Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1058-1060

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wiggermann, Uta

Titel/Untertitel:

Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XIX, 640 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 150. Lw. EUR 114,00. ISBN 978-3-16-150186-9.

Rezensent:

Wolf-Friedrich Schäufele

Neben den Lichtgestalten der theologischen Aufklärung in Preußen erscheint er als der notorische Finsterling: Johann Christoph Woellner (1732–1800), der Urheber des berüchtigten Woellnerschen Religionsedikts vom 9.7.1788, mit dem er den Einfluss der Neologen aus dem kirchlichen Leben Preußens verdrängen wollte. Die heftigen, innerhalb der kirchenleitenden Behörden wie auch in der Öffentlichkeit ausgetragenen Auseinandersetzungen um dieses Edikt und die flankierenden kirchenpolitischen Maßnahmen ha­ben neuerdings wieder ein verstärktes Interesse gefunden. 1996 hat Dirk Kemper die einschlägigen Streitschriften auf Microfiches zugänglich gemacht, 2003 hat Christina Stange-Fayos die öffentliche Debatte monographisch dargestellt.
Die aus der Münsteraner Aufklärungs-»Werkstatt« von Albrecht Beutel stammende Dissertation von Uta Wiggermann wählt einen anderen Zugang. Sie zeichnet Woellners Biographie, vor allem aber seine im Religionsedikt kulminierende Kirchenpolitik auf der Grundlage der teilweise bisher unberücksichtigten Aktenüberlieferung des Geheimen Staatsarchivs in Berlin nach; auch den 2007 vom Archiv angekauften zweiten Teil von Woellners Nachlass konnte sie benutzen. Dabei legt W. einen immensen Sammelfleiß und eine nie erlahmende Akkuratesse an den Tag. Ihre umfangreiche Darstellung ist mit großer Akribie gearbeitet und stilistisch glänzend formuliert.
Aus der Binnenperspektive der behördlichen Überlieferung ge­winnt W. erhellende, manche bisherigen Pauschalurteile heilsam korrigierende Einsichten. Allerdings erweist sich diese Herangehensweise als ambivalent. Denn nicht selten bleibt die Darstellung zu sehr in der Binnensicht befangen; so wird etwa minutiös über Spaldings widerständiges Verhalten im Oberkonsistorium berichtet, seine Niederlegung des Amtes als Propst von St. Nicolai aus Protest gegen das Religionsedikt aber nur in einem Halbsatz erwähnt (61). Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass im hier vorwiegend benutzten Geschäftsschrifttum kaum substantielle Expektorationen der Beteiligten zu erwarten sind, sondern Motive und Ziele oft genug in kluger Berechnung verstellt werden; mitunter ist sogar fraglich, wessen Position aus einem offiziellen Papier spricht. Vor allem aber geht die Quellennähe der Arbeit, die im Klappentext zu Recht hervorgehoben wird, auf Kosten von Abstraktion und Thesenbildung. Mitunter werden über Seiten hinweg Briefschaften und Vorgänge im Detail referiert, die für das Ganze wenig austragen oder in einigen Sätzen bilanziert werden könnten. Bezeichnend erscheint das Fehlen einer Zusammenfassung am Ende des Buches.
Unbeschadet dessen ergibt sich ein aufschlussreiches Gesamtbild. Dank der Förderung einflussreicher Gönner gelang dem Pfarrerssohn Woellner ein bemerkenswerter gesellschaftlicher Aufstieg. So trug ihm die Protektion der Adelsfamilie Itzenplitz, in die er 1766 einheiratete, schon im Alter von 22 Jahren seine erste Pfarrstelle ein und eröffnete ihm sechs Jahre später die Möglichkeit, das Pfarramt mit einem Leben als märkischer Landjunker zu vertauschen. Folgenreich wurde die durch die gemeinsame Mitgliedschaft im Orden der Rosenkreuzer vermittelte Bekanntschaft mit dem späteren Preußenkönig Friedrich Wilhelm II., die Woellner 1780 machte. Woellner nahm anscheinend nachhaltigen Einfluss auf die politische und kirchenpolitische Positionierung des Kronprinzen und verstand es geschickt, nach dessen Regierungsantritt 1786 die lange ersehnte Nobilitierung und die Bestellung zum Chef des geistlichen Spezialdepartements für lutherische und katholische Angelegenheiten zu erlangen.
