Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1081-1084

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Luther, Martin

Titel/Untertitel:

Lateinisch-Deutsche Studienausgabe. Hrsg. v. W. Härle, J. Schilling u. G. Wartenberg (†) unter Mitarbeit v. M. Beyer.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Bd. 1: Der Mensch vor Gott. Unter Mitarbeit v. M. Beyer hrsg. u. eingel. v. W. Härle. 2006. XLIII, 674 S. 8°. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02239-7. Bd. 2: Christusglaube und Rechtfertigung. Hrsg. u. eingel. v. J. Schilling. 2006. XLI, 512 S. 8°. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02240-3. Bd. 3: Die Kirche und ihre Ämter. Hrsg. v. G. Wartenberg (†) u. M. Beyer. Eingel. v. W. Härle. 2009. XLIII, 747 S. 8°. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02241-0 (Gesamt-ISBN 978-3-374-02242-7).

Rezensent:

Martin Petzoldt

Das Erscheinen einer Lutherausgabe hat immer gute Gründe. Es ist – neben der umfassenden Absicht der Gesamtausgaben – einerseits mit dem stetigen Bemühen verbunden, unter einem bestimmten Gesichtspunkt oder aufgrund eines wichtigen Datums wesentliche Schriften des Reformators zusammenzustellen und entweder allgemeinverständlich oder auch wissenschaftlich brauchbar zu publizieren; andererseits verbindet es sich neuerdings häufig mit dem Ziel, lateinische Schriften Luthers übersetzt herauszubringen, um so den Zugang zu seiner Theologie, aber auch die Umstände und Beweggründe seines Wirkens besser begreifen und intensiver erforschen zu können. Die Geschichte der Übersetzungen von ur­sprünglich lateinischen Schriften Luthers ist eine eigene, die durchaus interessant ist und darstellenswert wäre; Gesamtausgaben und kritische Werkausgaben wenden sich in der Regel der Aufgabe der Übersetzung nicht zu.
So bleibt es Teilausgaben vorbehalten, lateinisch entstandene Schriften jeweils neu übersetzt anzubieten. Die Evangelische Verlagsanstalt Berlin eröffnete im Vorfeld des Lutherjubiläums 1983 eine »Martin Luther Studienausgabe« (StA), die auf sechs Bände berechnet war (später erweitert auf acht Bände), deren zwei letzte die deutschen Übersetzungen der lateinischen Texte aller Bände enthalten sollten. Dazu ist es bis auf wenige Texte leider nicht gekommen. Gleichwohl wandte sich die verdienstvolle Ausgabe – nicht unwesentlich den Umständen der DDR-Verhältnisse ge­schuldet – zugleich an Theologen, Historiker und Germanisten (StA I, 7) und wollte nicht zuletzt auf diese Weise den authentischen Zugang zu einschlägigen Luthertexten erleichtern, aber auch diese vor dem schnellen Zugriff marxistisch-ideologischer Interpretation schützen und durchaus das berechtigte Vorrecht der professionellen Lutherforschung auf ein solches Unternehmen sichern. An der Bearbeitung beteiligt waren gleichermaßen ausgewiesene Theologen der Theologischen Fakultäten und der kirchlichen Ausbildungsstätten im Osten Deutschlands. Die Anordnung war chronologisch vorgesehen.
Die Idee einer Lateinisch-Deutschen Studienausgabe (LDStA) ist auf der einen Seite eigentlich die konsequente Fortsetzung der nicht erschienenen Übersetzungsbände der StA, auf der anderen Seite aber optimiert um die Simultaneität des lateinischen und des deutschen Textes. Der Impuls entstand in einem Oberseminar der Theologischen Fakultät in Heidelberg 1999, einen lateinischen Text Luthers und seine Übersetzung vergleichend studieren zu wollen. Bisher aber fehlte eine Ausgabe, die lateinische Hauptschriften Luthers zweisprachig so präsentiert, dass der Benutzer neben einer guten Übersetzung ebenso eine leicht verwendbare lateinische Textvorlage zur Verfügung hat. Um das zu erreichen, wurden die lateinischen Hauptschriften Luthers – mit Ausnahme der Vorlesungen – gesichtet und thematisch geordnet. Das Ergebnis, das wesentlich der Initiative des Heidelberger Systematikers Wilfried Härle zu danken ist, liegt mit den anzuzeigenden drei Bänden vor, die unter drei Themen die Schriften jeweils zu einem Band zusammen ordnen (Titel, Jahr, Editionsgrundlage, Übersetzung):
