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Ausgabe: | Oktober/2011 |
Spalte: | 1078-1080 |
Kategorie: | Dogmen- und Theologiegeschichte |
Autor/Hrsg.: | Ernst, Stephan, u. Thomas Franz [Hrsg.] |
Titel/Untertitel: | Sola ratione. Anselm von Canterbury (1033–1109) und die rationale Rekonstruktion des Glaubens. |
Verlag: | Würzburg: Echter 2009. 276 S. 8°. Kart. EUR 16,00. ISBN 978-3-429-03158-9. |
Rezensent: | Johannes Zachhuber |
Anselm von Canterbury, dessen 900. Todestag im Jahr 2009 begangen wurde, ist in mancher Hinsicht eine in der Geschichte des christlichen Denkens singuläre Gestalt. Innerhalb einer intellektuellen Disziplin, die bei allen erheblichen Unterschieden in ihrer Gesamtheit geprägt ist von der Aneignung und Umformung vorliegender vertexteter Tradition, repräsentiert er den Typ des, wie Karl Jaspers es genannt hat, »aus dem Ursprung denkenden Metaphysikers«. Sicherlich dürfen seine berühmten Hinweise auf ein Vorgehen »sola ratione« oder gar »remoto Christo« nicht so verstanden werden, als vertrete er den methodischen Atheismus der modernen Wissenschaft. Dennoch oder gerade deshalb markieren solche Formulierungen einen Anspruch, der theologieintern nicht leicht zu deuten ist, andererseits aber zum systematischen Anschluss geradezu einlädt.
Beides wird deutlich in dem hier anzuzeigenden Band, der die veröffentlichten Beiträge einer im Jubiläumsjahr veranstalteten Internationalen Fachtagung in Würzburg enthält. Liest man die von Historikern, Philosophen und (katholischen) Theologen verfassten Beiträge, fragt man sich unweigerlich, zu welcher anderen Gestalt in der Theologiegeschichte ein solches Projekt denkbar wäre, das auf weniger als 300 Seiten im Grunde das gesamte, nicht umfangreiche Werk Anselms einbezieht, mit einem Minimum an historischer Kontextualisierung auskommt und gleichzeitig ohne überkomplexe hermeneutische Operationen die Aktualität eines mittelalterlichen Denkers verdeutlichen kann. Dabei hat Anselms Werk eine höchst ungleichmäßige Rezeption erfahren. Bei Weitem die größte Aufmerksamkeit ist dem »unum argumentum« seines Proslogion, also dem von Kant so genannten ontologischen Gottesbeweis (den Kant selbst allerdings auf Descartes zurückführt) zuteil geworden. Daneben hat die Versöhnungslehre von Cur deus homo einen ungeheuren, wenngleich höchst umstrittenen Einfluss auf die weitere theologische Diskussion ausgeübt – allerdings viel weniger aufgrund von Anselms revolutionärem methodischen Anspruch als wegen seiner theologischen Profilierung der Logik des Versöhnungsgeschehens. Daneben sind andere Bereiche seines Denkens weitaus weniger beachtet worden. Jedoch sind, gerade wenn man sie eingebettet in Anselms weitgehend praktizierte philosophisch-theologische Zugangsweise betrachtet, seine Schriften zur Willensfreiheit, zur Prädestination oder zur Wahrheitsfrage nicht weniger aufschlussreich und anschlussfähig, wie Beiträge von Winfried Löffler und den beiden Herausgebern Stephan Ernst und Thomas Franz deutlich machen.
Gleichzeitig zeigt sich immer wieder, dass Anselms ungewöhnliche Methode zu unterschiedlichsten, geradezu gegensätzlichen Interpretationen seines Denkens führt. Klaus von Stosch verdeutlicht in seinem instruktiven Beitrag, wie auf scheinbar paradoxe Weise Anselms Gotteslehre sowohl von Vertretern eines theologischen Rationalismus in der Tradition der Aufklärung als auch von Verfechtern der Wort-Gottes-Theologie in Anspruch genommen wurde. Bekanntestes Beispiel für Letzteres ist zweifellos die Anselminterpretation Karl Barths; diese ist in ihrer Zuspitzung exegetisch sicherlich unhaltbar, indiziert jedoch ein hermeneutisches Grundproblem, das sich aus Anselms Ansatz mit besonderer Klarheit ergibt. Wenn nämlich mit der Möglichkeit gerechnet wird, es gebe keine eindeutig bestimmbare Grenze zwischen philosophischer und theologischer Behandlung einer Frage, dann lässt sich daraus ein universaler Anspruch sowohl der einen wie der anderen Seite ableiten. Von daher lassen sich sowohl Hegels als auch Barths Faszination für den Bischof von Canterbury erklären, der so zum Kronzeugen für eine vor den scholastischen Synthesen des 13. Jh.s bestehende Alternative zu deren lange Zeit dominierender Verhältnisbestimmung der beiden Disziplinen wird.
