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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1060-1064

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Büchele, Markus

Titel/Untertitel:

Autorität und Ohnmacht. Der Nordirlandkonflikt und die katholische Kirche.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2009. 511 S. gr.8° = Historische Mitteilungen im Auftrage der Ranke-Gesellschaft, Beihefte 77. Kart. EUR 80,00. ISBN 978-3-515-09421-4.

Rezensent:

Michael Richter

Die Arbeit behandelt ein Vierteljahrhundert (1968–1994) der düs­tersten Geschichte Westeuropas in der Nachkriegszeit. Der Titel legt das Schwergewicht auf die katholische Kirche, deren Verhalten freilich nur dann angemessen zu vermitteln ist, wenn alle anderen Konfliktparteien mit berücksichtigt werden, was in Grenzen auch tatsächlich geschieht.
Oft neigen die sprachfreudigen Iren zum Understatement. So wie sie den 2. Weltkrieg als emergency bezeichnen, nennen sie das Vierteljahrhundert Bürgerkrieg in Nordirland the troubles. Diese forderten insgesamt 3722 Tote (486), wobei es hilfreich gewesen wäre, nach Katholiken und Protestanten sowie Zivilisten und Soldaten zu differenzieren. Das Buch ist in neun Kapitel gegliedert, wobei der Hauptteil die Kapitel 2 bis 7 umfasst. Der Text ist flüssig geschrieben; er ist zudem mit ausführlichen Zitaten hinreichend erläutert. Neben den üblichen Monographien werden vor allem Zeitungen sowie Interviews mit den Beteiligten (489) benutzt.
Kapitel 2, 23–78, Die katholische Kirche, Religion und Politik in Irland, ist der Vorgeschichte gewidmet. In der ersten Zeile findet sich dabei St. Patrick (ab 432), am Schluss (78) Papst Johannes XXIII. und John F. Kennedy, deren Porträts bis heute in vielen irischen Häusern zu sehen sind. Nach vier Seiten sind wir bei Heinrich VIII. und seiner Trennung von der katholischen Kirche, zehn Seiten weiter bei der Act of Union 1801 (Hungersnot nach Kartoffelpest 1845–1849 [39]) und dann schon im 20. Jh. mit dem Osteraufstand 1916 und der folgenden Teilung der Insel (47 ff.). Da der Klerus den Osteraufstand nicht kritisieren konnte, war nun der Anfang gelegt für ein neues Verhältnis zwischen katholischer Kirche und den politischen Parteien (51). Der neuen Verfassung der Republik von 1937, die die Grundlagen der irischen Gesellschaft bis heute bildet, wird zu wenig Platz eingeräumt (55 f.). Der daran führend beteiligte Erzbischof von Dublin, John Charles McQuaid, war bis zu seinem Tod 1973 so einflussreich, dass es eines erzbischöflichen Dispenses bedurfte, um Katholiken den Zugang zum Trinity College zu ermöglichen. Es wird kurz angedeutet, dass »die irische Amtskirche weder vor noch während des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) reformfreudig war« (58). Die formelle Aufhebung des katho­-lischen Index verbotener Bücher durch Papst Paul VI. im Jahr 1966 war ein Schritt von starker symbolischer Bedeutung (64). Der Diskriminierung der Katholiken in Nordirland, die die Grundlage der troubles bildete, werden gerade einmal zehn Seiten gewidmet. In den folgenden Ka­piteln spielt verständlicherweise der Klerus von Nordirland eine führende Rolle, wobei die Tatsache, dass der Sitz des Primas der Kirche ganz Irlands in Armagh (NI) liegt, grenzüberschreitende Aktivitäten beinahe selbstverständlich werden lässt. Im Hauptteil der Arbeit spielt die Dubliner Regierung nur eine marginale Rolle.
