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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1072-1073

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Beutel, Albrecht, u. Volker Leppin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion und Aufklärung.Studien zur neuzeitlichen »Umformung des Christlichen«.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2004. 272 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 14. Geb. EUR 38,00. ISBN 3-374-02182-4.

Rezensent:

Matthias Wolfes

Der dem renommierten Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Nowak (1942–2001) postum gewidmete Sammelband will einen Beitrag zur »theologischen Aufklärung über die Aufklärung« leisten. Bemerkenswert ist der Entstehungskontext, denn er ist ein Ergebnis der Arbeit des 2001 gegründeten Forums »Religion und Aufklärung«. Dieser Arbeitskreis will die in verschiedenen Disziplinen der Theologie und ihrer Nachbarfächer jeweils unterschiedlich weit gediehenen Initiativen zur Erforschung der Kirchen- und Theologiegeschichte der Aufklärungszeit miteinander verbinden. Der vorliegende Band präsentiert die wichtigsten Beiträge der ersten beiden Jahrestagungen. Weitere Fachkonferenzen (im Dezember 2010 bereits die zehnte) sind seither gefolgt, und auch ein zweiter Sammelband mit Tagungsbeiträgen liegt bereits vor.
Es handelt sich also um ein potentes Projekt, und in der Tat wird es vieler Energie bedürfen, um der bis heute nachwirkenden Marginalisierung der aufklärungstheologischen Tradition ein Ende zu bereiten. Auf der Grundlage der Leitthemen jener Tagungen – »Religion und Literatur in der Aufklärungszeit« und »Aufklärung als ›Umformung des Christlichen‹« – bieten die 15 Aufsätze einen ersten Prospekt der Unternehmung. Obwohl der an Emanuel Hirsch erinnernde Untertitel zunächst eine systematisch-theologische Schwerpunktsetzung nahelegt und die Mitarbeiter in ihrer überwiegenden Mehrzahl Theologen bzw. Theologiehistoriker sind, weist der Band insgesamt durchaus die von den Herausgebern einleitend geltend gemachte konfessionelle, theologische und allgemein wissenschaftliche Interdisziplinarität auf.
Die Beiträge sind nach drei Richtungen hin gruppiert. Unter dem Titel »Entwicklungslinien« erörtert Friederike Nüssel den Niederschlag, den die Umformung des Christlichen in den fun­-damentaltheologischen Darstellungen Hirschs, J. S. Semlers, Har­-nacks sowie Troeltschs zum »Wesen des Christentums« gefunden hat. Christopher Voigt widmet sich dem englischen Deismus in Deutschland und Thomas Fuchs dem durch Erweckung und Mission im späten 18. und frühen 19. Jh. betriebenen »antiaufklärerischen Kulturtransfer« als Ausdrucksform einer sich dem Aufklärungsimpuls widersetzenden Umformung christlicher Praxis.
Neun weitere Beiträge, zusammengestellt zu einer Gruppe »Personen«, bieten durchweg hochinteressante Einblicke in das vielgestaltige Gebäude von Frömmigkeit und Theologie des Aufklärungszeitalters. Andres Strassberger stellt eine satirische Predigt vor, verfasst von Luise Adelgunde Victoria Gottsched, der Gattin des Leipziger Literaturpapstes. Wird hier Aufklärung durch Satire betrieben, so geschieht dies bei Reimarus im Medium kompromissloser Kritik. Seinen Beitrag zur Populärtheologie der Aufklärung erörtert Christoph Bultmann. Dem bisher vernachlässigten Charakter der Aufklärung als einer praktischen Reformbewegung geht, mit Schwerpunktsetzung auf die Spätaufklärung oder die sogenannte Volksaufklärung, Thomas K. Kuhn in einem Beitrag über die Dorf-Utopien des Zürcher Pfarrers Johannes Tobler nach. Weitere Aufsätze sind Kants Religionsschrift (Jens Wolff), Herders Religionsphilosophie (Volker Leppin), der Einstellung Herders zu »Juden und Judentum« (Hans-Martin Kirn), dem katholischen Aufklärer Eulogius Schneider (Klaus Fitschen) sowie der Aufklärungskritik Tholucks (Angelika Dörfler-Dierken) gewidmet. Besonders hingewiesen sei auf den Aufsatz von Rolf Schäfer, Herausgeber der Neuedition von Schleiermachers Glaubenslehre in der Kritischen Gesamtausgabe, über Schleiermachers Rezeption des theologischen Rationalismus.
Ausgezeichnete Forschungsleistungen sind auch die drei Abhandlungen der dritten Sektion unter dem Titel »Milieus und Mentalitäten«. Bernhard Schneider entwickelt Überlegungen zur Rolle der katholisch-aufklärerischen Presse im frühen 19. Jh. Klaus Fitschen gibt einen Überblick über die Auswirkungen des aufklärerischen Mentalitätswandels für die theologische Ausdeutung und die praktische Gestaltung des Begräbnisses. Konrad Hammann schließlich skizziert in einem besonders lesenswerten Beitrag die Modifikationen und Entwicklungen, denen die im Protestantis­mus so intensiv gepflegte Literaturgattung der Leichenpredigt während der Aufklärungszeit unterlag.
In seiner Themen- und Materialfülle sowie der konzentrierten Solidität aller Einzelbeiträge eröffnet der Band aufschlussreiche Perspektiven für das Selbstverständnis des neuzeitlichen Christentums. Er stellt einen substantiellen Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Epoche der Aufklärung dar. Insofern kann er als weiterer erfreulicher Beleg dafür angesehen werden, dass auch in der Theologie die lange Zeit dominante ressentimentgeleitete Abwehrhaltung einer souveränen Offenheit gegenüber der Aufklärung gewichen ist und es nun zu einer ernsthaften Re­konstruktion und Beurteilung ihrer Leistungen und Problemfelder kommt.