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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1066-1068

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Masuch, Christina

Titel/Untertitel:

Doppelstaat DDR. Eine Untersuchung an­hand der Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR 1945–1990.

Verlag:

Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2009. XV, 413 S. 8° = Berliner Juristische Universitätsschriften. Grundlagen des Rechts, 48. Kart. EUR 51,00. ISBN 978-3-8305-1723-8.

Rezensent:

Gerhard Lindemann

Bei dieser Studie handelt es sich um die Drucklegung einer von dem Berliner Rechtshistoriker Rainer Schröder betreuten juristischen Dissertation. Ihre Autorin Christina Masuch setzt sich das Ziel, die rechtliche Situation der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in der DDR im Kontext der Religions- bzw. Kirchenpolitik des SED-Staates und seiner Behandlung Andersdenkender und von Minderheiten nachzuzeichnen. Im Fokus steht dabei vor allem die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Überdies beschäftigt M. die Frage, ob es sich bei der DDR um einen Doppelstaat im Sinne Ernst Fraenkels handelte.
An die Einleitung schließen sich Überblicke über die Geschichte, Organisationsstruktur und das Selbstverständnis der Zeugen Jehovas und über die Kirchen- und Religionspolitik der SED an. Letzterer ist recht knapp gehalten, stützt sich im Wesentlichen auf einzelne, zum Teil recht isoliert behandelte Dokumente aus dem SED-Parteiarchiv und macht die Unterschiede zwischen den einzelnen zeitlichen Phasen der Kirchenpolitik nicht recht deutlich.
Der Hauptteil des Bandes zeichnet den Rechtsalltag der Zeugen Jehovas nach. In der unmittelbaren Besatzungszeit nach Kriegsende wuchs die Mitgliederzahl der Religionsgesellschaft deutlich an. Sie wurde nach der Eintragung in das Vereinsregister 1945 zwar schließlich 1947 auch offiziell durch die sowjetische Militärregierung anerkannt, doch kam es immer wieder auf lokaler Ebene zu Auseinandersetzungen wegen der Predigt- und Werbetätigkeit der Gruppierung und zu Versammlungs- und Tätigkeitsverboten. 1948 verschärfte sich der Konflikt aufgrund der grundsätzlichen Staatsferne der Zeugen Jehovas, die sich vor allem in der Weigerung ausdrückte, das »Volksbegehren für Einheit und gerechten Frieden« zu unterzeichnen. Erstmals kam nun auch die organisatorische Verbindung der Vereinigung mit ihrer Zentrale in Brooklyn zur Sprache. Es folgten eine intensivere Überwachung der Gruppierung sowie Störungen und Auflösungen von Versammlungen. Der Konflikt erreichte mit dem Bezirkskongress in Berlin (West) im Juli 1949 seinen vorläufigen Höhepunkt. Das SED-Politbüro verabschiedete am 13. September 1949 einen detaillierten, nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Maßnahmenkatalog, der insbesondere eine flächendeckende Beobachtung der Zeugen Jehovas vorsah. Ein Propagandaartikel im SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« unterstellte der Glaubensgemeinschaft eine politische Abhängigkeit von den USA. Nach der Nichtunterzeichnung des Stockholmer Appells zur Ächtung der Atombombe 1950 kam es zunächst zu einzelnen Entlassungen von Zeugen Jehovas aus Volkseigenen Betrieben. In der staatlich gelenkten Presse begann eine Kampagne mit dem Vorwurf kriegstreiberischer Spionage im Auftrag der USA. Am 30. August 1950 unternahm das im gleichen Jahr gegründete MfS ohne das Vorliegen von Haftbefehlen oder Durchsuchungsbeschlüssen eine konzertierte Verhaftungsaktion von ca. 400 Funktionsträgern der Religionsgemeinschaft. Am Tag darauf erfolgte bar jeder rechtlichen Grundlage die Streichung aus dem Verzeichnis der zugelassenen Religionsgemeinschaften. Anfang Oktober 1950 fand ein Schauprozess gegen 13 Zeugen Jehovas vor dem Obersten Gericht der DDR statt, der, losgelöst vom geltenden Strafrecht, mit hohen Zuchthausstrafen endete und für weitere Strafverfahren als Muster diente. Das MfS konstruierte schließlich einen Zusammenhang zwischen der apokalyptischen Naherwartung der Religionsgemeinschaft und ihrer Unterstützung des angeblichen Kriegskurses der USA.
