der biblisch-theologischen Tradition, der naturwissenschaftlich-theologischen Vermittlung dieser Tradition und der at­mosphärentheologischen Rekonstruktion derselben Tradition. Aber noch immer fußt die Atmosphärentheologie auf dem vorwissenschaftlichen Bewusstsein. Mitten im Diskurs verschwindet die phänomenologische Diktion wieder und B. setzt sich mit den Versuchen auseinander, mithilfe des physikalischen Feldbegriffs den biblischen Gottesgedanken zu explizieren (354–374). Es folgt eine Erörterung der Begriffe Naturgesetz, Kausalität, Kontingenz, und plötzlich findet sich der Leser in einer Diskussion physikalischer und metaphysischer Zeitbegriffe und kosmologischer Theorien vom Ursprung des Universums und Schöpfungstheorien wieder (374–410). Dabei wird aber außer dem Standardmodell der Kosmologie keiner der neueren, elaborierteren physikalischen Ansätze diskutiert. B. begnügt sich mit der Feststellung, dass nach einer bestimmten Interpretation der Urknalltheorie die Vorstellung eines zeitlichen Ursprungs der Welt äquivalent sei der Vorstellung eines anfangslosen Universums (410). Damit ist der naturwissenschaftlich-theologische Dialog vorerst wieder an sein Ende gekommen. Hier taucht das atmosphärentheologische Sprechen von Gott wieder auf: »Der Unterschied von Anfang und Beginn kann phänomenologisch so beschrieben werden, dass ein Beginn eine Zäsur innerhalb einer Reihe, ein Anfang hingegen eine Grenze für eine Folge markiert … Ein Anfang unterscheidet sich von der Reihe, er grenzt ab und bezieht aus innerem Grund. Ein Beginn ist auf etwas, ein Anfang von jemand auf etwas und auf sich bezogen. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, kann auch nicht etwas anfangen, beginnen tut immer irgendwo irgendwas.« (414)
In den folgenden Partien expliziert B. Gott als den unendlichen Grund der endlichen Welt auf den Spuren der altprotestantischen Orthodoxie, Schellings, Tillichs und anderer Gewährsleute. Als Ergebnis steht fest: »Die Intuition der ontologischen Priorität des Unendlichen, die daraus resultiert, dass die Idee des Unendlichen nicht allein als Negation einer Grenze gebildet wird, sondern jede Abgrenzung als einschränkende Negation des Unendlichen anzusehen ist, impliziert die Vermutung der realen Existenz des Unendlichen.« (422)
In Kapitel VI (Kosmologischer Raum und kosmischer Sinn, 423–468) sollen der gelebte Raum und der kosmologische Raum in Beziehung gesetzt werden. Hier werden jetzt mathematische Raumtheorien (Riemann, Friedmann) erklärt, neuere kosmologische Ansätze gestreift und Husserls Lebensweltkonzept referiert. Der naturwissenschaftlich begriffene Raum stiftet keinen Sinn mehr, dieser muss vielmehr von der Lebenswelt her neu gewonnen werden. Auch in Kapitel VII und VIII (Der Geschöpfliche Raum und die Transparenz der Natur; Welt-Raum und Raum-Gegenwart Gottes) werden immer wieder theologische Tradition und phänomenale, ästhetische Analyse miteinander verwoben. Schleiermachers Religionsbegriff steht im Hintergrund Pate.
Die umfangreiche Arbeit hat einen beachtlichen historischen Ertrag, der das Buch zu einem Handbuch interdisziplinär ausgerichteter Theologie macht. Der systematische Gewinn fällt dagegen deutlich ab. B. will zeigen, dass eine Korrelation der theologischen Tradition auf die Weltbildentwicklung der Naturwissenschaften inklusive der Mathematik dogmatisch unfruchtbar bleibt (diese These kann mit guten Gründen bestritten werden). Andererseits will B. zeigen, dass auf der Grundlage des Atmosphärenkonzeptes Gott in seiner Räumlichkeit gedacht werden kann. Ge­dacht? Wohl eher: erfühlt und vorgestellt! Insofern sind die diesbezüglichen Ausführungen wohl dazu geeignet, den Prediger an­zuleiten, Sinn und Geschmack fürs Unendliche zu erzeugen. Die theoretische Reflexion und Reinigung (B. zielt auf eine christozentrische Theologie ab) der so erzeugten Religion muss aber jenseits der Phänomenologie erfolgen. Hier wird die Dogmatik noch im­mer an Moltmann, Evers und Pannenberg und ihren Austausch mit den Naturwissenschaften anknüpfen müssen, und sei es nur, um die Wirklichkeit Gottes in konkretem, spannungsvollem, gelegentlich auch widersprüchlichem Bezug zu methodisch gegründeter Wissenschaft zur Sprache zu bringen.