Band I »Der Mensch vor Gott«: Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata (1516: Editionsgrundlage StA 1; Übersetzung W. Härle), Disputatio contra scholasticam theologiam (1517: Editionsgrundlage originaler Plakatdruck HAB Wolfenbüttel; Übersetzung W. Härle), Disputatio Heidelbergae habita (1518: Editionsgrundlage StA 1; Übersetzung W. Härle), Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum (1520: Editionsgrundlage Exemplar des Erstdruckes, Wittenberg Stiftung Lu­thergedenkstätten; Übersetzung S. Rolf), De servo arbitrio (1525: Editionsgrundlage StA 3; Übersetzung A. Lexutt), Disputatio D. Martini Lutheri de homine (1536: Editionsgrundlage StA 5; Übersetzung W. Härle).
Band II »Christusglaube und Rechtfertigung«: Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum (1517: Editionsgrundlage Einblattdruck von Hieronymus Höltzel, Nürnberg; Übersetzung J. Schilling und R. Schwarz), Widmungsbrief an Johann Staupitz zu den Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (1518: Editionsgrundlage Johannes Rhau-Grunenberg, Wit­tenberg; Übersetzung J. Schilling), De remissione peccatorum (1518: Editionsgrundlage Valentin Schumann, Leipzig; Übersetzung E. Koch), Sermo de poenitentia (1518: Editionsgrundlage Johannes Rhau-Grunenberg, Wittenberg; Übersetzung D. Arnold), Sermo de triplici iustitia (1518: Editionsgrundlage Johannes Grunenberg, Wittenberg; Übersetzung R. Preul), Sermo de duplici iustitia (1519: Editionsgrundlage Johannes Rhau-Grunenberg, Wittenberg; Übersetzung M. Beyer), Sententiae de lege et fide (1519: Editionsgrundlage: Hans Lufft, Wittenberg 1538; Übersetzung D. Arnold), Propositiones de fide infusa et acquisita (1520: Editionsgrundlage Jan Seversz, Leiden 1521; Übersetzung T. Goldhahn), Quaestio, utrum opera faciant ad iustificationem (1520: Editionsgrundlage Adam Petri, Basel 1521; Übersetzung T. Goldhahn), Epistola Lutheriana ad Leonem Decimum summum pontificem. Tractatus de libertate christiana (1520: Editionsgrundlage Johannes Rhau-Grunenberg, Wittenberg; Übersetzung F. Rädle), Rationis Latomianae pro incendiariis Lovaniensis scholae sophistis redditae Lutherianae confutatio (1521: Editionsgrundlage Melchior Lotther d. J.; Übersetzung R. Mau), Thesen für fünf Disputationen über Römer 3,28 (1535–1537: Editionsgrundlage Johannes Lufft, Wittenberg; Übersetzung H. Zschoch), De veste nuptiali (1537: Editionsgrundlage Wittenberg 1538; Übersetzung T. Goldhahn), Thesen für die erste Disputation gegen die Antinomer (1537: Editionsgrundlage Hans Lufft, Wittenberg, und Basel 1538; Übersetzung J. Wolff), Verbum caro factum est (1539: Editionsgrundlage Joseph Klug, Wittenberg; Übersetzung T. Goldhahn), De divinitate et humanitate Christi (1540: Editionsgrundlage WA 39 II; Übersetzung T. Goldhahn), De fide iustificante (1543: Editionsgrundlage WA 39 II; Übersetzung T. Goldhahn), Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der lateinischen Schriften (1545: Editionsgrundlage Johannes Lufft, Wittenberg; Übersetzung M. Beyer).
Band III »Die Kirche und ihre Ämter«: Sermo de virtute excommunicationis Fratri Martino Luther Augustiniano a linguis tertiis tandem everberatus (1518: Editionsgrundlage Johann Rhau-Grunenberg, Wittenberg; Übersetzung R. Preul), Resolutio Lutheriana super propositione decima tertia de potestate Papae. Per autorem locupletata (1519: Editionsgrundlage Melchior Lotter d. Ä., Leipzig, und Johann Rhau-Grunenberg, Wittenberg; Übersetzung R. Preul), De captivitate Babylonica ecclesiae. Praeludium Martini Lutheri (1520: Editionsgrundlage StA 2; Übersetzung R. und R. Preul), Ad librum eximii Magistri Nostri Ambrosii Catharini defensoris Silvestri Prieratis acerrimi responsio Martini Lutheri. Cum exposita Visione Danielis VIII de Antichristo (1521: Editionsgrundlage Melchior Lotter d. J., Wittenberg; Übersetzung R. und R. Preul), De instituendis ministris ecclesiae, ad clarissimum senatum Pragensem Bohemiae (1523: Editionsgrund­lage Cranach und Döring, Wittenberg; Übersetzung R. und R. Preul), Formula missae et communionis pro ecclesia Wittembergensi (1523: Editionsgrundlage StA 1; Übersetzung J. Neijenhuis), Disputatio de potestate concilii (1536: Editionsgrundlage Hans Lufft, Wittenberg 1538; Übersetzung M. Beyer), Contra XXXII articulos Lovaniensium theologistarum (1545: Editionsgrundlage Joseph Klug, Wittenberg; Übersetzung R. Preul).