1956 musste der Geheimdienst eine weitgehende Wirkungslosigkeit des repressiven Kurses einräumen. Demnach war die Aktivität der Gruppierung, die ihre Tätigkeit in den Untergrund verlegt hatte, nicht zurückgegangen, auch sei von den Verurteilungen keine Abschreckung auf weiterhin aktive Zeugen ausgegangen. Selbstkritisch stellte man fest, dass, abgesehen von Einzelfällen, eine Spionagetätigkeit bislang nicht nachgewiesen werden konnte. In der Folge ging man zu einer Politik der Überwachung und des Versuchs einer »Zersetzung« der Organisation über. Dazu gehörten die Versendung von Briefen angeblicher ehemaliger Zeugen an dem Geheimdienst bekannte Mitglieder der Zeugen Jehovas, die Publikation einer konspirativ von MfS-Mitarbeitern verfassten Do­kumentation im Urania-Verlag 1970 sowie die gezielte Zerschlagung der Leitungsebene mit Verhaftungen und Prozessen 1965/66.
Vor allem aus außenpolitischer Rücksichtnahme verzichtete das MfS in den 1970er nahezu völlig auf offensichtlich repressive Maßnahmen. Man konzentrierte sich nun auf die westlichen Ku­rierverbindungen der Glaubensgemeinschaft. Eine wichtige Rolle bei der weiter intensivierten Zersetzungstätigkeit spielte die vom Staatssekretär für Kirchenfragen und vom MfS finanzierte Zeitschrift »Christliche Verantwortung«, die aufgrund ihrer Dokumentationstätigkeit über die Zeugen Jehovas auch bei den mit Weltanschauungsfragen bzw. Konfessionskunde befassten Stellen der evangelischen Kirchen in Ost- und Westdeutschland auf Anerkennung stieß.
Im letzten Jahrzehnt der DDR gab es im Vorgehen gegen die Zeugen Jehovas keine großen Veränderungen. Einerseits verschärfte sich Mitte der 1980er Jahre der Ton, was auf die deutlicher werdende Krise der DDR zurückgeführt wird (283) – zudem gab es eine Reihe von Ordnungsstrafen, auf welche die Betroffenen zum Teil mit Eingaben reagierten, auf der anderen Seite bescheinigte das MfS Ende 1988 der Gemeinschaft, nicht gesellschafts- oder staatsgefährdend zu sein.
M. gelangt zu dem gut nachvollziehbaren Schluss, dass die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der DDR keineswegs »rechtlich abgesichert war«, sondern aufgrund einer politisierten Rechtsanwendung, dominiert von den ideologischen Vorgaben des Marxismus-Leninismus, sich losgelöst vom kodifizierten Recht vollzog – der Maßnahmenstaat war hier dem Normenstaat vorgeordnet, entscheidend war der Primat der Politik. Das dürfte im Übrigen in wesentlichen Linien auch für die gesamte Kirchenpolitik des SED-Staates gelten. Hier wäre, auch unter Bezugnahme auf den hinführenden Teil, eine Zu- und Einordnung sinnvoll.
Die Darstellung beruht auf einer intensiven Auswertung archivalischer Quellen. Die Methode des Referats führt bisweilen zu einer zu sehr textimmanenten Präsentation des Materials, so ist bei der Wiedergabe eines Berichtes aus dem »Kirchlichen Nachrichtendienst« der Zeugen Jehovas von einem zwischenzeitlichen Verbot der Religionsgemeinschaft in Polen die Rede (85), ohne dass hier nähere Erläuterungen oder zumindest ein Literaturverweis erfolgen. Zum Teil wird auch die Sprache des Geheimdienstes übernommen, ohne dies kenntlich zu machen (»der L.« [187]; »dieser Person« [323]). Schließlich wäre mancherorts ein kritischerer Umgang mit den Quellen geboten. M. konstatiert für die 1950er Jahre eine erfolgreiche Einbeziehung evangelischer Pfarrer in die Bekämpfung der Zeugen Jehovas (153) und berücksichtigt nicht, dass es sich hier lediglich um einen Maßnahmeplan des MfS handelte. Dem widerspricht im Übrigen auch die im kirchenpolitischen Überblick gemachte Feststellung, es habe nichts darauf hingedeutet, »dass sich Vertreter der Kirchen an der Verfolgungspraxis der DDR-Organe beteiligten« (38).