Man tut dem Band sicherlich nicht Unrecht, wenn man ihn spezifisch als Zeugnis der gegenwärtigen katholischen Beschäftigung mit Anselm im deutschen Sprachraum charakterisiert. Insofern stellt sich die Frage, wie sich seine Autoren mit der zumindest dem Augenschein nach bestehenden Spannung auseinandersetzen, die zwischen Anselms Exposition des Verhältnisses von Glaube und Vernunft und der doch recht eindeutigen Festlegung des katholischen Lehramts auf das alternative, von Thomas von Aquin herkommende Modell einer Bereichsabgrenzung bei wechselseitiger Zuordnung beider zueinander besteht. Hinweise darauf, dass den Autoren diese Schwierigkeit bewusst ist, finden sich auch durchaus, aber eher am Rande; zum Thema gemacht werden sie kaum. Das ist bedauerlich, nicht zuletzt aus evangelischer Sicht, da sich doch hier potentiell ein Ansatzpunkt hätte finden lassen, um über eines der kontroversesten Themen der Theologie der letzten 200 Jahre ins Gespräch zu kommen, eben das Verhältnis von Glaube und Vernunft und damit zusammenhängend von Theologie und Philosophie.
Dass diese Frage in den Beiträgen des Bandes eher marginalisiert wird, mag zusammenhängen mit einer weiteren Beobachtung, die sich mehr oder weniger durchgehend machen lässt. Das ist die fast fraglose Akzeptanz der im Titel vorgegebenen univoken Verwendung von Rationalität und Glauben (bemerkenswerte Ausnahme ist die Notiz Jürgen Scherbs auf S. 97 f.). Hier bemerkt der Leser doch mit Erstaunen die weitgehende Abwesenheit eines durch Historisierung und philosophische Kritik erzeugten Problembewusstseins im Gebrauch solcher Universalien. Das geht so weit, dass im Beitrag von Gerhard Gäde Anselm zum Kronzeugen einer Religionstheologie gemacht wird, nach der den Vertretern von Judentum und Islam die mangelnde Vernünftigkeit ihrer Religion deutlich gemacht werden soll. Für die Schriften beider (also offenbar auch für das Alte Testament!) soll gelten: »Ihr Wort-Gottes-Charakter kommt über seine bloße Behauptung nicht hinaus.« (266) Denn der Offenbarungsbegriff sei in sich widersprüchlich, sofern er nicht inkarnatorisch gedacht sei. Jedoch zeigt ein solches apologetisches Argument, wenn es denn irgendetwas zeigt, vor allem eines: wie sehr die Vernunft der Theologie immer schon von christlichen Prämissen durchdrungen ist. In diesem Sinn sind auch Anselms Argumente durchgehend zirkulär; sie erschließen sich nur dem, der ihnen zuzustimmen bereit ist.
Aber woher kommt diese Bereitschaft? Immer wieder betont Anselm die Relevanz der Lebensführung für das rechte Denken, wie in Beiträgen von Mechthild Dreyer und vor allem in Joachim Söders faszinierender Analyse des wenig beachteten De grammatico herausgearbeitet wird. Hierbei handelt es sich natürlich um ein klassisches Motiv antiker Philosophie, das aber im Mund eines in eine sich zunehmend hierarchisch verfestigende Kirche eingebundenen mittelalterlichen Christen neuartige Nuancen erhält (dazu erhellend der historisch angelegte Beitrag von Thomas M. Krüger). Keine intellektuelle Erkenntnis ohne demütigen Gehorsam Gottes, aber dieser zeigt sich in praxi in der Unterwerfung unter die Glaubensautorität der Kirche und konkret des Bischofs von Rom (20 f.197–203). In diesem Rahmen findet der rationale Denker Anselm es selbstverständlich, den Ausschluss der (häretischen) Dialektiker von der Diskussion theologischer Themen zu fordern (22). Das ist die gerade auch in der Neuzeit immer wieder zu beobachtende Kehrseite des Glaubens an die Vernunft: Wer sich ihrer vermeintlich universalen Gültigkeit entzieht, verliert das Recht der Teilnahme am öffentlichen Diskurs! Anselm von Canterbury ist gerade in seiner Ambivalenz ein hochgradig aktueller Autor, und den Herausgebern und Autoren ist für einen anregenden Beitrag zur weiteren Diskussion seines Denkens zu danken.