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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1068-1070

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Mathewes, Charles

Titel/Untertitel:

The Republic of Grace. Augustinian Thoughts for Dark Times.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2010. VII, 271 S. gr.8°. Kart. US$ 20,00. ISBN 978-0-8028-6508-3.

Rezensent:

Josef Lössl

Ein schlammgrauer Schutzumschlag mit einem Hochglanz-Schwarzweiß-Photo vom »Ground Zero« unmittelbar nach dem Anschlag vom 11. September 2001 setzt dieses Buch schon rein äußerlich in Szene. Er soll uns in Stimmung bringen für »augus­tinische Gedanken in dunklen Zeiten«. Der Vf. will Hoffnung vermitteln in diesen Zeiten, »transzendente Hoffnung« (22). Die Ge­sellschaftsform, in der diese Vermittlung stattfinden soll, be­zeichnet er als »Republik der Gnade«. Er meint damit (generell) »die Kirchen« (30). Seine Perspektive beschränkt sich auf die USA. Das Thema dürfte sich jedoch als von allgemeinem Interesse erweisen.
Das Buch zerfällt in zwei Teile. Ein erster Teil, einschließlich der Einleitung, analysiert in drei Abschnitten die Zeitsituation. Gewissermaßen im Mittelpunkt dieser Analyse steht das Konzept des »War on Terror«, des »Krieges gegen den Terrorismus«, das nicht nur die Außen-, sondern auch die Innenpolitik der US-Regierungen von 2001 bis 2008 dominierte und dadurch gewisse Tendenzen in der US-amerikanischen Gesellschaft reflektierte und amplifizierte, nicht zuletzt eine Tendenz zu politischer und religiöser Radikalisierung. Das Buch vermittelt eindrucksvoll die negative Grundstimmung, die dadurch erzeugt wurde und das Land in ge­wisser Hinsicht auf den K. O.-Schlag der Banken- und Wirtschaftskrise gegen Ende des Jahrzehnts vorbereitete, auf die der Vf. interessanterweise kaum eingeht.
Die drei Abschnitte des ersten Teils konzentrieren sich 1. auf den Anschlag vom 11. September 2001 (»9/11«) und die Folgen, 2. auf den Fall des eisernen Vorhangs im November 1989 (»11/9«) und 3. auf die Herausforderungen eines globalisierten Kapitalismus. Der Vf. bezeichnet Letzteren, dem Politologen Walter Russell Mead folgend, als »chiliastisch« (»millennial«). Er sieht in ihm nicht nur ein säkulares, sondern auch ein (zumindest quasi) religiöses Phänomen, da er nicht nur die äußere Umwelt des Menschen, sondern den Menschen selbst, seine mentale und emotionale Struktur, umforme und so eine neue, ganz andere, endzeitlich perfekte Welt in die Zukunft projiziere, ähnlich wie die Chiliasmen traditioneller Prägung (115). Jedem dieser drei Komplexe wird antithetisch eine theologische Tugend zugeordnet: dem Terroranschlag vom 11. September 2001 die Hoffnung, den politischen Umwälzungen vom November 1989 der Glaube und dem aus dem globalen Kapitalismus erwachsenden Nihilismus die Liebe.
Der zweite Teil des Buches, ebenfalls in drei Teile gegliedert, rollt diese drei Themenbereiche dann gewissermaßen von hinten her, in einer Art Palindromie, wieder auf; und hier kommen nun auch die augustinischen Motive verstärkt zum Einsatz: Der Herausforderung der Liebe in einer Welt des globalen Kapitalismus, so der Vf., entspricht der Ruf zu politischer Verantwortung. Darunter versteht er, Augustin folgend, vor allem Regierungsverantwortung (149); und er zitiert in diesem Zusammenhang etwa Augustins Gedanken zu auctoritas und officium. Seine Betrachtungen zum Unbehagen der Moderne am Konzept Autorität wirken dann aber etwas altbacken. Ließen sich hier denn keine Verbindungslinien ziehen zur gegenwärtigen Impotenz politischer Machthaber gegenüber den Mächten des Kapitalismus? Würde eine von Liebe getragene politische Verantwortung nicht gerade darauf hinarbeiten, diese Situation zu transzendieren? Würden politisch verantwortliche Bürger nicht gerade auch Illegitimität und Verurteilung seitens der Autoritäten in Kauf nehmen, um dieses Ziel zu verfolgen? Der Vf. geht diesen Fragen nicht nach. Seine Denkrichtung ist eher umgekehrt. Sein Interesse gilt der Art und Weise, wie Gläubige bzw. Religionsangehörige im Kontext von modernen Gesellschaften »Religionspolitik« betreiben können.