Insgesamt kann man dem Verlag, den Herausgebern und den Benutzern dieser Ausgabe zu dem vorgelegten Ergebnis gratulieren, das zudem geschmackvoll präsentiert ist. Aus der Übersicht und den Bandüberschriften wird deutlich, dass sowohl die Bereitstellung der Editionsgrundlagen als auch die Übersetzungen auf dem neuesten Stand der Forschung aufbauen. Am Rande sind als Marginalien je­weils die Seitenzahlen der WA und – wenn bereits abgedruckt – die der StA vermerkt. Durch die Zweisprachigkeit ist der kritischen Benutzung keine Grenze gesetzt, die Übersetzung selbst dient der ungehinderten Kenntnisnahme der Schriften, setzt sich aber durch die Parallelität zum lateinischen Urtext unmittelbar selbst der so­fortigen Kritik aus. Dieses Verfahren ist nicht hoch genug zu würdigen. Durchaus interessant wäre es, einschlägige Stellen mit früheren Übersetzungen zu vergleichen, um kritisch zu erfahren, wie sehr Situationen auch Einfluss auf Übersetzungen haben können.
Von besonderer Qualität sind die Einleitungen zu den drei Bänden, die von Wilfried Härle (Bände I und III) und Johannes Schilling stammen (Band II). Hier wird vor allem der Editionsplan erläutert. Doch sie geben auch wertvolle theologiegeschichtliche Orientierungen und sind insoweit gut und nützlich zu lesen, vor allem für Studierende. Dazu kommt, dass hier auch systematisch-theolo­gische Vorentscheidungen bekannt gemacht werden, die die Übersetzung wesentlich betreffen. Eingehen will ich kurz auf den interessanten Versuch W. Härles zur Assertio omnium articulorum 1521 und zu den Schriften Erasmus’ De libero arbitrio 1524 und Luthers De servo arbitrio 1525, das Grundwort arbitrium mit »Willensvermögen« wiederzugeben (vgl. insbesondere Bd. I, S. XXI ff. und S. 195ff. und 219 ff.). Das Grundwort arbitrium gehört eigentlich in die Rechtssprache, und Luther selbst hat es – für uns Heutige womöglich irreführend – mit dem deutschen Wort »Wille« wiedergegeben. Lexikalisch werden als Übersetzung »Spruch, Urteil, Entscheidung« angegeben, dazu als übertragene Bedeutungen »freies Er­messen, freie Wahl, Bestimmung nach Gutdünken« oder auch einfach »Macht, Herrschaft, Gewalt«. Danach würde der Titel des Erasmus De libero arbitrio pleonastisch sein, während Luthers Titel De servo arbitrio eine ausdrückliche Paradoxie enthielte. W. Härles Übersetzung mit »Willensvermögen« leuchtet von daher ein, weil damit die ausdrückliche Intentionalität des handelnden Subjekts in den Blick gerückt wird, was unbedingt diskussionswürdig ist. Die Schwierigkeiten stellen sich aber offensichtlich dann ein, wenn diese Übersetzung mit Adjektiven, insbesondere mit »unfrei« verbunden wird: »freies Willensvermögen« und »unfreies Willensvermögen«. Denn »Vermögen« wie auch »Willensvermögen« verweisen doch wohl vor allem anderen auf das, was jemand tatsächlich zu tun und zu lassen vermag, meint also in jedem Fall ein Tun nach freiem und natürlichem Gutdünken, Fähigkeit und Befähigung. Grimms Wörterbuch (12. Bd., I. Abteilung, Leipzig 1956, Sp. 888 ff.) gibt auch aus Texten Luthers deutliche Kunde von dem Wortgebrauch dieses substantivierten Verbs. So sehr es einleuchtet, für den vielfach diskutierten Willensbegriff heute ein brauchbareres Äquivalent im Sinne von Luthers Denken schaffen zu wollen, so sehr verhakt sich das Mitdenken in Widersprüche.
Die genannte Einzelheit zeigt aber, dass bei der Übersetzung zum Teil ausgesprochen intensive Überlegungen angestellt worden sind, die der Ausgabe zugute kommen, wenn auch aufs Ganze gesehen Unterschiede zu bemerken sind, was nicht verwunderlich ist. Die Bemühungen um eine Studienausgabe sind jedenfalls in hohem Maße erfüllt. Das Erscheinen des Bandes III hat sich wider Willen lang hingezogen, was vor allem Krankheit und plötzlichen Tod des Mitherausgebers Günther Wartenberg (1943–2007) zur Ursache hatte. Seinem Gedenken sei diese Rezension gewidmet.
Dass diese Lateinisch-Deutsche Studienausgabe erst verhältnismäßig spät zur Anzeige kommt, ist zu bedauern, jedoch nicht vom Rezensenten zu verantworten.