In Kapitel 3, 79–144, Vom Kampf um Bürgerrechte in Richtung Bürgerkrieg, stolpert der Vf. erstmalig über den symbolbeladenen Doppelnamen der Stadt Derry/Londonderry (82), den er nicht er­klärt und der im Folgenden unsystematisch verwendet wird (Derry war eine Klostergründung Colum Cilles im 6. Jh., Londonderry eine Namensgebung der Kolonialherren, die bis heute nur von Protestanten [und natürlich von London] verwendet wird). Alles be­gann mit einer Bewegung der Katholiken, ihre systematische Diskriminierung durch die protestantisch geprägte Regierung Nordirlands anzuprangern und zu verändern. 1968 kam es auf Initiative des Priesters und späteren Bischofs von Derry, Edward Daly, dazu, dass dem Verbot eines Protestes durch eine kirchliche Mahnwache die Stirn geboten wurde. – »Viele Katholiken und Protestanten be­traten bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal das Gotteshaus der anderen Konfession.« (83) – Die Notwendigkeit von Reformen wurde von der Britischen Regierung zwar gesehen, aber nur halbherzig in Angriff genommen.
So war der katholische Klerus nicht bereit, über eine Reform des Schulwesens zu verhandeln, das katholische Schulsystem blieb also in den Händen der Kirchen (87). Dennoch nahm der Klerus seine politische und gesellschaftliche Rolle bei der katholischen Bevölkerung nicht entschieden wahr. Von Seiten der Laien wurde der Klerus weitgehend als Erfüllungsgehilfe von London und Stormont gesehen. »Die moralische Problemstellung, wann Selbstverteidigung gerechtfertigt werden könnte, wurde … vom Belfaster Klerus nicht thematisiert.« (117) Daher war es in der Sache fragwürdig, wenn die Bischöfe im Namen der gesamten katholischen Gemeinschaft zu sprechen behaupteten (122). Im Jahr 1971 kam es im Vorfeld der protestantischen Paraden zum 12. Juli zu vereinzelten Kontakten zwischen Protestanten und der Armeeführung. Die Armee sah sich außerstande, zur Vermittlung neigenden Priestern besonderen Schutz zu gewähren. Auf die Frage des Pries­ters: »Can I tell my men that they will not be gassed?« lautete die Antwort: »No! They are better gassed than shot.« (126) Stattdessen wurde eine Ausgangssperre verhängt. Damit war die angebliche Unparteilichkeit der britischen Armee nicht länger vermittelbar. Im August 1971 kam es dann zur Internierung von Katholiken, d. h. zu Festsetzungen ohne gerichtliche Verhandlungen der angeb­lichen Verhaftungsgründe (131). Der irische Primas Kardinal Wil­-liam Conway wurde von dieser Maßnahme überrascht (137 und besonders Anm. 252). Dass die dort Festgesetzten systematic ill-treatment ausgesetzt waren, wurde selbst von der englischen Hierarchie zugegeben und verurteilt (135). Bis 1975 wurden über 2000 Personen interniert und menschenunwürdig behandelt (159. 160, Anm. 69 u. 171 f.). Es überrascht nicht, dass die Situation danach weiter eskalierte.
