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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1076-1077

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Ernst, Stephan

Titel/Untertitel:

Anselm von Canterbury.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2011. 176 S. 8° = Zugänge zum Denken des Mittelalters, 6. Kart. EUR 14,80. ISBN 978-3-402-15672-8.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Wie alle Büchlein dieser Reihe den Zugang zum Denken mittelalterlicher Theologen ermöglichen sollen, möchte auch »diese Einleitung in Leben und Werke des Anselm von Canterbury durch geeignete Hilfsmittel dem selbständigen Studium dienen«. Stephan Ernst erreicht dieses Ziel, auch wenn man hier und da das Schwergewicht der Darstellung anders setzen würde.
Anselm steht an einer Zeitenwende des Denkens. Es geht jetzt darum, »die Wahrheit des christlichen Glaubens zu erweisen«. Der Glaube wird nicht mehr einfach hingenommen, die Vernunft wird eingesetzt und mit den Argumenten der Autoritäten verbunden. Keiner hat das so konsequent getan wie Anselm. »Sola ratione« ist seine Losung. Sein ontologischer Gottesbeweis, seine Satisfaktionslehre und seine Ethik haben eine lange Wirkungsgeschichte und zu heftigen Diskussionen bis in die Gegenwart herausgefordert.
Zunächst gibt E. einen Überblick über Anselms Leben. Sein früher Wunsch, in ein Kloster einzutreten, verliert sich zunächst ebenso wie sein Lerneifer. Erst 1059 beginnt er, bei Lanfranc in Bec zu studieren. Hier lernt er die Dialektik kennen. Durch Anselm als Nachfolger Lanfrancs wird das Niveau der Schule gehoben. Hier entstehen auch seine ersten Schriften, das Monologion (1076) und das Proslogion (1077/8). Nach seiner Wahl zum Abt wendet er sich in weiteren Schriften der Kreatur zu, den Menschen und den Engeln (De veritate, De libertate arbitrii, De casu diaboli). Vor allem die Frage nach der Gerechtigkeit beschäftigt ihn. Nach dem Tode Lanfrancs wird er erneut sein Nachfolger, nun als Erzbischof von Canterbury. Er hofft als solcher, mehr Freiheiten für die Kirche in der Investiturfrage zu erreichen. Dies gelang ihm zunächst nicht; er ging 1097 ins Exil. In ihm beendete er seine Schriften Cur deus homo und De incarnatione Verbi. Auf dem Konzil von Bari verteidigte er 1098 das filioque. 1100 kehrte er nach England zurück, um 1103 erneut ins Exil zu gehen. In seinem Ringen um die Freiheit der Kirche wurde er von den anderen englischen Bischöfen kaum unterstützt. Die letzten Lebensjahre (1106–1109) verbrachte er erneut in Canterbury.
Ausführlicher widmet sich E. dem Denken Anselms, seiner Methode des sola ratione und der Suche nach rationes necessariae und der seinen Schriften zugrunde liegenden »Gesamtkonzeption einer alle Glaubensaussagen integrierenden Theologie«: Der Glaube sucht nach Einsicht. Daraus »entspringt das Bedürfnis, die Wahrheit des Geglaubten auch aus Gründen der Vernunft einzusehen«. Er ist davon überzeugt, nur so kommt es »zum wahrhaft angeeigneten und lebendigen Glauben des Menschen« (22). In Cur deus homo klammert er bewusst die Offenbarung in Jesus Christus aus. Dabei behält aber die Heilige Schrift ihre Autorität, nichts kann gegen sie Wahrheit sein, die die Vernunft aber erschließt. In der Auseinandersetzung mit Gaunilo argumentiert er rein philosophisch, rein rational. Er ist überzeugt davon, dass Einwände gegen den Glauben ihre Ursache in einem ungenauen Sprachgebrauch haben. Wegen seiner Methode wird Anselm gern als »Vater der Scholastik« bezeichnet. Auf der Grundlage der Patristik wird die Gesamtheit des christlichen Glaubensinhaltes in eine Gesamtsicht der Wirklichkeit eingeordnet und der Theologie so ein wissenschaftlicher Charakter verliehen. Freilich, Anselm bleibt dem monastischen Milieu verhaftet und schreibt keine Summe. Er ist doch mehr Wegbereiter der Scholastik.