Es verblüfft, wie zielstrebig Woellner anscheinend gerade auf dieses Amt und auf das nur sechs Tage nach seinem Amtsantritt erlassene Religionsedikt hingearbeitet hatte. So waren alle Grundgedanken des Edikts bereits in der antiaufklärerischen »Abhandlung von der Religion« zu finden, die er 1785 dem damaligen Kronprinzen vorgetragen hatte. Was genau Woellner zu seinem Kreuzzug gegen Aufklärer und Neologen bewog, bleibt leider auch nach der Lektüre der vorliegenden Arbeit im Dunkeln. Es könnte eine »Mischung von Karrierekalkül, Staatsraison und wohl auch religiöser Überzeugung« (558) gewesen sein.
Das eigentliche Religionsedikt wurde durch eine Reihe weiterer kirchenpolitischer Maßnahmen flankiert. Durch die Einführung eines einheitlichen Landeskatechismus und eines einheitlichen Dogmatik-Lehrbuches für den akademischen Unterricht sollten aufklärerische Einflüsse abgewehrt werden. Die Kandidaten des Predigtamtes hatten sich vor Antritt der üblichen Examina von der neu geschaffenen Geistlichen Immediat-Examinationskommission oder einer der Provinzial-Examinationskommissionen auf ihre Rechtgläubigkeit hin prüfen zu lassen. Mittels eines weiteren Edikts vom 19.12.1788 wurde die Bücherzensur erneuert, gegen missliebige Pfarrer wurden disziplinarrechtliche Untersuchungen eingeleitet.
Bei alledem ist bemerkenswert, dass Woellner – hierin ganz in Übereinstimmung mit dem Allgemeinen Landrecht – keineswegs einen Gewissenszwang ausüben, sondern allein den öffentlichen Lehrvortrag der kirchlich bediensteten Pfarrer auf die jeweiligen Bekenntnisschriften verpflichten wollte. Auch ist Woellner in der praktischen Handhabung des Religionsedikts keineswegs so rigoros verfahren, wie man früher meinte. Im Gegenteil, es scheint, dass er sich gerade durch seine Milde seit 1794 das Missfallen seines königlichen Gönners zugezogen hat. Insgesamt scheinen die praktischen Auswirkungen des Edikts und der ihm nachfolgenden Maßnahmen denn auch überraschend gering gewesen zu sein. An eine flächendeckende Durchsetzung war in der Praxis nicht zu denken, die wenigen prominenten Zensurfälle – darunter das Lustspiel »Das Religions-Edikt« von Carl Friedrich Bahrdt – fanden ein vergleichsweise glimpfliches Ende. Von einer Entlassungswelle in der Pfarrerschaft kann keine Rede sein; allein der als »Zopfschulze« bekannt gewordene Johann Heinrich Schulz verlor nachweislich aufgrund des Religionsedikts sein Amt.
Die von W. ausgewerteten Quellen zeigen mit aller Deutlichkeit, dass und warum Woellner seine Ziele gegen das mit namhaften Neologen – u. a. Spalding, Teller, Sack und Büsching – besetzte und unerschrocken opponierende Berliner Oberkonsistorium und gegen die weithin bereits von der Aufklärung geprägte preußische Pfarrerschaft auch nicht annähernd zu erreichen vermochte. Von den intriganten Mitgliedern der Immediat-Examinationskommission unter Hermann Daniel Hermes und Gottlob Friedrich Hillmer, die sich mithilfe eines spiritistischen Mediums die Gunst Friedrich Wilhelms II. erschlichen hatten, rechts überholt, büßte er schließlich seinen einzigen Rückhalt ein: die Unterstützung seines Königs. Nach dessen Tod 1797 verlor Woellner alsbald seine Ämter, das Religionsedikt wurde, ohne dass es einer förmlichen Revokation bedurft hätte, nicht mehr angewandt. So kann man mit einem gewissen Recht sagen, dass Woellner selbst »das ureigenste Opfer« (506) des von ihm geschaffenen Edikts geworden sei.