Kapitel 4, 145–241, Operationen der Sicherheitskräfte und die Es­kalation der militärischen Gewalt, ist von zentraler Bedeutung für den weiteren Verlauf der Arbeit. Es behandelt im Wesentlichen die Jahre 1972 bis 1974, wobei es eine in keiner Beziehung verständliche Exkursion in die 80er Jahre gibt (208–220). Das Schlüsselereignis war der 30. Januar 1972, der als Bloody Sunday in die Geschichte eingehen sollte. Eine nicht genehmigte und im Ganzen friedlich verlaufende Demonstration in Derry wurde schließlich durch das Eingreifen der Streitkräfte in ein Blutbad verwandelt, dem 13 Iren zum Opfer fielen (147). Zwei Monate später stellte eine englische Untersuchungskommission unter Lord Widgery den britischen Streitkräften einen Persilschein aus (149) mit der Behauptung, sie hätten sich nur gegen Angriffe seitens der Demonstranten gewehrt. Das Ergebnis dieser Kommission wurde erst 40 Jahre später erneut untersucht und auf den Kopf gestellt. Danach waren alle 13 Toten un­schuldige Opfer der Aggression der Streitkräfte. Gerichtlich zur Rechenschaft gezogen wurde kein Mitglied der Streitkräfte, dennoch wurde das Ergebnis dieser letzten Untersuchung in Nordirland mit größter Genugtuung begrüßt. Gleichwohl wird diesem Aspekt der nordirischen Geschichte in diesem Abschnitt schwerlich Gerechtigkeit zuteil. Er erklärt die folgende fatale Eskalation der Ereignisse. Diese fallen in eine Zeit, in der das Vereinigte Königreich und die Republik Irland gleichzeitig Mitglieder der EWG wurden. Die europäische Gemeinschaft hat zur Lösung des Nordirlandproblems so gut wie nichts beigetragen, was in dieser Untersuchung kein Thema ist. Das wichtigste Ergebnis des Bloody Sunday war die Ablösung der Regierung Brian Faulkners und die Unterstellung der Verwaltung der Teilprovinz unter die direkte Herrschaft von London unter Leitung von William Whitelaw, einem engen Vertrauten von Edward Heath. Unter Heath wurde sogar in Erwägung gezogen, die Grenzen Nordirlands neu zu ziehen und die katholische Bevölkerung in die Republik zu entlassen. Diese sensationellen Überlegungen vom 3. Februar 1972 sind der breiten Öffentlichkeit erst seit 2008 zugänglich gemacht worden und bis heute wenig bekannt (vgl. 151, Anm. 28).
Gewissermaßen als Antwort auf den Bloody Sunday verübte die Irish Republican Army (IRA) am 22. Februar 1972 ein Attentat auf die in England gelegene Kaserne Aldershot, aus der die Fallschirmspringer aus Nordirland stammten (186). Es gab sieben Tote – und für die englische Regierung sozusagen ein nachträgliches Feigenblatt für die Gewalt der britischen Truppen in Derry. In der Folgezeit kam es vermehrt zu Exekutionen von unschuldigen Katholiken durch protestantische Paramilitärs, die von der katholischen Hierarchie aufs Heftigste kritisiert wurden, ohne dass die britische Regierung nachhaltig reagierte (226 f.). Der Höhepunkt war zweifellos der Bombenterror in Dublin und Monaghan am 17. Mai 1974 mit 33 Toten und 258 Verletzten durch die UVF (229), das einzige Eingreifen der protestantischen Paramilitärs in der Republik. Gleichzeitig gab es eine Reform der Parteienlandschaft in Nordirland, den kurzen Versuch einer gemeinsamen Regierung der Gegner und schließlich wieder die Direktherrschaft aus London.
Kapitel 5, 243–346, Militärisches, politisches und kirchenpolitisches Patt, ist nicht ohne Grund das längste Kapitel des gesamten Buches. Am Anfang steht die Behandlung der Castlereigh Files 1978, in denen die Behandlung der Gefangenen durch Personal und Polizei behandelt wird. Zwei von 100 Fällen werden ausführlich dokumentiert (246–254), bei denen der Begriff ›Folter‹, obwohl vom Vf. nicht be-nutzt, angebracht ist. Am Deutlichsten äußerte sich dazu Bischof Edward Daly. Die Veröffentlichung rief auch Amnesty International auf den Plan, was die Situation etwas verbesserte (260 f.). Dann aber kam es in England zur Verhaftung der unschuldigen Guilford Four und Birmingham Six, die erst nach fast 20 Jahren Streit rehabilitiert wurden. Inzwischen war 1977 mit Tomas O’ Fiaich ein neuer Erzbischof von Armagh (seit 1979 Kardinal) in die Szene getreten, der viel offener als seine Kollegen politische Fragen ansprach, ohne einseitig die Gewalt gegen Protestanten zu geißeln (266 f.). Inzwischen war der ökumenische Dialog weitgehend verstummt. Der triumphale Papstbesuch 1979 in der Republik Irland blieb ohne nachhaltige Folgen. Ein Anschlag der IRA, bei dem der Cousin von Königin Elizabeth II. ums Leben kam, verhinderte einen Besuch des Papstes in Armagh (306). In der Zwischenzeit war auf protestantischer Seite der Pfarrer Ian Paisley aufgestiegen, der die folgenden 30 Jahre lautstark mitreden sollte. Bestimmend wurde freilich der (weitgehend erfolglose) Hungerstreik der Häftlinge, die um Anerkennung als politische Gefangene kämpften (1980/81). Die Form des Protestes wurde von Kardinal O’ Fiaich stark kritisiert, aber er vermochte Margaret Thatcher nicht zu Zugeständnissen zu bewegen. Am Ende (Oktober 1981) standen zehn Tote durch Hungerstreik – ein großer Propagandaerfolg für die IRA, die sich nun an Wahlen erfolgreich beteiligte. Das führte zum Bruch mit der Kirche, die sich nun eher der Social Democratic and Labour Party (SDLP) zuwandte. Die allgemeine Situation war hoffnungsloser denn je.