Im 2. Kapitel beschreibt E. die Hauptschriften Anselms, angefangen bei De grammatico. Es folgen dann die genannten Schriften zur Gotteslehre, in denen er alle Einwände gegen die Glaubenslehre zu entkräften sucht. Je größer die Ähnlichkeit des Geschöpfs zum Schöpfer ist, desto näher steht es ihm. Letztlich hält er dann ein einziges Argument für Gottes Existenz und Wesen als ausreichend, dass eben Gott der ist, »über den Größeres nicht gedacht werden kann«. Leider widmet E. der Kontroverse mit Gaunilo nur drei Seiten (59–62). Gaunilos Einwände (dass auch fiktive Gegenstände im Verstand existieren können, dass der Schluss von dem »größer als alles« auf seine Existenz nicht stichhaltig ist und dass ein Nichtsein denkbar sei) sind doch berechtigt, die Debatte um sie ist nicht beendet. Auch die Verteidigung des »filioque« wird nur kurz abgehandelt, obwohl auch sie heute im ökumenischen Gespräch von Bedeutung ist.
In den anthropologisch-ethischen Schriften geht es Anselm be­sonders um den Begriff der Gerechtigkeit. Die Willensfreiheit sieht er als »das Vermögen, die Rechtheit um ihrer selbst willen zu wahren« (76). Bei der Frage nach der Erbsünde ist er davon überzeugt, dass sich das Wort originalis nur auf den Ursprung in der Person bezieht (88). Und zur Vorherbestimmung meint er, dass Gott etwas »als durch den freien Willen zukünftig vorherbestimmt«; »weder allein die Gnade noch allein der Wille« wirkt das Heil (94 f.). Selbst in den Schriften zur Erlösungslehre (vor allem Cur deus homo) geht es ihm darum aufzuzeigen, dass nur so der Mensch gerettet werden konnte, dass Gott selbst Mensch wurde und den Tod erleiden musste. Dabei nahm Christus freiwillig den Tod auf sich. Ohne ihn sei keine Rettung möglich. Das will er »so, als ob man von Christus nichts wüsste«, beweisen (99 f.). Hintergrund seiner Schrift über die Menschwerdung des Wortes ist Roscellins Bestreitung, dass allein der Sohn Mensch werden konnte. Die Trinitätslehre ist also das Thema. Anselm meint: »Dass mehrere Personen mit ein und demselben Menschen ein und dieselbe Person bilden, ist unmöglich und undenkbar.« (110)
Im 3. Kapitel geht E. der Rezeption und dem Einfluss zentraler Gedanken Anselms nach, d. h. dem unum argumentum in der Gotteslehre, der rectitudo propter se servata in der Freiheitslehre und der satisfactio in der Erlösungslehre. In der aristotelisch geprägten Scholastik wurde Anselms Beweisgang kritisiert, in der Neuzeit ihm eher zugestimmt. Sein Gedanke der Rechtheit weist auf Kant voraus. Seine Satisfaktionslehre wurde im Mittelalter als ein Modell neben andere gestellt, in der Neuzeit erwies es sich vielfach als prägend, wenn auch die liberale Theologie ihr gegenüber schwere Vorwürfe erhob.
In einem letzten Teil werden Textauszüge geboten aus dem Mo­nologion, dem Proslogion, aus De veritate und Cur deus homo. Man kann also das Geschriebene anhand von Texten überprüfen. Über die Auswahl zu streiten, hat wenig Sinn.
Anselms philosophisch-theologische Lehren sind bis heute im Gespräch. Deswegen ist ein solcher knapper Zugang zu seinem Denken nur zu begrüßen. Doch hätte es dem Rezensenten (und sicher nicht nur ihm) gefallen, wäre E. ausführlicher auf die Anselm-Gaunilo-Kontroverse eingegangen. Denn sie kann wohl in den Auseinandersetzungen mit dem immer aggressiver werdenden Atheismus unserer Tage durchaus hilfreich Argumente liefern. In ihr hat es sich Anselm sicher zu leicht gemacht.