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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1080-1081

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Gerrish, Brian A.

Titel/Untertitel:

Thinking with the Church. Essays in Historical Theology.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2010. XXVI, 287 S. gr.8°. Kart. US$ 25,00. ISBN 978-0-8028-6452-9.

Rezensent:

Christoph Strohm

Der bekannte Calvin-Forscher Brian Gerrish legt in diesem Buch eine Sammlung von zwölf, zum größten Teil bereits publizierten Aufsätzen zu unterschiedlichen Themen und Epochen der Theologiegeschichte vor. Der erste Text des Bandes widmet sich der Rolle, die dem Offenbarungsbegriff angesichts der Entwicklung einer Vernunftreligion im 17. und 18. Jh. zukommt (3–34). G. gibt einen Überblick über die von den Deisten des 17. und 18. Jh.s entworfenen Konzepte, die Widerlegungsversuche der orthodoxen Gegner sowie die Unterschiede in Deutschland im Vergleich zu England und Westeuropa. Abschließend werden »Kant’s Moral Theology« und »Schleiermacher’s Theology of Consciousness« als die beiden Modelle vorgestellt, welche die Anliegen der Deisten aufzunehmen und weiterzuentwickeln suchen. Schleiermacher wird insofern besonders gewürdigt, als es ihm gelungen sei, die deistische Reduktion der Religion auf Vernunftreligion zu überwinden. Der zweite Aufsatz behandelt ebenfalls den Offenbarungsbegriff, greift aber weiter zurück (35–62). Nach dem klassischen Konzept der Offenbarung, wie es Thomas von Aquin entfaltet hat, wird Calvins Beitrag gewürdigt, der den Begriff der speziellen Offenbarung von einer problematischen Parallelisierung mit der Vernunft als allgemeiner Offenbarung befreit habe. Vorgestellt werden ferner Ludwig Feuerbachs Kritik, Karl Barths Antwort und erneut Schleiermacher.
Unter der Überschrift »Faith and Morals« erörtert G. in drei Aufsätzen Probleme der Theologiegeschichte, die mit der Rezeption Kants seit der Wende zum 19. Jh. zusammenhängen. In einem Aufsatz wird Johann Gottlieb Fichtes Position im Atheismus-Streit dargelegt (65–80). Da für ihn der Ausgangspunkt aller Erkenntnis das absolute Ich und nicht irgendeine Welterkenntnis ist, habe er die Vorstellung Gottes als eines eigenständigen Wesens – und nicht als der moralischen Weltordnung selbst – für den eigentlichen Atheismus gehalten. Ein zweiter Aufsatz stellt die Kant-Rezeption Friedrich Karl Forbergs (1770–1848) dar, der religiösen Glauben als strikt praktischen Vollzug beschrieben habe (81–91). In dem dritten Aufsatz zeigt G., dass Ludwig Feuerbach in seiner Religionskritik diese neueren Religionstheorien nicht berücksichtigt und der Projektionsvorwurf lediglich ältere Ansätze treffen könne (92–101).
Im dritten Teil des Bandes finden sich drei Aufsätze über Calvin und den Calvinismus. Unter dem Titel »The Place of Calvin in Chris­tian Theology« (105–124) bietet G. knappe Bemerkungen zum Verhältnis des Genfer Reformators zu Augustin, Bernhard von Clairvaux, Luther, Schleiermacher und Barth, jeweils unter besonderer Berücksichtigung der Gnaden- und Erwählungslehre. Zu Recht betont er die Nähe Calvins zu Luther, während die Unterschiede zu Zwingli herausgestellt werden. Zwar habe es unzweifelhaft Differenzen im Gesetzesverständnis gegeben, aber in der Abendmahlslehre stehe Calvin näher bei Luther als bei Zwingli, dessen Auffassung er als »profan« ablehnte. In den zwei folgenden Aufsätzen geht es um die Calvin-Rezeption in den USA und Europa im 19. Jh. Der führende nordamerikanische Calvinist Charles Hodge (1797–1878) lehnte es entschieden ab, Schleiermacher als Erben Calvins zu verstehen. Hingegen sprach einer der wichtigsten Calvin-Forscher in Europa, Alexander Schweizer (1808–1888), Schleiermacher das Verdienst zu, Calvins Erbe wie kein Zweiter in der Gegenwart aktualisiert zu haben.
Im vorletzten Teil finden sich zwei Aufsätze zur Versöhnungslehre Hodges und dessen Schülers und späteren Gegners John Williamson Nevin (1803–1886). Während für Hodge hier die stellvertretende Sühneleistung Jesu der entscheidende Sachverhalt war, beschrieb Nevin die Inkarnation Jesu als die Weise, in der göttliches Leben in das menschliche einging und noch heute im Leben der Kirche Gestalt gewinnt (181–226). Die letzten beiden Aufsätze widmen sich der Abendmahls- und der Gnadenlehre und stellen noch einmal eingehend reformatorische Positionen (insbesondere Calvins) dar. Wiederum wird die Nähe der Abendmahlslehre Calvins zu der Luthers bei gleichzeitiger Distanz zu der Zwinglis hervorgehoben. Zu Recht betont G., dass Calvins Abendmahlslehre insbesondere der Martin Bucers (1491–1551) und Petrus Martyr Vermiglis (1499–1562) verwandt sei. Als zwar zögernder, aber treuer Gefolgsmann wird Thomas Cranmer (1489–1556) beschrieben. In der Gnadenlehre haben Luther und Calvin in gleicher Weise das sola gratia herausgestellt. Angesichts der Gefahr, die Heiligung und die guten Werke zu vernachlässigen, habe Luther von einem doppelten Geschenk, neben der Gnade auch die »Heilung von der Krankheit«, gesprochen. Calvin habe ausdrücklich eine »doppelte Gnade« ge­lehrt, die durch die Gemeinschaft mit Christus empfangen werde: neben der Versöhnung auch die Erneuerung. Seit Augustin sei der Kirche die Aufgabe gestellt, das Verhältnis von göttlicher Gnade und menschlicher Verantwortung zu klären. G. sieht es als wesentlichen Inhalt seines Anliegens »thinking with the church«, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob der moderne, nachreformatorische Protestantismus mit seinem Aufgeben der Prädestinationslehre das Bekennen der souveränen Gnade Gottes bewahrt habe.
Der Band bietet eine klar verständliche und solide Darstellung zentraler, großenteils bekannter Lehren reformatorischer und neuzeitlicher – nordamerikanischer und europäischer – Theologen. Einen besonderen Wert hat der Band dort, wo nordamerikanische und europäische Theologen miteinander verglichen oder ins Ge­spräch gebracht werden. Hier kann G. die umfassende Kenntnis sowohl der europäischen wie auch der nordamerikanischen Theologiegeschichte der Neuzeit, die ihn auszeichnet, am besten einbringen.