Kapitel 6, 347–389, Die Suche nach alternativen Lösungsansätzen, führt zum Anglo-Irish Agreement (November 1985), das aber von den Unionisten zutiefst misstrauisch beurteilt wurde, und Kapitel 7, 391–466, Von der Hinnahme des Status quo zur Waffenruhe, be­schreibt die weitere Entwicklung hin zum Gewaltverzicht: Die wirtschaftliche Situation der Katholiken war katastrophal geblieben. Auch sie trieb die Männer in die Arme der IRA. Die Zustände in den zum Teil neu errichteten katholischen Wohnvierteln waren unhaltbar (394 f.). Die militärische Gewalt eskalierte, als die Britischen Truppen plastic bullets einführten, die viele Todesfälle verursachten. Wie immer blieben die Täter dafür unbelangt. Erschwerend kam es zur Einführung von Kronzeugen (supergrass) in Gerichtsverhandlungen sowie zu entwürdigenden Leibesvisitationen (429). Dazu intensivierte die Armee gezielte Tötungen (›shoot to kill‹). Einen traurigen Höhepunkt bildete die kaltblütige Ermordung dreier unbewaffneter IRA-Mitglieder in Gibraltar 1988. 1995 wurde diese Tat vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerügt. Die Situation wurde immer unhaltbarer. Es war klar, dass keine Seite militärisch würde siegen können. Nachdem bereits in den 1970er Jahren niedere Kleriker Kontakte zum »Feind« ge­sucht hatten, kam es 1985 zu einem (letztlich erfolglosen) Treffen zwischen John Hume und der Spitze der IRA (452). Jetzt beschleunigt der Vf. sein Tempo: 1990 schlägt Jerry Adams erstmals einen Gewaltverzicht vor. Danach macht sich der positive Einfluss von Bill Clinton bemerkbar. Bald danach, wenn auch nicht ohne Rück­schläge, kam es zur unbefristeten Waffenruhe durch die IRA, die Loyalisten sollten folgen. Diese folgenschweren Ereignisse werden nicht mit derselben Gründlichkeit behandelt wie frühere Aspekte.
Das kurze und schlecht strukturierte 8. Kapitel, Schlussbetrachtungen (467–487), würdigt fünf Persönlichkeiten, erfreulicherweise beginnend mit Pfarrer Denis Faul (Interview des Vf.s mit Faul im Jahr 2000; 372), gefolgt von einem Bischof und drei Erzbischöfen. Dann folgt im Blitztempo die Darstellung der politischen Entwick­lung von 1995 bis 2008, einschließlich der wundersamen Läuterung von Ian Paisley, die stark gegen die vorhergegangenen Kapitel ab­fällt: Ein Resumée: »Der Klerus war zwischen 1968 und 1995 von einer autoritären, klerusdominierten Kirche zu einer defensiven und verunsicherten geworden, woran allerdings der Nordirlandkonflikt nur einen Anteil hatte.« (486)
Diesem ausführlichen und reich dokumentierten Buch sind viele Leser zu wünschen. Leserunfreundlich ist allerdings das Fehlen von Registern, speziell ein Namenregister wäre wichtig gewesen.