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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1070-1072

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Rieske, Uwe [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Migration und Konfession. Konfessionelle Identitäten in der Flüchtlingsbewegung nach 1945.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2010. 361 S. m. Ktn. 8° = Die Lutherische Kirche – Geschichte und Gestalten, 27. Kart. EUR 49,95. ISBN 978-3-579-05782-8.

Rezensent:

Thomas Martin Schneider

Der von dem Bonner Kirchenhistoriker U. Rieske herausgegebene, in der Reihe des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes erschienene Band umfasst die Vorträge einer Tagung in Loccum im Herbst 2008. Thematisch geht es um einen der bedeutsamsten Komplexe der deutschen Kirchengeschichte im 20. Jh.: die kirchlich-konfessionellen Implikationen der »Eingliederung von etwa 12 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen aus deutschen Siedlungsgebieten in Ost- und Südosteuropa in die alliierten Besatzungszonen und in die spätere Bundesrepublik und die DDR« (7) sowie Österreich. Die seit etwa drei Jahrhunderten relativ stabile konfessionelle Landschaft geriet außerordentlich stark in Bewegung. Flüchtlinge und Vertriebene fürchteten vielfach nach dem Verlust ihrer Heimat auch den Verlust ihrer konfessionellen Identität und ihrer vertrauten Frömmigkeitspraxis. Dies galt freilich umgekehrt auch für viele Einheimische, die an ihren kirchlichen Gewohnheiten festhalten wollten und sich wegen Überfremdung sorgten.
Gleich mehrere der Beiträgerinnen und Beiträger – es handelt sich um evangelische Kirchenhistoriker, Archivare und Historiker – konstatieren das Fehlen von Spezialuntersuchungen; insofern versteht sich der Band auch als Anstoß für weitergehende Forschungen (vgl. aber die einschlägigen Arbeiten etwa von H. Ru­dolph und R. Bendel).
B. Parisius zeigt, dass die Konfession – die evangelische wie die katholische – ein wichtiger Grund für Sekundärwanderungen war: Weil bei der Verteilung der Flüchtlinge und Vertriebenen zunächst die Konfession weitgehend unberücksichtigt blieb, zogen viele, so­bald es ihnen möglich war, weiter (sehr instruktiv hierzu das Kartenmaterial 50–55); allerdings kamen weitere – u. a. wirtschaft­liche– Motive hinzu.
In einer Art Exkurs beschäftigt sich der frühere Präsident des VELKD-Kirchenamtes F.-O. Scharbau mit den lutherischen Vereinigungsbestrebungen 1933–1945. Für die Thematik ist das insoweit von Belang, als diese einerseits nach 1945 die Ausbildung eines konfessionell-lutherischen Bewusstseins verstärkten und ihm institutionelle Gestalt verliehen, es aber andererseits nicht gelang, in der evangelischen Kirche die Dominanz des Territorialprinzips durch das Konfessionsprinzip zu beschränken oder gar zu ersetzen: »Es gibt bei uns kein selbstverständliches Recht auf konfessionelle Selbstbestimmung.« (88)
Der frühere Leiter der EKU-Kirchenkanzlei W. Hüffmeier hält demgegenüber aus der Perspektive der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union »die konfessionelle Problematik« im Zusam­menhang der Thematik für »fast kaum mehr als eine Fußnote« (106). Er verweist darauf, dass »mit den Flüchtlingsströmen aus den deutschen Ostgebieten überwiegend Lutheraner auf Lutheraner trafen« (ebd.), wobei er allerdings die Vielfältigkeit des Luthertums in Deutschland betont und den VELKD-Lutheranern u. a. die preußischen Unionslutheraner gegenüberstellt. Zu Recht kritisiert Hüff­meier in der Titelformulierung des Bandes »den neuerdings vielgebrauchten Begriff der Migration« anstelle »des sonst ge­bräuchliche[n] Begriffspaars ›Flucht und Vertreibung‹« (96).