Genau dies ist das Thema seines nächsten Abschnitts: Die Um­wälzungen von 1989 seien unter anderem auch von Gläubigen vorangetrieben worden, ebenso die Entwicklungen um den 11. September 2001. Gläubige seien auch Bürger und zu politischem Handeln berufen. Bürger hätten sich andererseits der Wirklichkeit zu stellen, dass ihre Mitbürger gläubig und unter Umständen andersgläubig seien. Hier helfe, so der Vf., der augustinische Begriff des »Bekenntnisses« weiter, das die jeweils eigene religiöse Identität definiere und somit ein politisches und gesellschaftliches Leben miteinander ermögliche. Der Vf. betrachtet damit die altbekannten religionspolitischen und -gesellschaftlichen Ideen Augustins einmal von einer etwas anderen als der oft üblichen Perspektive; denn obwohl Augustins Rhetorik von religiöser Intoleranz geprägt ist und Gewalt gegen Andersgläubige rechtfertigt, entstand sie doch in einem Kontext der »Toleranz« in dem Sinne, dass Augustin und seine Zeitgenossen sich letztlich in ihrer religiösen Pluralität zu »ertragen« hatten, ebenso wie auch den modernen Adressaten des Buches heute nichts anderes übrigbleibt, als sich in diesem Sinne zu »tolerieren«, eben in Anerkennung der Andersheit der anderen. Toleranz im heute üblichen, modernen, säkular-liberalen Sinne ist das freilich nicht.
Im dritten und letzten Abschnitt des zweiten Teils setzt der Vf. Hoffnung und politisches Engagement miteinander in Beziehung – gegen den politischen Chiliasmus und für das Leben in Gesellschaften, in denen Menschen sich ihrer Wünsche und Sehnsüchte bewusst werden und sie in Gemeinschaft verwirklichen können. Geistige (einschließlich religiöse) Bildung und ein Hineinwachsen in kirchliche und geistige Lebensformen, wie sie etwa Augustins »Bekenntnisse« reflektieren, werden hier beispielhaft zitiert und ganz am Ende wird die Liturgie der Eucharistie als eine Weise kommunaler Einübung in diese politische Haltung vorgestellt. Der Vf. holt hier bis zu einem gewissen Grade nach, was er oben im Abschnitt über die Liebe ausließ, beschränkt sich aber bezeichnenderweise auf die Kirche als den Raum gesellschaftlicher Verwirklichung christlichen Lebens; denn die weitere Gesellschaft ist ja eher geprägt vom Mit- bzw. Nebeneinander der vielen, sich voneinander abgrenzenden Religionen und Konfessionen.
Das Buch schließt optimistisch mit einem kurzen Verweis auf die praktische Umsetzbarkeit der angerissenen Theorien und einem eschatologischen Ausblick. Anstelle einer Bibliographie finden sich im Anhang ausführliche Literaturangaben zu den jeweiligen Kapiteln sowie ein kurzes Namen- und Sachregister.
Insgesamt ist die praktisch-theologische Anwendung augustinischen Denkens auf Aspekte der (US-amerikanischen) Gegenwartssituation interessant und anregend. Die Kombination hat freilich auch etwas Deprimierendes an sich. Die Absicht des Vf.s ist es offenbar, die Dunkelheit der Zeitsituation mit Weisheit aus dem Denken Augustins aufzuhellen. Dabei lässt er außer Acht, dass gewisse Dunkelheiten im Denken Augustins die Dunkelheit der gegenwärtigen Situation verstärken können, ja in gewisser Hinsicht sogar ursächlich für sie sind. Zentrales Beispiel ist die Rhetorik des »War on Terror«. Der Vf. übernimmt sie kritiklos. Sie passt hervorragend zu seiner Interpretation der Lehre vom »gerechten Krieg«. Im Anschluss an Augustin hält er die Vorstellung, dass Krieg notwendig sei (»necessity of war«), für »edler, gnadenhafter, humaner« als die Vorstellung, man hätte eine Wahl, Krieg zu führen oder nicht (»war of choice«; 172). Dass solche Denkstrategien gut in eine Zeit passen, in der Regierung und Gesellschaft mit enormen Entscheidungen leben müssen, die hunderttausende Menschenleben kosten, wofür Vertreter demokratisch gewählter Regierungen und letztlich auch deren Wähler die Verantwortung tragen, liegt nahe. Vielleicht möchte der Vf. sein Buch auch so verstanden wissen, dass »augustinische Gedanken« besonders gut geeignet sind für eine Zeit und eine Gesellschaft, die sich nach begangenem Sündenfall aus dem Paradies vertrieben wähnt. Die »Republik der Gnade«, die den Rückweg aus diesem Jammertal antritt, wäre damit nicht zuletzt auch eine »Republik der (gerechtfertigten) Sünder«.