Zwei Beiträge beschäftigen sich mit der Situation in Schleswig-Holstein. M. J. Wetzel zeigt, wie nach anfänglichen Schwierigkeiten nicht nur die Integration der Flüchtlinge in die Kirchengemeinden gelang, sondern wie das Gemeindeleben auch durch deren Kirchlichkeit sowie durch die spätere Übernahme gottesdienstlicher Elemente bereichert wurde. I. Mager wendet sich den gemeinsamen Schulungskursen einheimischer und vertriebener Pfarrer im Pas­toralkolleg Preetz 1946–50 auf betont lutherischer Bekenntnisgrundlage zu. Sie werden als »eine Vertrauen stiftende, Ost- und Westpfarrer geistlich zusammenschließende Erfahrung« qualifiziert (134). Die Teilnehmer seien »mit reinem lutherischen Schwarzbrot« gespeist worden (138).
E. Kreutz zeichnet abrissartig die Geschichte und kirchliche Entwicklung der »Vertriebenenstadt« Espelkamp nach. Leider fehlen Quellenangaben.
Der Beitrag von H. Baier ist insbesondere dem immensen Wandel in den Konfessionsstrukturen in Bayern gewidmet. Dauerhaft entstanden 139 neue evangelische Gemeinden, zum Teil in bis dahin rein katholischen Gegenden wie in Niederbayern und der Oberpfalz.
Die evangelische Kirche in Österreich hat, wie R. Leeb zeigt, von den Flüchtlingen und Vertriebenen enorm profitiert, auch wenn sich an den grundsätzlichen konfessionellen Verhältnissen nichts änderte. Die Zahl der Gemeinden stieg von 126 (1938) auf 170 (1961). Insbesondere mit den Siebenbürgern und Donauschwaben sei »neben die alten Toleranzgemeinden eine zweite Säule alter volkskirchlich geprägter evangelischer Tradition« getreten (199 f.).
Spannend sind die umfangreichen Beiträge von H. Otte und J. Kampmann zu Nordwestdeutschland und Westfalen. Aus Sorge um die Bewahrung der eigenen Identität verwehrten reformierte Gemeinden den lutherischen Flüchtlingen und Vertriebenen eigene Gottesdienste und die Gründung eigener Gemeinden. In den einparochialen Gemeinden in Ostfriesland argumentierte man mit der »ostfriesischen Union« (obwohl die reformierte Landeskirche umgekehrt ihre Zuständigkeit über das gesamte Territorium des Landesteils Hannover ausdehnte), später auch mit einem be­stimmten, einseitigen Ökumeneverständnis. Mit der Autorität des alten Kirchenkämpfers polemisierte in Westfalen W. Niesel ge­gen die angeblich katholisierenden Tendenzen der Lutheraner: »Sind Kerzen heilsnotwendig?« – »Zur Messe kehren wir nicht zu­rück!« (282 f.) Insgesamt stellt Kampmann der westfälischen Kirchenleitung im Hinblick auf die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen kein gutes Zeugnis aus: »Es bleibt die … bittere Erkenntnis, dass Christenleute gern Christenleute für sich, Chris­tenleute im eigenen Milieu bleiben. Fremdes und Fremde stören eher, als dass sie als Chance erkannt, als Bereicherung erlebt werden.« (296)
Die altlutherischen Gemeinden profitierten teilweise, wie Ch. Schorling zeigt, von dem starren Territorialprinzip der Landeskirchen. In Pforzheim etwa schlossen sich auch viele landeskirchliche Flüchtlinge und Vertriebene der (alt)lutherischen Gemeinde und nicht der unierten landeskirchlichen Gemeinde an (vgl. die Statis­tik; 300). Nach W. Klän war der verschärfte Konkurrenzkampf mit den Landeskirchen »der entscheidende Katalysator für die Annäherung zwischen den selbständigen evangelisch-lutherischen Kirchen«, die schließlich 1972 zur Gründung der SELK führte (322).
M. Hirschfeld wendet sich den vertriebenen Katholiken im evan­gelischen Niedersachsen zu. Ein positiv hervorzuhebender neuer Ansatz ist der Versuch, zunächst die konfessionelle Identität und religiöse Mentalität der Vertriebenen in der alten Heimat zu erfassen (328 f.). Die Herausforderungen in der neuen Heimat in der Diaspora führten zu kreativen Innovationen, wie z. B. »Kapellenwagenmissionen« mit umgebauten Omnibussen »mit ausklappbare[m] Außenaltar« (334). Der 1952 gefasste Plan, »entlang des Eisernen Vorhangs eine Reihe von Kirchen und Klöstern zu errichten«, um in die »heidnischen Regionen im Schatten des gottlosen Kommunismus« vorzustoßen, wurde dagegen von der protestantischen Bevölkerungsmehrheit als übergriffiger Missionierungsversuch empfunden; nur zwei Projekte wurden verwirklicht (335).
Ein wichtiges Buch zu einem wichtigen, immer noch vernachlässigten Thema.